Die nächste Wahl ist nicht die letzte
Es ist das Verdienst der neuen Bundesregierung, Nachhaltigkeit als Querschnittsaufgabe erkannt und zu einem Gestaltungsprinzip von eigenständiger Qualität aufgewertet zu haben. Weit über die ökologische Herausforderung hinaus dient die Vision der nachhaltigen Entwicklung als Handlungsanleitung für eine umfassende, zukunftsfähige Politik. Das Ziel dabei ist, eine ausgewogene Balance zwischen den Bedürfnissen der heutigen Generation und den Lebensperspektiven künftiger Generationen zu finden, also Verantwortung für die Lebensbedingungen künftiger Generationen zu übernehmen.
Keine Verträge zu Lasten Dritter
Generationengerechtigkeit ist deshalb der rote Faden, der sich durch alle Politikbereiche zieht - von der Haushaltskonsolidierung über die Steuerreform, das Altersvermögensgesetz, Bildung und Forschung bis hin zur Neuorientierung der Landwirtschaft. Die Bundesregierung hat mit ihrer Reformpolitik diesen Paradigmenwechsel vollzogen und macht Zukunftsfähigkeit und Generationengerechtigkeit zu den Markenzeichen ihrer Politik:
Beispiel Zukunftsfähige Altersvorsorge: Mit der Rentenreform ist ein zentraler Teil der sozialen Sicherungssysteme auf eine zukunftsfähige Grundlage gestellt worden. Viel zu lange wurde die notwendige, umfassende Reform der gesetzlichen Rentenversicherung aufgeschoben. Schon zu Zeiten Norbert Blüms war erkennbar, dass das Umlageverfahren allein die Auswirkungen der demografischen Entwicklung, der Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt und der gewandelten Erwerbsbiografien nicht auffangen kann. Unsere Rentenreform sorgt für einen fairen Ausgleich zwischen den Interessen der Rentner und der Beitragszahler. Zugleich ist der Einstieg in die kapitalgedeckte Altersvorsorge ein entscheidender Beitrag zur Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivitätsfortschritt der Wirtschaft. Der Generationenvertrag - lange Zeit von den Jungen als Vertrag zu Lasten Dritter empfunden - wird so mit neuem Leben gefüllt.
Beispiel Zukunftsfähige Haushaltspolitik: Unter der alten Bundesregierung wurde es zur schlechten Übung, Probleme durch eine höhere Neuverschuldung einfach auf nachfolgende Generationen zu übertragen. Wir haben diese Praxis gestoppt. Zum dritten Mal in Folge seit dem Regierungsantritt konnten wir 2001 einen Haushalt vorlegen, bei dem die Neuverschuldung geringer als im Vorjahr ausfällt. Unser Ziel ist es, bis 2006 einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen. Durch die Konsolidierung des Haushalts gewinnen wir finanzielle Handlungsspielräume sowohl für die jetzige wie auch für die kommenden Generationen zurück - etwa für Investitionen in Bildung und Forschung. Köpfe und Können sind die entscheidenden Rohstoffe des 21. Jahrhunderts. Deshalb haben wir unsere Mittel für Bildung und Forschung um rund 20 Prozent aufgestockt. Vor allem jedoch haben wir durch die nachhaltige Senkung von Steuern und Abgaben Spielräume an Bürger und Wirtschaft zurückgegeben.
Nötig sind Mut und langer Atem
Beispiel Zukunftsfähige Landwirtschaft: Die BSE-Krise hat uns vor Augen geführt, dass eine Landwirtschaftspolitik keine Zukunft hat, die ausschließlich auf die Steigerung der Produktion ausgerichtet ist. Es ist erforderlich, die Agrarpolitik in einer Weise neu auszurichten, die den vorsorgenden Verbraucherschutz in den Mittelpunkt stellt. Die Bundesregierung wird künftig die den EU-Mitgliedstaaten im Rahmen der Agenda 2000 eingeräumten Möglichkeit der Modulation nutzen und die landwirtschaftlichen Direktzahlungen kürzen, um diese - ergänzt durch nationale Kofinanzierungsmittel - für Maßnahmen zur Förderung der ländlichen Räume zu verwenden. Der Schwerpunkt hierbei wird auf besonders umweltverträgliche und ressourcenschonende Produktionsverfahren gelegt.
Die genannten Beispiele - so unterschiedlich sie sein mögen - haben eines gemeinsam: Sie verbindet das Denken in langen Linien und über die Ressortgrenzen hinweg. Nachhaltigkeit setzt langen Atem voraus. Eine entsprechende Politik verlangt deshalb den Mut und die Fähigkeit, über den nächsten Wahltermin hinaus zu denken.
Die Idee der Nachhaltigkeit hat nicht nur Eingang in die Politik gefunden. Sie ist in den Strategien vieler erfolgreicher Unternehmen fest verankert. In der Wirtschaft setzt sich verstärkt das Bewusstsein durch, dass nachhaltige Wertsteigerung am besten in der Verbindung mit Umweltschutz und sozialer Stabilität gelingt. Nachhaltigkeit, das wird immer deutlicher, ist ein Schlüssel zur Modernisierung der Volkswirtschaft, mit dem wir mehr Lebensqualität schaffen können.
Auch die Finanzmärkte werden nachhaltig
Auch die Finanzmärkte werden auf die Bedeutung der Nachhaltigkeit aufmerksam. Eine wachsende Zahl von Ratingagenturen und Indices legen der Bewertung von Unternehmen und Fonds Kriterien zugrunde, die sich an der Nachhaltigkeit orientieren, wie zum Beispiel der Dow Jones Sustainability Index. In den letzten Jahren überzeugten zahlreiche Nachhaltigkeits-Indices und -Fonds durch eine gute Performance. Vor allem die Umwelttechnikfonds sind in Deutschland erfolgreich. Dieser Trend im Finanzsektor ist bei unseren Nachbarn - zum Beispiel in der Schweiz, in den Niederlanden und in Großbritannien - bereits stärker ausgeprägt. In Großbritannien gilt seit Juli 2000 eine Auskunftspflicht für Pensionsfonds bezüglich ethischer, ökologischer und sozialer Kriterien. Mit der Rentenreform haben wir erstmals auch in Deutschland im Altersvermögensgesetz eingeführt, dass die Anbieter ihre Kunden informieren sollen, ob und wie ethische, soziale und ökologische Belange bei der Verwendung der eingezahlten Beiträge berücksichtigt wurden.
Es wird immer mehr anerkannt, dass aus der intelligenten Verknüpfung zwischen Ökonomie und Ökologie wichtige Impulse für Wirtschaft und Beschäftigung ausgehen können. Ökonomie und Ökologie sind keine Gegensätze, sondern sich ergänzende und treibende Faktoren für mehr Innovationen. Besonders deutlich wird dieser Zusammenhang im Energiesektor. Angesichts des weltweit steigenden Energiebedarfs nehmen die fossilen Energievorräte immer schneller ab. Unsere derzeit wichtigsten Energiequellen Kohle, Öl und Gas werden zu knappen und damit immer teureren Gütern. Es ist deshalb nicht nur ökologisch, sondern auch ökonomisch geboten, die Weichen in Richtung einer höheren Energie- und Ressourceneffizienz zu stellen.
Schon 30.000 Deutsche leben vom Wind
Wissenschaftler gehen davon aus, dass bei optimaler Nutzung der bereits vorhandenen Technologien die Ressourcenproduktivität um den Faktor vier gesteigert werden könnte. Je weniger Energie und Rohstoffe wir in Produktion oder Dienstleistung einsetzen müssen, desto höher wird die "Gewinnspanne" für Umwelt und Wirtschaft. So enstehen durch Ressourceneffizienz zukunftsfähiges Wachstum und zukunftssichere Arbeitsplätze.
Diese Entwicklung treiben wir gezielt voran. Das 100.000-Dächer-Programm zur Förderung der Photovoltaik und das EEG - das Gesetz zur Förderung erneuerbarer Energien - haben eine gewaltige Nachfrage ausgelöst. Spitzenreiter dieser erfreulichen Entwicklung ist die Windenergie. Im vergangenen Jahr sind in Deutschland Windkraftanlagen mit einer Leistung von rund 1.660 Megawatt installiert worden. Damit hat sich die installierte Leistung innerhalb von zwei Jahren mehr als verdoppelt. Allein die Windenergie hat im Jahr 2000 rund sieben Millionen Tonnen Kohlendioxid eingespart und damit einen wichtigen Beitrag zum Klimaschutz geleistet. Aber auch bei der Solarenergie sind enorme Zuwachsraten zu verzeichnen. Vom Aufschwung in diesem Bereich profitieren vor allem die kleinen und mittleren Betriebe: Die Ingenieur- und Planungsbüros, die Hersteller von Komponenten für Windräder oder Photovoltaikanlagen und viele Handwerksbetriebe, die solche Anlagen installieren und warten. Die Folgen des Auftragsbooms: Deutsche Anlagenbauer in den Bereichen Wind-, Wasser- und Solarenergie sind inzwischen weltweit führend. Allein in der Windenergiebranche sind inzwischen rund 30.000 Menschen beschäftigt.
Vorwärts auf dem Weg der Energieeffizienz
Bereits jetzt gibt es für solche ressourcenschonenden Produkte und Verfahren eine stetig steigende Nachfrage. Mit der Einigung auf dem Bonner Klimagipfel werden sich vor allem international zusätzliche Marktchancen für innovative Energietechnik ergeben. Deutschland besitz gute Aussichten, diesen Zukunftsmarkt zu erobern. Weil wir sehr früh Anstrengungen in der nationalen Klimapolitik unternommen haben, entstehen jetzt für viele deutsche Unternehmen Wettbewerbsvorteile. Je konsequenter wir auf diesem Weg vorangehen, desto größer sind die Chancen, den Know How-Vorsprung in Sachen Energie- und Ressourceneffizienz zu halten und auszubauen.
Dies ist auch Ziel unserer nationalen Nachhaltigkeitsstrategie. Im September 2002, zehn Jahre nach der Konferenz von Rio, wird das Thema Nachhaltige Entwicklung in Johannesburg erneut im Mittelpunkt einer UN-Konferenz stehen. Die Unterzeichnerstaaten der Agenda 21 sind aufgefordert, zu dieser Konferenz ihre jeweiligen nationalen Nachhaltigkeitsstrategien zur Verwirklichung der damals verabschiedeten Grundsätze vorzulegen. In Deutschland wird die nationale Nachhaltigkeitsstrategie vom Staatssekretärsausschuss für Nachhaltige Entwicklung - dem so genannten Green Cabinet - erarbeitet, der zunächst drei Schwerpunkte gesetzt hat: Klimaschutz und Energiepolitik, Umweltverträg-liche Mobilität sowie Umwelt, Ernährung und Gesundheit.
Diese drei Themen sollen in mehreren Pilotprojekten konkretisiert werden. So ist zum Beispiel ein Modellprojekt zur Errichtung von Offshore-Windparks in Nord- und Ostsee geplant, deren Stromproduktion langfristig jener von mehreren Kernkraftwerken entspricht. Damit leisten wir einen Beitrag zur Substitution von Atomstrom. Darüber hinaus proben wir mit der Errichtung eines "Virtuellen Kraftwerks" auf der Grundlage der Brennstoffzelle den Einstieg in die Dezentralisierung der Energieversorgung. So wie wir in der Informationstechnologie eine Entwicklung vom Großrechner über mittlere Datentechnik zu dezentralen und mobilen Anwendungen erlebt haben, könnten wir auch im Energiesektor zu einem Internet dezentraler vernetzter Energieproduktion kommen.
Verordnen lässt sich Nachhaltigkeit nicht
Dasselbe gilt für den Einsatz der Brennstoffzelle in Fahrzeugen. Deutschland ist schon heute weltweit führend, wenn es um wasserstoffbetriebene Antriebskonzepte geht. Gemeinsam mit der Automobilindustrie und der Mineralölwirtschaft arbeitet die Bundesregierung daran, dass das erste zero emission car in Deutschland in Serie geht. Im Rahmen des Demonstrationsvorhabens Clean Energy Partnership Berlin wollen wir 100 wasserstoffbetriebene Fahrzeuge unter Alltagsbedingungen einsetzen. Parallel dazu wird die erforderliche Infrastruktur aufgebaut.
Wenn es uns gelingt, eine Alternative zum Benzin- oder Dieselmotor zu entwickeln, wäre das ein ähnlicher Quantensprung wie der Bau der ersten Motorwagen durch Carl Benz und Gottlieb Daimler Ende des 19. Jahrhunderts. Mit Modellprojekten wie diesen nimmt das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung konkrete Gestalt an. Sie zeigen, welches Innovationspotenzial in der Idee der nachhaltigen Entwicklung steckt.
Doch Nachhaltigkeit lässt sich nicht politisch verordnen. Die Idee kann nur Erfolg haben, wenn Wirtschaft und Gesellschaft das Thema zu ihrer Sache machen. Deshalb brauchen wir eine breite öffentliche Diskussion darüber, auf welchen Wegen eine nachhaltige Entwicklung zu erreichen ist. Die Bundesregierung wird - über ökologische Themen hinaus - einen umfassenden gesellschaftlichen Dialog zur Nachhaltigkeit mit Nichtregierungsorganisationen, verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und der Zivilgesellschaft insgesamt führen. Dabei werden wir auch denen Gehör verschaffen, deren Interessen nicht institutionalisiert und machtvoll vertreten sind. Denn ein langfristig angelegtes Konzept muss eine Frühwarnfunktion für gesellschaftliche Strömungen und Bewegungen übernehmen und diese rechtzeitig in der Politik berücksichtigen.
In den Konsultationen mit den deutschen major groups - Entwicklungshilfeorganisationen, Umwelt- und Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften und kommunale Spitzenverbände - im Sinne der Agenda 21 wird es besonders darum gehen, die deutschen Positionen zu den bislang für die Rio-plus-10-Konferenz im kommenden Sommer in Johannesburg vorgesehenen Gipfelthemen wie Wasser, Energie, Armutsbekämpfung, Globalisierung und nachhaltige Entwicklung zu konkretisieren.
Wie wir in Zukunft leben wollen
So, wie wir national die Teilhabe möglichst aller an den Zukunftschancen unserer Gesellschaft anstreben, geht es international um die Teilhabe der Staaten am globalen Fortschritt - ökonomisch, aber auch sozial und ökologisch. Eine nationale Nachhaltigkeitsstrategie ist daher Bestandteil und Beitrag zu einem internationalen Verständigungsprozess. Die Leitfrage lautet: Wie wollen wir in Zukunft leben? Zukunftsfähige Politik stellt sich der Herausforderung, nicht nur zu verwalten, sondern die Verantwortung der Gestaltung wahrzunehmen. Eine Bundesregierung als Zukunftswerkstatt? Die Zukunft hat begonnen.