Die Rückkehr der Familie

Stets in der Geschichte unserer Republik galt die Familienpolitik als Domäne der Union. Das ist vorbei. CDU und CSU haben den Anschluss an die Entwicklung dieser Gesellschaft verpasst. Jetzt muss die SPD nachlegen

Die Familienpolitik war das Überraschungsthema des Wahljahres 2002 - und das gleich in mehrfacher Weise. Überrascht waren Edmund Stoiber und die Unionsparteien über ihre negativen Umfragewerte, überrascht war die SPD über ihre eigene Stärke auf diesem Feld. Überrascht waren viele Journalisten über die neuen Akzente in der SPD. Überrascht waren Beobachter und Kommentatoren, dass der Wahlkampf so stark unter Gesichtspunkten des Lebensgefühls geführt und auf diese Weise auch (mit-)entschieden wurde. Überrascht waren gelegentlich auch die Autoren dieses Beitrages über die Nachhaltigkeit ihres Themas.


In den inflationär zunehmenden Umfragen tauchte das Thema Familie zwar nur selten ganz oben auf. Zu stark dominierten die Tagesaktualität (Hochwasser) oder Wirtschaftsfragen. Erst wenn 15 oder mehr Antwortmöglichkeiten angeboten wurden, war die Familienpolitik auf einem mittleren Rang dabei. Methodisch aufwendigere Studien abseits der Tagesturbulenzen jedoch kommen zu ganz anderen Ergebnissen - so etwa jene groß angelegte Befragung, die McKinsey, der stern und T-Online 2001/02 ein halbes Jahr lang durchführten. Hier wurden Kinder und Familie gleich hinter Arbeitsmarkt auf den zweiten Platz gesetzt, als gefragt wurde: "Wo soll vorrangig Politik aktiv werden?" Erst mit Abstand folgten dann Themen wie Rente, Bildung, Sicherheit oder Umwelt.


Tatsächlich ist für die meisten Menschen mehr denn je die Familie der Lebensmittelpunkt. Genügend Zeit zu haben sowohl für Kinder und Familie als auch für Beruf und Selbstverwirklichung, das ist der zentrale Lebenswunsch der allermeisten Menschen. Die Wertschätzung der Familie ist vor allem bei den jüngeren Menschen gewachsen. In der Shell-Jugendstudie 2002 nennt eine klare Mehrheit die Familie als wichtigsten Wert für ihre Lebensgestaltung. In der Familienanalyse 2002, die das Allensbacher Institut für Gruner + Jahr erhob, erklären eindrucksvolle 74 Prozent der West- und 76 Prozent der Ostdeutschen die Familie als ihren wichtigsten Rückhalt. In den konservativen fünfziger Jahren waren es - so Allensbach - nur knapp 50 Prozent. Familien sind heute die "wirkungsmächtigsten Solidaritätsinstanzen" (Barbara Schaeffer-Hegel).

Familie ist mehr als Nöte und Lasten

In unruhigen Zeiten wächst der Wunsch nach Sicherheit und Geborgenheit. Immer mehr Bundesbürger besinnen sich deshalb auf ihre Familie - häufiger als früher in Patchwork-Formen. In solchen Familien mit Kind(ern) aus früheren Partnerschaften leben mittlerweile 15 Prozent der Eltern von Kindern unter 14 Jahren. Zusammensein und Zusammenleben in und mit der Familie werden gesucht. Man nimmt sich mehr Zeit füreinander. Gegenläufig zur Verkleinerung der Haushalte rechnen die Menschen heute nicht mehr nur Kinder und Partner, sondern auch Eltern, Geschwister, Enkel und Großeltern zur eigenen Familie.


Auch das Verhältnis der Generationen ist ziviler geworden, die gewachsene wechselseitige Wertschätzung ist Teil eines positiven Klimas. Es hat lange gedauert, bis die Sozialdemokratie dort angekommen ist, wo sich der Kern der Gesellschaft und der SPD-Wähler wohlfühlt. Ignoriert wurde standhaft, dass der Aufbruch der Achtundsechziger die Familie weitgehend von autoritären Mustern entrümpelt hat. Viele Jahre beschrieb die SPD die Familie vorwiegend als Fußnote von Frauenpolitik (Vereinbarkeit) und Sozialpolitik (Armut). Wo überhaupt von der Familie die Rede war, da ging es meist um Nöte und Lasten.

Alle wundern sich: Der Kanzler hört zu!

Im vergangenen Jahr hat die SPD in der Familienpolitik eine Art "kopernikanische Wende" (Tissy Bruns) vollzogen. Zumindest auf der Ebene von Beschlüssen und Verlautbarungen rückte die Familie vom Rand in die Mitte der sozialdemokratischen Gesellschaftspolitik. Manchmal zeigen sich große Veränderungen in kleinen Gesten. Auf dem SPD-Parteitag Ende 2001 in Nürnberg wurde verwundert registriert, dass Gerhard Schröder die von Renate Schmidt eingeleitete familienpolitische Debatte von Anfang bis Ende verfolgte. Noch drei Jahre zuvor hatte der Kanzler Familienpolitik und verwandte Bereiche unter "Gedöns" rubriziert. Im Wahljahr sollte Politik für Familien bei den Sozialdemokraten eine zentrale Rolle spielen. Schröder selbst trug aktiv dazu bei, dass diese Absicht als ernst gemeint wahrgenommen wurde. In Grundsatzreden und einer Regierungserklärung betonte er, dass die Familie für die Menschen von allen sozialen Netzen mit Abstand das wichtigste sei: In Familien übernähmen Eltern und Großeltern, Kinder und Geschwister Verantwortung füreinander.


Der Beschluss des Parteitages 2001 folgte einem neuen Leitbild, in dem die Familie als stabiles Zentrum unserer Gesellschaft benannt wird. Die Familie wird nicht mehr als auslaufende Lebensform zu betrachten, dürfte nunmehr tatsächlich Allgemeingut in der SPD sein. Ob die veränderten Bewertungen und Folgerungen dauerhaft beibehalten werden, erscheint uns hingegen noch offen. Fahrlässig wäre es, die Familienpolitik nur als Appendix der Bildungspolitik zu erachten. Den Sichtweisen der Wähler entspräche das jedenfalls nicht.


Nach Wahlsieg und Regierungsbildung 1998 wurden - in guter sozialdemokratischer Tradition - materielle Verbesserungen in die Tat umgesetzt. Wahlversprechen zu erfüllen war das Pflichtprogramm. Als Kür entworfen wurden im Parteivorstand Umrisse einer Familienpolitik mit einer "neuen normativen Trias" (Warnfried Dettling). Gleichermaßen ernst genommen werden zum einen die Wünsche nach Beziehung, Verlässlichkeit und Geborgenheit, zum anderen das Recht auf ein eigenes Leben und schließlich die Idee der Gleichheit der Geschlechter.


In Deutschland befinden sich Familienleben und Arbeitswelt nicht im Gleichgewicht. Das zeigt ein Vergleich der Geburtenraten in den europäischen Ländern. Begonnen hat eine vergleichsweise offene und nachdenkliche Debatte darüber, warum es bei uns so wenige Geburten gibt. Nahezu einhellig lautet die Antwort: Weil sich in Deutschland Frauen (und einige Männer) vor die Wahl zwischen Kind(ern) und Beruf gestellt sehen. Die Pisa-Studie hat drastisch dokumentiert, wie sehr es in Deutschland an Ganztagsschulen mangelt.

Dreijährige Finnen haben die Nase vorn

Überall dort hingegen, wo es genügend (Tages-) Betreuung gibt, ist die Geburtenrate deutlich höher als in Deutschland. Ob junge Erwachsene den Mut fassen, mehr Kinder zu bekommen, hängt ganz wesentlich davon ab, ob sie glauben, dass die Gründung einer Familie weder ihre Berufsausübung erheblich behindert noch das Recht ihrer Kinder auf Zuwendung beschneidet. Mittlerweile stehen die Zeichen günstiger. Denn immer weniger kann die Wirtschaft auf gut qualifizierte Frauen verzichten. Und der Bildungsstand ist überall dort signifikant höher, von Frankreich bis Finnland, wo es ganztägige Angebote auch für Kleinkinder unter drei Jahre gibt. Das leuchtende Beispiel Finnland zeigt, dass flexible, hochwertige und zuverlässige Lösungen für den Nachmittag möglich sind. In Frankreich ist unter sozialdemokratisch geführten Regierungen die staatlich lizenzierte Tagesmutter zur wichtigsten nicht-familiären Betreuungsform von Kleinkindern geworden.


In Deutschland wird vergleichsweise viel Geld für die Familienförderung ausgegeben. Mehr ist es - relativ gesehen - in Skandinavien, in Frankreich, in den Niederlanden oder in Kanada auch nicht. Aber es werden dort bis zu einem Drittel mehr Kinder geboren. Zugleich führt die deutlich höhere Frauenerwerbstätigkeit in diesen Ländern zu weniger Kinder- und Familienarmut. International vergleichende Studien zeigen, dass die Förderung von Familien in Deutschland zu stark auf Transferleistungen oder Steuervergünstigungen gesetzt hat. Sinnvoller, weil nachhaltiger ist der Ausbau von Kinderbetreuung sowie von Teilzeitregelungen.


Immer mehr Unternehmen erkennen einen handfesten betriebswirtschaftlichen Zusammenhang zwischen Familie und Beruf. Mitarbeiter in einer befriedigenden Familien- und Partnerschaftssituation zeigen bessere Leistung, bringen Kreativität und Motivation mit an den Arbeitsplatz. Weitsichtige Unternehmen warten deshalb nicht auf staatliche Initiativen. Sie locken mit betriebseigenen Kindergärten, mit Unterstützung bei der Kinderbetreuung und mit selbstbestimmten, flexiblen Arbeitszeiten neue Kräfte, weil sie wissen, dass motiviertes Personal ein wichtiger Wettbewerbsfaktor ist.


Das Angebot an Teilzeitarbeitsplätzen ist bislang noch äußerst unbefriedigend. Peter Hartz hat als Personalchef bei VW ein Modell für allein erziehende Eltern im Schichtbetrieb verwirklicht. Auf einem Programmforum der SPD im Frühjahr 2002 verwies er zudem auf die Möglichkeiten der häuslichen Telearbeit. Frank Bsirske, Vorsitzender der Gewerkschaft Verdi, sprach sich dort dafür aus, das Thema Kinder und Beruf zum Gegenstand tariflicher Vereinbarungen zu machen. Verdi jedenfalls werde künftig den Ausbau der Betriebskindergärten und die Verlängerung der gesetzlichen Elternzeit um bis zu drei Jahre in den Mittelpunkt rücken.

Familie und Beruf - das ist das große Thema

Für den Ausbau haushaltsnaher Dienstleistungen hat die Hartz-Kommission interessante Vorschläge unterbreitet. Sie reichen von der Einrichtung von Dienstleistungszentren über die Erhöhung der Geringfügigkeitsgrenze auf 500 Euro bei direkter Beschäftigung durch den Haushalt, bis hin zu vereinfachten Melde- und Abrechnungsverfahren zur differenzierten steuerlichen Berücksichtigung der Aufwendungen für diese Dienstleistungen. Zu hoffen ist, dass diese Vorschläge nach dem Diktum des Bundeskanzlers "eins zu eins" verwirklicht werden.


Im Februar 2002 stufte das Institut Allensbach die Familienpolitik als ein hoch brisantes und wichtiges Thema ein: Eine Partei, die dieses Thema im Wahlkampf nicht ernst nehme, werde große Schwierigkeiten bekommen. Die Wähler trauten der rot-grünen Regierung im Frühjahr auf vielen Feldern der Politik wenig zu. Auf dem Gebiet der Familienpolitik allerdings setzten sie die SPD weit vor die Konkurrenz. Je mehr Familienpolitik zum Thema wurde, um so schlechter wurden im zweiten Quartal die Bewertungen der Medien für die Union.
Einem klassischen Rollenverständnis folgend, versprachen die Unionsparteien daraufhin die Einführung eines staatlichen Familiengeldes - was ökonomisch Sachverständige mehrheitlich ablehnten. Wer Familien fördern will, muss heute nach allgemeiner Auffassung vor allem mehr für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie tun. Das wird aber gerade nicht erreicht, wenn man zweckungebundene Transfers für die Familien aufstockt. Die Wähler hatten sich zu diesem Zeitpunkt schon eine klare Meinung gebildet: Zwei Drittel hielten das Konzept der Union schlicht für nicht finanzierbar.


Gerhard Schröder verdichtete die sozialdemokratische Botschaft in einer Regierungserklärung und setzte mit der Ankündigung von vier Milliarden Euro zugunsten des Ausbaus von Tagesbetreuung ein klares Zeichen. Unbeeindruckt von vorangegangenen Abfuhren bei Debatten zu Leitkultur und Nationalstolz versteifte sich Friedrich Merz im Bundestag trotzig auf die Rolle eines kulturellen Minderheitenwartes. Und Edmund Stoiber vermied die direkte Auseinandersetzung im Bundestag lieber gleich ganz.

Ist Renate Schmidt eine Reaktionärin?

So wurde die Familienpolitik zu einem der wichtigen Unterscheidungsthemen im Wahlkampf. Prominente verschiedener gesellschaftlicher Segmente forderten mit explizit familienpolitischer Begründung zur Wiederwahl von Gerhard Schröder auf. Mit guten Gründen hat Angela Merkel in ihrer Wahlanalyse die Schwächen der Union bei den Fragen von Familienbild und Familienpolitik besonders herausgestellt. Es ist absehbar, dass sich der Wettbewerb der großen Parteien auch künftig am Thema Familie mit entscheiden wird.


Hilfreich für die weitere Debatte ist ein Buch von Renate Schmidt, das herausführt aus früheren Verengungen und Gräben. In S.O.S. Familie (vgl. dazu die Rezension von Kai Mühlstädt in Berliner Republik 5/2002) plädiert die neue Familienministerin offensiv für eine Erziehung mit klaren Werten, Tugenden und Regeln. Früher wäre sie dafür aus den eigenen Reihen als Reaktionärin geschmäht worden. Inzwischen haben selbst Sozialdemokraten gelernt, dass die Familien die erste und wichtigste Instanz für Erziehung, für Persönlichkeits- und Charakterbildung, für das Entstehen von Vertrauen und Bindung ist.


Im Zusammenleben von Kindern und Eltern werden gemeinschaftliche Regeln und die freiheitlichen Werte unserer Gesellschaft geprägt. Die Familie ist so wichtig für die Qualität unserer Gesellschaft, weil sie den Menschen Sicherheit und Wohlbefinden verschafft, unserer Gesellschaft inneren Zusammenhalt gibt und der Wirtschaft Produktivitätspotentiale zuführt. Warum handeln wir also nicht gemeinsam bessere Bedingungen für sie aus, etwa in einer Anstrengung analog zu den von Rita Süssmuth und Peter Hartz geleiteten Kommissionen?
Was die Gesellschaft hingegen nicht braucht, sind standardisierte Lösungen, die letztlich weder effizient noch gerecht wären. Sinnvoll erscheint vielmehr ein Weg, wie ihn auch Peter Hartz gewählt hat: mit unterschiedlichen Modulen der Verteilung öffentlicher und privater Betreuung und verbesserten Kombinationsmöglichkeiten für Eltern. Besondere Aufmerksamkeit sollte strukturell benachteiligten Gruppen gelten.

Die große Chance der nächsten Generation

Schon einmal in der Vergangenheit brillierte die SPD überraschend auf einem ihr zuvor fremden Beritt. Im Jahr 1991 griffen Björn Engholm und Hans-Ulrich Klose das Problem des demografischen Wandels auf. Viel beachtete Kongresse, kluge Bücher, positive Reaktionen aus Meinungsforschung, Wissenschaften und Unternehmen hinderten die SPD-Eliten jedoch nicht daran, das Projekt zu beerdigen. Einzelne Bestandteile aus dem Fundus jenes kreativen Aufbruchs - Zuwanderungsgesetz, Altersvorsorge, Altersbild - wurden 10 Jahre später wieder zum Leben erweckt. Auch die heutige Debatte über die Zukunft der Familie kann ihre Wurzeln in dieser Zeit nicht verleugnen.


Vielleicht nutzt die SPD - besser noch: die sich etablierende neue Führungsgeneration - die große Chance der Familienpolitik, kommunikativ und politisch-gestalterisch. An Bündnispartnern und Kompetenznetzwerken würde es nicht mangeln. Das Bündnis für Arbeit wird in erneuerter Form aufleben. Gerhard Schröder hat angekündigt, dass die bessere Balance von Arbeit und Familie dabei eine wichtige Rolle spielen soll. Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften und große Unternehmen haben bereits Interesse signalisiert. Eine Allianz für die Familie wird erkennbar, die sich auf ökonomische Vernunft und Gemeinsinn stützen kann.

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