Die notwendige Neuordnung
Im Fortschrittsbericht der Bundesregierung 2012 heißt es: „Ohne einen zuverlässigen und stabilen Finanzmarkt rückt der Umbau zu einer nachhaltigen Wirtschaft in weite Ferne. Leider erleben wir an den Finanzmärkten das Gegenteil dessen, was nachhaltig ist.“ In der Tat, bei der Neuordnung der Finanzmärkte ist in den vergangenen vier Jahren nicht auf Nachhaltigkeit geachtet worden. Das muss sich ändern, denn die regelmäßigen Krisensymptome zeigen, wie notwendig politische Reformen sind. Dabei sollte Finanzmarktstabilität als öffentliches Gut begriffen werden. Und wie bei jedem öffentlichen Gut gibt es für private Akteure auch auf den Finanzmärkten einen inhärenten Anreiz zur Übernutzung, der zu bekämpfen ist. Um negativen Entwicklungen frühzeitig entgegenzuwirken, braucht es einen Nachhaltigkeitsindikator für Finanzmärkte. Dieser stellt verschiedene Anforderungen und verlangt politische Reformen.
Aus der Eigenschaft der Finanzmärkte als öffentliches Gut folgt, dass bei ihrer Nutzung externe Effekte entstehen, die nicht in das Kalkül der Nutzer und Effekt-Verursacher eingehen. Finanzmärkte sind daher umso nachhaltiger, je mehr die Kosten ihrer Nutzung internalisiert werden. Das lenkt das Verhalten der Marktteilnehmer. Insbesondere müssen Folgekosten der eigenen Entscheidungen von den Verursachern getragen werden. Staatliche Garantien für privatwirtschaftlich tätige Finanzinstitute unterlaufen dieses Prinzip. Außerdem erfordert Nachhaltigkeit ein System, das wieder von allein zur Balance zurückfindet, wenn es durch einen Schock seine Stabilität verloren hat. Das bedeutet, dass Banken ohne Hilfe des Steuerzahlers Wertberichtigungen schultern können. Es muss möglich sein, dass eine Bank aus dem Markt ausscheidet, ohne dass es zu größeren systemischen Folgen kommt. Damit Banken sich selbst regenerieren können, brauchen sie hinreichende Sicherheitspolster sowie hohe Eigenkapital- und Liquiditätsreserven.
Wenn Banken systemgefährdend groß sind, muss die Politik Gesetze erlassen, die ihre Größe auf ein beherrschbares Maß beschränken. Die Grenze dafür mag von Land zu Land unterschiedlich sein. Dabei ist ein Trennbankensystem ein sinnvoller erster Schritt zu kleineren und leichter abzuwickelnden Einheiten. Darüber hinaus braucht es Vielfalt und Diversifizierung im System, denn sie erhöhen die Wahrscheinlichkeit, Schocks erfolgreich zu absorbieren und selbständig zum stabilen Zustand zurückzukehren. Finanzsysteme sind widerstandsfähiger, wenn in ihnen vielfältige Geschäftsmodelle, Typen und Unternehmensgrößen vorhanden sind.
Gegen Herdentrieb und Kurzfristdenken
Das gilt auch für die Verantwortlichen auf den Finanzmärkten. Sie müssen tagtäglich folgenreiche Entscheidungen unter Bedingungen von Unsicherheit treffen. Der Herdentrieb und die sich daraus entwickelnde Blasenbildung machen Finanzmärkte besonders krisenanfällig. Konform besetzte Entscheidungsgremien sind empfänglicher für den Trieb der Herde als nicht-konforme Gremien. Daher erhöht personelle Vielfalt in Bezug auf Geschlecht, Alter, Nationalität, Herkunft und Überzeugung die Wahrscheinlichkeit, dass wichtige Entscheidungen ergebnisoffen mit unterschiedlichen Denkmodellen geprüft werden und ein kritisches Hinterfragen vorschneller Lösungen stattfindet. Das Denken in Alternativen und kritisches Hinterfragen von vorherrschenden Finanzmarkttrends wird sich jedoch auch in Zukunft nur durchsetzen, wenn die ökonomische und finanzwirtschaftliche Universitätsausbildung die einseitige Ausrichtung am neoklassischen Investitions- und Finanzierungsmodell aufgibt und Paradigmenvielfalt einzieht.
Ein weiteres Kernproblem ist die kurzfristige Zielorientierung am Finanzmarkt; eine Langfristorientierung ist unabdingbar für ein nachhaltiges Finanzsystem. Den entsprechenden kurzfristigen Anreizen muss Regulierung entgegengesetzt werden: Exzessive Finanzierung von langlaufenden Investitionen mit günstigen kurzfristigen Krediten, sofortiges Ausschütten von Buchgewinnen als Boni für Händler und Manager, Ausbreitung des Hochfrequenzhandels, immer kürzer werdende Haltedauern bei Wertpapieren, und die unmittelbare, vollständige Beseitigung und Weitergabe der eingegangenen Kreditrisiken aus den eigenen Büchern sind mit einer langfristigen Orientierung ebenso wenig vereinbar wie die Auslagerung von Kreditrisiken in vollständig fremdfinanzierte, außerbilanzielle Zweckgesellschaften. Nachhaltig ist ein Finanzsystem nur, wenn langfristige Zielorientierung entweder per Gesetz verordnet wird – beispielsweise durch die Einführung transparenter, mehrjähriger Boni-Mali-Vergütungssysteme – oder wenn Kurzfristorientierung mittels Regulierung verteuert oder verboten wird. Dazu braucht es aber politischen Mut, der bisher nicht zu erkennen war.
Und natürlich müssen die Menschen den Institutionen des Finanzsystems vertrauen können. Transparenz trägt hier zur Glaubwürdigkeit bei, wenn sie nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel begriffen wird, um ein übergeordnetes Ziel wie die Vermeidung von Koordinationsversagen zu erreichen. Unverzichtbar für die Glaubwürdigkeit auf den Finanzmärkten sind zudem eine faire und konfliktfreie Anreizregulierung, interessensunabhängige Ratingurteile und eine starke Bankenaufsicht.
Die Vergangenheit hat gezeigt, dass die Anfälligkeit von Finanzinstituten gegenüber externen Schocks nicht zuletzt ein Resultat ihrer Eigenkapitalausstattung ist. Mit hohen Eigenkapitalreserven absorbieren Finanzinstitute Schocks besser und die Wahrscheinlichkeit steigt, dass sie aus eigener Kraft wieder zur Stabilität zurückfinden. Dabei sind oft die Bilanzen von vielen Großbanken in Europa extrem gehebelt. Das DIW Berlin ermittelte 2011 für die zehn größten deutschen Banken ein durchschnittliches Verhältnis vom harten Kernkapital zur Bilanzsumme (Leverage Ratio) von weniger als 2,5 Prozent. Der Internationale Währungsfonds taxierte 2012 die Leverage Ratio deutscher Banken auf 2,2 Prozent, französischer Banken auf 2,5 Prozent und schweizerischer Banken auf 2,9 Prozent. Ermöglicht wird diese Hebelung durch die Risikogewichtung in Basel II und III. Sie ist das Instrument, mit dem eine systematische Unterschätzung der eigenen Anlagerisiken unmittelbar in Eigenkapitalersparnis und damit in extreme Hebelung umgewandelt werden kann. Der hohe Bilanzhebel treibt die Eigenkapitalrendite nach oben, solange der Gläubigerzinssatz niedriger ist als der Anlagezinssatz. Da Vergütungen aber häufig an die Eigenkapitalrendite gekoppelt sind, besteht für Manager ein fortdauernder Anreiz, extreme Hebelfinanzierungen zu betreiben. Diese extremen Hebel widersprechen dem Ziel der Nachhaltigkeit.
Was die Transaktionssteuer leisten wird
Da Großbanken kaum Puffer haben, mit denen „Durststrecken“ überbrückt werden können, besitzen moderne Bankensysteme nur eine geringe Robustheit und Fähigkeit zur Selbstregeneration. Prinzipiell sollten Gläubiger deshalb auf hohe Verlustrisiken mit hohen Zinsforderungen reagieren. Das tun sie aber wegen der impliziten staatlichen Garantien nicht. Eine hinreichende Kosteninternalisierung findet somit weder bei den Gläubigern noch den Eigentümern statt. Die verbindliche Einführung einer hohen risiko-ungewichteten Eigenkapitalquote kann hier Abhilfe schaffen. Das DIW Berlin hat verschiedentlich eine Leverage Ratio von 5 Prozent, plus einen in der Krise abschmelzbaren Aufschlag von 1 Prozent gefordert. Die 2010 im Zuge von Basel III beschlossene Leverage Ratio gilt jedoch erst ab 2019 und kommt damit nicht nur zu spät, sondern ist mit nur 3 Prozent auch viel zu niedrig. Das ist ein politischer Fehler.
Außerdem muss die nächste Regierung direkt bei den Handelsaktivitäten auf den Finanzmärkten ansetzen. Dafür brauchen wir die Finanztransaktionssteuer. Die EU-Kommission hat kürzlich einen Vorschlag für eine verstärkte Zusammenarbeit von 11 EU-Staaten im Bereich der Finanztransaktionsteuer vorgelegt. Für normale Wertpapiere ist ein Steuersatz von 0,1 Prozent, für Derivate von 0,01 Prozent des Nominalwerts vorgesehen. Beide Vertragspartner werden besteuert. Die Steuerbelastung ist hoch, wenn – und nur wenn – die Handelsaktivität hoch ist. Das entspricht dem Prinzip der Kosteninternalisierung. Sinnvollerweise würde, je mehr Derivate von Finanzinstituten gebaut und gehandelt werden, auch die Steuerlast im System steigen. Sie verteuert die Finanzprodukterzeugung und schränkt somit exzessive Finanzinnovationen ein. Zudem erhöht die steuerbedingte Anhebung der Transaktionskosten die Haltedauer von Finanzinstrumenten und fördert die Langfristorientierung.
Dadurch mindert die Steuer die Interdependenz von Finanz-instituten. Bisher kündigen Finanzinstitute nicht etwa einen Kontrakt, den sie nicht mehr benötigen, sondern neutralisieren ihn durch einen entgegengesetzten Kontrakt mit Dritten. Die Nichtauflösung trägt eine Mitschuld an der hohen Interdependenz von Finanzinstituten.
Die Finanztransaktionssteuer würde auch die Attraktivität von Credit Default Swaps dauerhaft verringern und damit die gesamte Tätigkeit von Finanzinstituten in diesem Segment dämpfen. Außerdem würden auch Transaktionen eingedämmt, die ausschließlich der Umgehung von Regulierungen dienen. Finanzinstituten mit zu geringer Kapitalausstattung ist es in der Vergangenheit gelungen, durch Verkaufsgeschäfte mit Rückkaufvereinbarung ihre Eigenkapitalquote „aufzuhübschen“. Eine Finanzmarkttransaktionssteuer verteuert solche kosmetischen Transaktionen und macht sie damit weniger attraktiv. Auch die Auslagerung von Vermögenswerten und Transaktionen in Zweckgesellschaften außerhalb der Bilanz wird so behindert. Kurzum: Eine Finanzmarkttransaktionssteuer belohnt nicht nur die Internalisierung und bekämpft das Schattenbanksystem, sondern dämmt auch den gefährlichen Hochfrequenzhandel ein.
Doch nicht nur das, die Finanztransaktionssteuer kann der Gerechtigkeitslücke entgegenwirken, die in vielen EU-Ländern durch die krisenbedingte Überbeanspruchung der Staatshaushalte entstanden ist. Für alle 27 EU-Staaten veranschlagte die Kommission 2011 zusätzliche Steuereinnahmen in Höhe von 57,1 Milliarden Euro. Das geschätzte Aufkommen für den kleineren Kreis der 11 Staaten bewegt sich dabei zwischen 34 und 38 Milliarden Euro. Und mehr als vier Fünftel aller besteuerten Geschäfte finden zwischen Finanzinstituten oder professionellen Händlern statt. Eine starke Überwälzung der Steuer auf Endkunden ist deshalb nur schwer vorstellbar. Privathaushalte sind nur dann von der Steuer direkt betroffen, wenn sie Finanzvermögen besitzen.
Endlich umfassende Reformen!
Die deutschen Privathaushalte besaßen laut Bundesbank im Jahr 2012 Geldvermögen in Höhe von 4.872 Milliarden Euro. Davon sind nur knapp 23 Prozent für die Finanztransaktionssteuer relevant, weil sie auf festverzinsliche Wertpapiere, Aktien und Beteiligungen sowie Investmentzertifikate entfallen. Unterstellt man, dass diese Finanzinstrumente je einmal im Jahr gehandelt werden, ergibt sich eine direkte Steuerbelastung der privaten Haushalte von gut 2 Milliarden Euro. Wertpapierbesitz generiert üblicherweise Kapitaleinkünfte, zum Beispiel in Form von Zinsen und Dividenden. Gemäß Daten des Sachverständigenrats von 2009 spielt diese Einkunftsart für die meisten Haushalte jedoch keine große Rolle.
Lediglich bei den oberen 30 Prozent der westdeutschen Haushalte kommen mehr als 4 Prozent des Gesamteinkommens aus Zinsen, Dividenden und Einkünften aus Vermietung sowie Verpachtung. Die unteren 70 Prozent der Einkommensbezieher hingegen erzielen nur sehr geringe Einkünfte aus Aktien- und Wertbesitz. Sie sind daher kaum betroffen. Es ist also davon auszugehen, dass die Finanztransaktionssteuer stark progressiv gegen die Ungleichheit wirkt und damit auch zur sozialen Nachhaltigkeit beiträgt. Die nächste deutsche Bundesregierung muss deshalb auf europäischer Ebene sämtliche Möglichkeiten nutzen, um eine Finanztransaktionssteuer möglichst gemeinsam umzusetzen.
Die genaue Betrachtung des öffentlichen Gutes der Finanzmarkstabilität zeigt, dass man der Übernutzung wirksam Einhalt gebieten muss. Dabei bietet das Leitbild der Nachhaltigkeit Orientierung. Fünf Jahre nach dem Beinahe-Zusammenbruch des Finanzsystems bedarf es jetzt endlich umfassender politischer Reformen.