Die schwarze Null
„Alternativlos“ lautete das Unwort des Jahres 2010. Mit dieser Wahl diagnostizierte die „Sprachkritische Aktion“ einen fortschreitenden Verlust staatlicher Handlungsfähigkeit. Immer öfter, so ihre Kritik, rechtfertigte die Politik ihre Entscheidungen als Folge unveränderlicher Sachzwänge statt als Resultat ergebnisoffener Aushandlungen. Immer seltener schien der Staat noch in der Lage zu sein, gestalterischen Einfluss auf grundlegende gesellschaftliche Prozesse zu nehmen. Verantwortlich dafür war unter anderem die Entwicklung der deutschen Staatsfinanzen. So engten eine wachsende Staatsverschuldung und größer werdende Zinslasten die Spielräume für Gestaltungswünsche immer weiter ein. Wo aber keine finanziellen Alternativen mehr bestehen, da droht schnell auch die politische Alternativlosigkeit.
Sieben Jahre später hat sich die Lage der öffentlichen Kassen grundlegend geändert. Zum vierten Mal in Folge will der Bund in diesem Jahr einen Haushaltsüberschuss erzielen. Auch die meisten Bundesländer legen regelmäßig ausgeglichene Haushalte vor. Statt von der Klage über die Alternativlosigkeit ist die deutsche Fiskalpolitik mittlerweile von der Euphorie über die „schwarze Null“ geprägt. Die Staatsfinanzen sind nicht mehr Gegenstand der Sprachkritik, sondern bieten Anlass für reichlich rhetorischen Überschwang. Unionspolitiker, aber immer wieder auch Sozialdemokraten, erklären den ausgeglichenen Bundeshaushalt zu einem „Meilenstein“, „Triumph“ oder gar zu einer „historischen Zäsur“. Bei der Wahl zum Wort des Jahres 2014 landete die „schwarze Null“ auf Platz zwei – und wer erinnert sich heute noch, was mit der erstplatzierten „Lichtgrenze“ gemeint war?
Dass die der Geschäftswelt entlehnte Metapher ursprünglich selbst einmal das Potenzial zum Unwort des Jahres hatte, wird dabei großzügig übersehen: Eingang in den öffentlichen Sprachgebrauch fand sie nämlich erst 1992, als der damalige AEG-Chef Ernst Georg Stöckl verkündete, den defizitären Elektronikkonzern zurück in die Gewinnzone führen und auf dem Weg dahin eine „schwarze“ Null erreichen zu wollen. Tatsächlich erwies sich diese Null jedoch als Luftnummer: Nach neuerlichen Milliardenverlusten wurde die AEG vier Jahre später abgewickelt.
Gerade Sozialdemokraten halten die schwarze Null für eine gute Idee
Dieser Ursprung des Begriffs schwarze Null ist vollkommen in Vergessenheit geraten. Statt für Bilanzkosmetik steht er heute für die Solidität und den Erfolg des deutschen Wirtschaftsmodells. Deutschland sieht sich selbst wieder als fiskalpolitischen Musterschüler. Andere Euroländer, tönt es von der Regierungsbank und aus der Wirtschaftspresse, sollten sich an der hiesigen verantwortungsbewussten Haushaltspolitik ein Beispiel nehmen. Was Jürgen Habermas 1990 als DM-Nationalismus bezeichnete, zeigt sich heute in der Form eines beginnenden Schwarze-Null-Patriotismus.
Es gibt verschiedene Gründe, warum man diese Begeisterung über ausgeglichene Haushalte mit Skepsis sehen sollte. Kritiker weisen regelmäßig darauf hin, dass die schwarze Null in Wahrheit keiner grundlegenden fiskalpolitischen Kurskorrektur, sondern vor allem außerordentlich günstigen Umständen zu verdanken ist. Dazu zählt besonders das seit Jahren anhaltende Nullzinsumfeld: Die vom Bund zu tragende Zinslast hat sich seit ihrem Höchststand von 40 Milliarden Euro im Jahr 2008 bis heute mehr als halbiert.
Auch die makroökonomischen Folgen ausgeglichener Haushalte sind umstritten. So kritisiert der linker Umtriebe gänzlich unverdächtige Internationale Währungsfonds immer wieder, dass Deutschlands Fiskalpolitik angesichts seiner gigantischen Außenhandelsüberschüsse die globalen ökonomischen Ungleichgewichte verschärfe. Eine größere Investitionsnachfrage der öffentlichen Hand würde den Überschuss der Handelsbilanz reduzieren und könne zugleich wichtige Impulse für das noch immer darniederliegende Wachstum in der Eurozone geben.
Diese Kritik ist in vieler Hinsicht berechtigt. Sie bleibt aber unvollständig, solange sie nur die ökonomischen Aspekte der schwarzen Null betrachtet. Auch deren politische Folgen verdienen einen genaueren Blick. Denn für die Begeisterung über ausgeglichene Haushalte sind nur zu einem kleinen Teil die ökonomischen Vorteile verantwortlich, die man sich davon verspricht. Gerade Sozialdemokraten begrüßen die schwarze Null vor allem wegen ihrer vermeintlichen politischen Folgen. Aus ihrer Sicht verspricht sie nicht weniger als ein Ende der Alternativlosigkeit. Ein ausgeglichenes Budget ist demnach vor allem ein Instrument zur Wiedergewinnung staatlicher Handlungsfähigkeit. Um es mit dem Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion, Thomas Oppermann, zu sagen: „Nur ein Staat, der finanziellen Spielraum hat, kann investieren, kann gestalten und kann für sozialen Ausgleich sorgen.“
Stärkt die schwarze Null die Handlungsfähigkeit des Staates?
Um die Zustimmung zu verstehen, die Haushaltsüberschüsse heute in weiten Teilen der Gesellschaft genießen, muss man sich diese politische Erwartung vergegenwärtigen. Die Vorstellung vom Zusammenhang von Haushaltssanierung und staatlicher Handlungsfähigkeit, die ihr zugrunde liegt, bezeichne ich als progressive Konsolidierungsthese. Laut dieser These bedroht Staatsverschuldung nicht weniger als die „fiskalische Demokratie“ (siehe zu diesem Konzept den Beitrag „Politik im Defizit“ von Wolfgang Streeck und Daniel Mertens in Heft 4/2010 der Berliner Republik), weil sie dazu beiträgt, dass die disponiblen Staatsausgaben, auf die das Parlament überhaupt Einfluss nehmen kann, immer kleiner werden. Stattdessen fließen immer größere Teile des Etats in obligatorische Ausgaben, die auf Beschlüssen früherer Regierungen beruhen und nicht mehr korrigiert werden können. Wenn Regierungen aber nur noch für Entscheidungen der Vergangenheit bezahlen, anstatt neue, auf die Zukunft gerichtete Entscheidungen zu treffen, befinden wir uns in den Worten des amerikanischen Politikwissenschaftlers Paul Pierson in einem „Zeitalter permanenter Austerität“. Dann werden die Spielräume der Politik immer kleiner und die Gefahr der Alternativlosigkeit nimmt immer weiter zu.
Eine wachsende Staatsverschuldung beschleunigt den Verlust fiskalischer Demokratie aus zwei Gründen: Zum einen verschlingt sie immer höhere Zinskosten, die den verfügbaren Spielraum im Haushalt reduzieren. So musste der Bund in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends bis zu 16 Cent von jedem eingenommenen Euro für Zinszahlungen aufwenden. Zum anderen wird ein Land umso abhängiger vom Urteil der internationalen Finanzmärkte, je höher es verschuldet ist. In Extremfällen können Investoren oder Ratingagenturen sogar die Regierungen hoch verschuldeter Staaten stürzen. In den vielfach kritisierten Worten Angela Merkels muss die „parlamentarische Mitbestimmung“ dann so gestaltet werden, „dass sie trotzdem auch marktkonform ist“. Anders ausgedrückt: Regierungen und Parlamente müssen sich darauf beschränken, von den Märkten definierte Alternativlosigkeiten zu administrieren.
Anhänger der progressiven Konsolidierungsthese versprechen sich von der schwarzen Null einen Ausweg aus dieser unerfreulichen Lage und eine Stärkung staatlicher Handlungsfähigkeit. Konkret verstehen sie darunter vor allem einen Wiederanstieg der öffentlichen Investitionen. Wie viele wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, leiden diese besonders unter dem Verlust fiskalischer Handlungsspielräume. Wo Sparpakete geschnürt werden, sind Etats für Investitionen stets als erste betroffen. Zwar sind sich grundsätzlich alle Parteien einig, dass eine gute Infrastruktur und ein leistungsstarkes Bildungssystem der Schlüssel zu Wirtschaftswachstum, Chancengleichheit und Generationengerechtigkeit sind. Politisch sind Einschnitte bei diesen Haushaltsposten aber oft leichter durchzusetzen als Steuererhöhungen oder eine Senkung von Sozialausgaben. Die schwarze Null soll es nun ermöglichen, solche Einschnitte wieder rückgängig zu machen.
Die progressive Konsolidierungsthese basiert somit auf einem einfachen Umkehrschluss: Da steigende Verschuldung zu sinkender Handlungsfähigkeit führt, muss sinkende Verschuldung einen Wiederanstieg der Handlungsfähigkeit ermöglichen. Wer wieder zwischen politischen Alternativen entscheiden will, muss deshalb zunächst fiskalische Manövriermasse zurückgewinnen. Aber wie plausibel ist dieser Umkehrschluss? Führen ausgeglichene Haushalte tatsächlich wieder zu wachsender staatlicher Gestaltungsfähigkeit? Oder ist es nicht vielmehr so, dass ein Verzicht auf staatliche Gestaltungsambitionen überhaupt erst die Voraussetzung dafür ist, dauerhaft ausgeglichene Haushalte erreichen zu können?
Die beste empirische Basis, um diese Fragen zu beantworten, bieten die Erfahrungen anderer Länder mit Haushaltsüberschüssen. Überschüsse sind im internationalen Vergleich nämlich keineswegs derart ungewöhnlich, wie häufig unterstellt wird. Dass Deutschland 45 Jahre lang keinen strukturell ausgeglichenen Haushalt erzielen konnte, ist international gesehen sogar die Ausnahme. Zwar blieben Überschüsse in den meisten Ländern nicht mehr als eine Episode, wie im Fall des budget surplus der Regierung Clinton in den Vereinigten Staaten zwischen 1998 und 2000. Einigen Ländern aber gelang es, für mehr als ein Jahrzehnt fast permanente Überschüsse zu erzielen, so dass man von der Herausbildung eines Überschussregimes sprechen kann. Zu dieser Gruppe zählen Kanada, Australien, Neuseeland, Dänemark, Finnland, Schweden und die Schweiz. Diese Länder hatten noch in den achtziger und neunziger Jahren mit erheblichen fiskalischen Problemen zu kämpfen und waren zum Teil sogar mehrfach von internationalen Ratingagenturen abgewertet worden. Ab Mitte der neunziger Jahre gelang ihnen jedoch eine bemerkenswerte haushaltspolitische Kehrtwende. Bis zum Ausbruch der Weltfinanzkrise im Jahr 2008 schrieben sie Jahr für Jahr schwarze Zahlen.
Das Pathos der progressiven Konsolidierungsthese
Was können wir aus den Erfahrungen dieser Länder für den Umgang mit Deutschlands schwarzer Null lernen? Zunächst einmal, dass es keine deutsche Besonderheit ist, ausgeglichene Haushalte zu einem epochalen Ereignis zu überhöhen, das eine bessere, handlungsfähigere und demokratischere Politik ermöglichen soll. Überschüsse weckten in all diesen wirtschaftspolitisch und kulturell durchaus unterschiedlichen Ländern ähnliche Hoffnungen auf ein Ende der Alternativlosigkeit wie heute in Deutschland. Die progressive Konsolidierungsthese wurde zur offiziellen, nicht ohne Pathos vorgetragenen Regierungsrhetorik. Beispielsweise sah der kanadische Finanzminister Paul Martin in Haushaltsüberschüssen die Grundlage dafür, Kanada nach Jahren fiskalischer Entbehrungen wieder zum Schmied des eigenen Glückes zu machen.
In der Tat waren die Voraussetzungen für eine Befreiung vom Diktat des Sachzwangs in den Ländern mit Überschussregimen besonders günstig. Denn anhaltende Überschüsse reduzieren auch die Zinslast, wodurch sich substanzielle fiskalische Spielräume eröffnen. Durchschnittlich gingen die Zinskosten während der Überschussphase um 2,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zurück. Übertragen auf Deutschland entspräche das heute der enormen Summe von beinahe 80 Milliarden Euro, über die Bund, Länder und Gemeinden neu verfügen könnten. Auf dem Papier haben Länder mit Überschussregimen also tatsächlich beste Aussichten auf ein Ende der Alternativlosigkeit und eine Rückgewinnung fiskalischer Demokratie.
Gleichwohl gelang es diesen Ländern kaum, neue Ressourcen für progressive Gestaltungsabsichten zu mobilisieren: Von einer Rückgewinnung staatlicher Handlungsfähigkeit kann keine Rede sein. Das gilt für „harte“ Investitionen in die öffentliche Infrastruktur, also Schienen, Brücken oder Kabelnetze, genauso wie für „weiche“ Investitionen in die Bürger, also Ausgaben für Bildung und Forschung, für Familien und Weiterbildungsprogramme im Rahmen einer aktiven Arbeitsmarktpolitik.
Sowohl in traditionell wirtschaftsliberalen Ländern wie Kanada und Australien als auch im sozialdemokratisch geprägten Skandinavien ging der Anteil der weichen Investitionen am Bruttoinlandsprodukt während der Überschussjahre sogar zurück. Auch die Infrastrukturinvestitionen lagen trotz eines leichten Aufwärtstrends selbst nach zehn Jahren ausgeglichener Haushalte noch immer unter dem Niveau von vor Beginn der Konsolidierung. Das auf dem Weg in den Überschuss gegebene Versprechen „Wir sparen heute, damit wir morgen wieder mehr investieren können“, erfüllte sich nicht. Schlimmer noch: Die öffentlichen Investitionen entwickelten sich nicht besser als in vergleichbaren Ländern mit Defiziten. Die Länder, die erst gar keine entsprechenden Sparanstrengungen unternommen hatten, investierten keineswegs weniger als die Länder mit Überschussregimen.
Dasselbe Bild ergibt sich, wenn man nicht nur die Investitionen betrachtet, sondern breitere Maße staatlicher Handlungsfähigkeit in den Blick nimmt. So stiegen die Nettokernausgaben, definiert als Summe aller Staatsausgaben, die nicht für Zinsen oder für den Sozialstaat aufgewendet werden (ein grobes, aber nützliches Maß für fiskalische Demokratie), in den Überschussjahren nicht wieder an, sondern gingen sogar weiter zurück. Die Entscheidungsspielräume der nationalen Parlamente erhöhten sich also ebenfalls nicht. Die Beschlüsse der Vergangenheit dominierten die Struktur der öffentlichen Ausgaben nicht weniger als zu Defizitzeiten.
Nur weil Defizite verschwinden, investiert der Staat nicht automatisch wieder mehr
Der Umkehrschluss, auf dem die progressive Konsolidierungsthese basiert, führt also in die Irre. Überschüsse sind keineswegs das simple Spiegelbild von Haushaltsdefiziten. Zwar existiert tatsächlich ein stabiler Zusammenhang zwischen Defiziten und dem Rückgang der staatlichen Gestaltungsausgaben: Wo Defizite hoch sind, werden Investitionen besonders stark gekürzt. Ein symmetrischer Zusammenhang für Überschüsse besteht jedoch nicht. Nur weil Defizite verschwinden, investiert der Staat nicht automatisch wieder mehr.
Diese Asymmetrie betrifft allerdings nur die Staatsausgaben. Die Steuern wurden in den Überschussländern dagegen ganz so gesenkt, wie es eine Umkehrung der Zusammenhänge aus dem Defizit erwarten ließe. Das war auch durchaus im Interesse der Steuerzahler, besonders aus der oberen Mittelschicht. Steuersenkungen verschaffen der Politik jedoch keine dauerhaften neuen Gestaltungsspielräume. Dennoch wussten die Anhänger der progressiven Konsolidierungsthese dem Argument, der Überschuss sei von den Steuerzahlern erwirtschaftet worden, weshalb es bloß fair sei, ihn an diese zurückzugeben, nur wenig entgegenzusetzen. Dass die Überschüsse gar nicht durch Steuererhöhungen, sondern vor allem durch Ausgabenkürzungen zustande gekommen waren, wurde dabei geflissentlich übersehen.
Auf eine einfache Formel gebracht, wurden Überschüsse also auf der Ausgabenseite des Staatshaushalts erzeugt, aber auf seiner Einnahmenseite verwendet. Diejenigen gesellschaftlichen Gruppen und Politikfelder, die besonders umfangreiche Sparmaßnahmen hatten verkraften müssen, profitierten folgerichtig besonders wenig von den Überschüssen. Das politische Bekenntnis zu dauerhaften Überschüssen war weniger die Grundlage dafür, schmerzhafte Einschnitte zurückzunehmen als vielmehr dafür, sie auf Dauer zu stellen.
Öffentliche Investitionen erzeugen häufig diffusen Nutzen – aber konkrete Kosten
Nun könnte man einwenden, die Verwendung von Überschüssen für Steuersenkungen stimme vielleicht nicht mit den Absichtserklärungen progressiver Konsolidierer überein, sei aber dennoch ein Beleg für zurückgewonnene Handlungsalternativen. Immerhin gebe es nun wieder größere Spielräume für Unterschiede zwischen der Politik einzelner Parteien. Wenn deren inhaltliche Konvergenz vor allem durch fiskalische Sachzwänge verursacht ist, dann sollte die Linderung dieser Zwänge schließlich wieder zu wachsenden Differenzen führen. Der Befund, dass Überschüsse auf der Ausgabenseite erzeugt und auf der Einnahmenseite verwendet wurden, gilt jedoch unabhängig von den politischen Lagern. Nicht nur staatskritische konservative Regierungen, sondern auch staatsfreundliche linke Regierungen erhöhten die gestaltenden Staatsausgaben kaum. Auch in diesem Sinne erfüllte sich die Hoffnung auf ein Ende der Alternativlosigkeit nicht.
Diese für die progressive Konsolidierungsthese so enttäuschenden Ergebnisse sollten uns nicht allzu sehr überraschen. Es gibt schließlich Gründe, warum die staatlichen Gestaltungsausgaben allzu oft vernachlässigt werden. An diesen tieferen Gründen ändert aber auch ein Haushaltsüberschuss nichts. So müssen die Investitionen gegenüber Steuersenkungen und Konsumausgaben immer wieder zurückstecken, weil es politisch nicht opportun ist, in den öffentlichen Raum zu investieren. Öffentliche Investitionen erzeugen nämlich häufig sowohl diffuse Nutzen, die sich auf eine große Anzahl anonymer Profiteure verteilen, als auch konkrete Kosten für eine recht genau identifizierbare Gruppe von Verlierern, deren politische Prioritäten mit dem amerikanischen Akronym nimby („not in my backyard“) angemessen beschrieben sind. Sozialausgaben oder Steuersenkungen dagegen erzeugen einen sehr konkreten und sichtbaren Nutzen bei ihren Profiteuren, während sich die Kosten diffus auf alle Steuerzahler verteilen lassen.
Ein Überschuss ändert solche Dynamiken aber nicht nur nicht, er verschärft sie zum Teil sogar. Wie eine genauere Analyse zeigt, bleibt die Politik der schwarzen Null stark von den Weichenstellungen geprägt, die während der vorhergehenden Haushaltskonsolidierung getroffen wurden. Der Sozialwissenschaftler spricht hier von Pfadabhängigkeit: Die Art und Weise, wie ein Überschuss entsteht, hat Auswirkungen darauf, wie er verwendet wird. Wo die Konsolidierung etwa genutzt wird, die Haushaltspolitik in ein enges Korsett fiskalischer Regeln zu zwängen, verlieren diese Regeln nicht einfach ihre Wirkung, wenn das Defizit erfolgreich abgebaut ist. Und wo die Konsolidierung mit einem Abbau öffentlicher Planungskapazitäten einhergeht, ist es kein Wunder, dass öffentliche Investitionsprogramme auch nach dem Erfolg des Konsolidierungsprogramms weiterhin einen schweren Stand haben.
Das Fazit aus diesen Erfahrungen anderer Länder mit Haushaltsüberschüssen fällt also ausgesprochen ernüchternd aus. Mit dem Erzielen eines ausgeglichenen Haushalts allein ist die Erosion fiskalischer Demokratie nicht gestoppt oder gar umgekehrt. An der Tatsache, dass Deutschlands Brücken marode, seine Universitäten und Schulen unterfinanziert sind, wird sich allein durch die schwarze Null wenig ändern.
Warum Haushaltsüberschüsse als Reformbremse wirken
Die Vorstellung, die schwarze Null sei ein Signal für wachsende gestalterische Kapazität und Kreativität basiert insofern auf einem fundamentalen Missverständnis. Überschüsse sind eine konservierende, keine verändernde Kraft. Sie wirken nicht als Reformbeschleuniger, sondern als Bremse, weil sie suggerieren, ein bestehendes System sei erfolgreich und benötige keine Veränderungen. Und deshalb erschweren sie eine grundlegende Auseinandersetzung mit den eigentlichen, tieferen Ursachen für den Verlust staatlicher Gestaltungskraft.
Wer an einem langfristig gestaltungsfähigen Staat und einem Wiederausbau fiskalischer Demokratie interessiert ist, wird jedoch nicht umhinkommen, sich diesen Ursachen zu stellen. Und das heißt auch, dass er um schmerzhafte Veränderungen nicht herumkommt. Denn im „Zeitalter permanenter Austerität“ bleibt die Gestaltungsfähigkeit des Staates von zwei Seiten strukturell beschränkt: zum einen vom permanenten Abwärtsdruck auf die Steuereinnahmen, der von Globalisierung und der Sorge um ökonomische Wettbewerbsfähigkeit ausgelöst wird, zum anderen vom permanenten Aufwärtsdruck auf die Kosten der Vergangenheit, der nach wie vor vom demografischen Wandel ausgeht. Diese beiden Tendenzen werden aber von einer Politik der schwarzen Null in keiner Weise gestoppt.
Welche Reformen nötig wären, um diesen strukturellen Trends zu begegnen, ist eigentlich kein Geheimnis. Sie müssten einerseits die Einnahmenseite des Haushalts stärken und andererseits auf der Ausgabenseite Umschichtungen in Richtung Investitionen in die Wege leiten. Konkret geboten wären beispielsweise eine Erhöhung der Erbschaftsteuer und des Spitzensteuersatzes, möglicherweise eine Wiedereinführung der Vermögensteuer und vermutlich auch ein Abbau bestimmter Steuervergünstigungen wie der Pendlerpauschale. Weil höhere Einnahmen allzu leicht in staatlichen Konsumausgaben verschwinden, würde es allerdings nicht genügen, die Einnahmenseite zu stärken. Ebenso nötig wäre es, einen Anstieg der Sozialausgaben zu verhindern, allen voran durch eine weitere Erhöhung des Renteneintrittsalters. Im Ergebnis wäre es möglich, sowohl auf der Einnahmenseite als auch auf der Ausgabenseite neue Mittel zu generieren, die für höhere Infrastrukturausgaben, eine bessere Finanzierung des Bildungssystems, einen Ausbau einer bildungsorientierten Kinderbetreuung und andere weiche Investitionen genutzt werden könnten. Derartige Vorschläge für den Umbau zu einem vorsorgenden Sozialstaat liegen bereits seit mehr als zehn Jahren auf dem Tisch.
Die Chancen, ein solches Programm in Zeiten ausgeglichener Haushalte zu realisieren, sind jedoch minimal. Denn dieses Programm würde politische Opfer erfordern: Es in die Tat umzusetzen hieße, wichtigen Wählergruppen höhere Steuern, niedrigere Renten oder längere Lebensarbeitszeiten zuzumuten. Dass das weder populär noch aussichtsreich ist, versteht sich im Grunde von selbst.
Wie viel attraktiver wirkt da die progressive Konsolidierungsthese? Suggeriert sie doch, mit Überschüssen gebe es ein Mittel, das mehr Investitionen und größere Unterschiede zwischen den Parteien ermögliche, ohne niedrigere Sozialausgaben oder höhere Steuern zu erzwingen. Sie verspricht, mit zwar schmerzhaften, aber zeitlich begrenzten Einschnitten lasse sich eine dauerhafte Stärkung der fiskalischen Demokratie erreichen. Deutschland habe diese Einschnitte jetzt hinter sich und könne daran gehen, die wohlverdienten Erträge zu ernten. Klientelpolitische Wohltaten wie die Mütterrente und die Rente mit 63 sind ebenso ein Ausdruck dieser einkehrenden fiskalischen Wohlfühlpolitik wie die im Sommer 2016 aufgekommene Diskussion um Steuerentlastungen für die Mittelschicht.
Das ist politisch verständlich, aber gleichwohl hochproblematisch. Denn ob dem fundamentalen Dilemma permanenter Austerität mit einer Erhöhung von Steuern oder einem Rückbau des Wohlfahrtsstaats begegnet werden sollte, wäre eine umfassende Debatte mit echten politischen Alternativen wert. Wer ernsthaft überzeugt ist, dass der Staat wieder leistungsfähiger werden und mehr Ressourcen in die Gestaltung der Zukunft investieren muss, sollte diese Debatte führen, anstatt sich hinter dem vermeintlichen Versprechen der schwarzen Null zu verstecken.
Die schwarze Null darf nicht zum sakrosankten Symbol verklärt werden
Diese Debatte mag unangenehm sein, weil sie erfordert, zwischen verschiedenen prinzipiell wünschenswerten Zielen abzuwägen und dabei bestimmte Prioritäten zu setzen. Aber in Wahrheit erfordert die Entscheidung für eine schwarze Null genau das ebenfalls. Auch Haushaltsüberschüsse sind nichts anderes als das Ergebnis einer bestimmten Abwägung zwischen widerstreitenden Zielen, die naturgemäß auf Kosten anderer, ebenso hehrer Ziele geht. Die schwarze Null hebt diese Zielkonflikte nicht auf wundersame Weise auf, sie verbirgt sie bloß hinter der rhetorischen Fassade eines vermeintlich unbestreitbaren fiskalischen Verantwortungsbewusstseins.
Dabei kann es durchaus berechtigt sein, diese Abwägung für ausgeglichene Haushalte zu treffen. Aber zu einer demokratischen Fiskalpolitik gehört, dass diese Entscheidung immer wieder neu geprüft und begründet werden muss. Wenn man die schwarze Null zu einem geradezu sakrosankten Symbol verklärt, verhindert dies eine solche kritische Prüfung jedoch. Stattdessen versucht man, die schwarze Null den vermeintlich engstirnigen und irgendwie anrüchigen Interessenkonflikten des politischen Alltags zu entziehen. Damit wird suggeriert, es gebe in Bezug auf ausgeglichene Haushalte gar keine legitimen Interessenkonflikte. Letztlich sei die Politik der schwarzen Null schlicht alternativlos – genau das also, was sie ursprünglich einmal überwinden sollte.
Dieser Essay basiert auf dem Buch „Die schwarze Null: Über die Schattenseiten ausgeglichener Haushalte“, das im Suhrkamp Verlag erschienen ist. Es hat 100 Seiten und kostet 15 Euro.