Die Spur des Todesschützen
Da der Todesschütze Mitglied der SED war, sind die vordergründige Argumentation und Legitimation für den gewaltbereiten Kampf gegen das vermeintlich postfaschistische System hinfällig. Anders als linksradikale Studenten seinerzeit behaupteten, war Kurras kein Symbol des rechten, sondern des linken Faschismus. Was damals wie heute gleichsam absurd erscheint, ist - wie die Aktenfunde nahelegen - bittere Realität: Der Todesschütze stand politisch-ideologisch vielen nahe, die gegen den Schah demonstrierten. Ebenso wie er lehnten sie die freiheitlich-demokratische Gesellschaft der Bundesrepublik ab und sehnten sich nach einem (realen) Sozialismus. So war Ohnesorgs Studienfreund, der Schriftsteller Uwe Timm, faktisch ein Parteigenosse von Kurras: Er schloss sich der von der SED gelenkten Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) an.
Ob die Tat von der Stasi angeordnet worden war oder nicht - zweifelsfrei profitierte die SED von ihr in besonderer Weise. Perfide instrumentalisierte sie die Tat ihres Agenten, indem sie den Tod des Studenten propagandistisch ausschlachtete und behauptete, nunmehr sei erneut bewiesen, dass in der Bundesrepublik noch immer reaktionäre und profaschistische Kräfte agierten. Ihr Agent hatte für sie also zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Mit seiner Tat förderte er gleichermaßen die Radikalisierung der Studentenbewegung und die Verunglimpfung des bundesrepublikanischen Staates. Dagegen verblasste in den Augen vieler linker und liberaler Kräfte in der Bundesrepublik der menschenverachtende Charakter des SED-Regimes. Die Schönfärbung der DDR durch SED und Stasi fand bis weit in liberale bundesrepublikanische Kreise hinein ein offenes Ohr. An "nützlichen Idioten" im Westen mangelte es der Stasi nicht.
Gab die Stasi den Auftrag?
Wäre die Stasi-Mitarbeit von Kurras schon am 3. Juni 1967 publik geworden, hätten linke Ideologen dies für einen plumpen Ablenkungsversuch reaktionärer Staatskreise und der Springerpresse gehalten: So etwas hätte einfach nicht in ihr Weltbild gepasst. Vielleicht aber wären viele junge Menschen aus dem linksradikalen Umfeld misstrauischer geworden und hätten in den frühen siebziger Jahren eine größere Distanz zum Terrorismus entwickelt. Das von der radikalen Studentenbewegung an die Wand gemalte Schreckgespenst, der Faschismus lebe in der Bundesrepublik weiter, hätte Risse bekommen. Ein kritischerer Blick auf die DDR wäre möglich geworden.
Da die Stasi-Unterlagen zu Kurras unvollständig sind, kann nur spekuliert werden, ob und wie sehr die Stasi tatsächlich in den Vorfall verwickelt war. Ein direkter Mordauftrag lässt sich aus der vorhandenen Aktenlage nicht ablesen. Dass der Todesschütze jedoch, bestärkt durch Diskussionen mit seinen sozialistischen Auftraggebern, mit seinem Schuss eine Radikalisierung der Studentenbewegung bezweckte, kann zumindest nicht ausgeschlossen werden. Schließlich ging es SED und Stasi um die Destabilisierung der Bundesrepublik und besonders West-Berlins. Hierzu war ihnen nahezu jedes Mittel recht. Die Stasi infiltrierte die westdeutsche Friedensbewegung, sie entführte und ermordete wahrscheinlich sogar missliebige Personen und unterstützte später die RAF und andere Terrorgruppen nicht nur in der Bundesrepublik. Vieles kann nur vermutet und nicht belegt werden, da Stasi-Mitarbeiter zwischen dem Fall der Mauer und der Institutionalisierung der Gauck-Behörde und zum Teil auch noch danach hinreichend Zeit und Gelegenheit hatten, brisante Akten zu vernichten.
Die Reaktionen vieler ehemaliger linksradikaler Studentenführer fallen zwiespältig aus: Einige fordern angesichts der neuen Sachlage eine erneute Diskussion über Entwicklung und Radikalisierung der Studentenbewegung und deren Verhältnis zu Bundesrepublik und DDR. Andere halten die Aktivitäten der Stasi für nebensächlich und sorgen sich vor allem um ihr eigenes Weltbild, das nicht beschädigt werden soll. Oskar Negt, der 1967 mit seiner Äußerung, es handele sich um einen "staatlich organisierten Mordanschlag" Öl ins Feuer der Empörung goss, korrigiert oder entschuldigt nicht etwa seine Vorwürfe gegenüber dem bundesdeutschen Staat, sondern zieht in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung eine geradezu absurde Analogie. Auf die Frage, was man aus den jetzigen Enthüllungen lernen könne, antwortet er: "Das zeigt die völlige Vertrocknetheit von Systemen: Letzten Endes - muss man im Nachhinein sagen - waren Springer-Presse und Stasi in gewisser Weise auf einer Linie. Beide verhinderten kritischen Austausch. Jeder von ihnen auf ihre Art und Weise. Dass Kurras Spitzel war, zeigt, dass autoritäre Systeme ortsunabhängig tätig sind." Armseliger kann ein "Lernprozess" nicht ausfallen.
Wie entstand das Feindbild Springer?
Der ehemalige APO-Aktivist Peter Schneider bemühte angesichts des Aktenfundes sogar ein Argument, das sich seine Generation von den Eltern anhören musste, wenn es um die NS-Vergangenheit ging. Schneider sagte in einem Interview: "Ehrlich gestanden, graut mir ein bisschen vor ehrgeizigen Historikern, die mir aus den Akten mit Forscherstolz die ′Wahrheit′ über diesen Abschnitt meines Lebens erklären." Dieses gegenaufklärerische Standardargument verbindet offensichtlich ehemalige Nazis mit ehemaligen Verantwortlichen für die SED-Diktatur und linksradikalen Wortführern der APO: Sie alle möchten sich ihre mühsam zusammengebastelte Lebensbiografie nicht beschädigen lassen.
Bekanntlich stand der Springer-Konzern zugleich im Visier von SED, Stasi und der linksradikalen Studentenbewegung. Mit einigen seiner Blätter, besonders der BZ und der Bild-Zeitung, trug er kräftig zur Eskalation bei zwischen linken Studenten auf der einen Seite und dem Staat sowie der Bevölkerungsmehrheit auf der anderen. Nun macht sich der Verlag in Gestalt von Thomas Schmid, dem Chefredakteur der Welt daran, die damalige Rolle seiner Zeitungen differenzierter zu betrachten. Ohne die nicht zu entschuldigenden Ausfälle einiger Blätter aus dem Blick zu lassen, verweist Schmid zu Recht auf Kommentare in der Welt, die sich in den Monaten vor und nach dem Tod Benno Ohnesorgs um eine sachliche und ausgewogene Beschreibung der Ereignisse bemühten. Wie das Feindbild Springer entstand und in der Studentenschaft verbreitet wurde, wird noch zu klären sein.
Wurden die Stamokap-Jusos ferngesteuert?
Schon seit Beginn der deutschen Teilung unterstützte und lenkte die SED systemkritische Kräfte in den Westzonen und in der Bundesrepublik. Immer ging es ihr darum, den Feind zu verunsichern, zu destabilisieren und letztlich zu vernichten. Darüber hinaus sollte die politische Großwetterlage zugunsten des sowjetischen Imperiums verändert werden. Bei vielen Personen und Organisationen hatten SED und Stasi freilich leichtes Spiel, waren doch Grundsatzkritik an der Bundesrepublik und Sympathie für die realen Verhältnisse in der DDR verbreitet. Das betrifft die Deutsche Kommunistische Partei (DKP) und die Sozialistische Einheitspartei Westberlins (SEW) mit ihren verschiedenen Unterorganisationen ebenso wie den Sozialistischen Hochschulbund (SHB) und die so genannten Stamokap-Jusos. Für sie galt die DDR als das bessere Deutschland; eine Zusammenarbeit mit ostdeutschen Institutionen und ihren westdeutschen Ablegern war der Normalfall. Ob SED und Stasi diese beiden Organisationen auch schulten und lenkten, ist derzeit mangels Forschung noch eine offene Frage.
Mit der vom Politbüro angeordneten weit reichenden Unterstützung der westdeutschen Friedensbewegung zielte die SED auf eine Isolierung der Vereinigten Staaten in Westeuropa. Trotz umfangreicher ideologischer und vor allem organisatorischer Bemühungen gelang es ihr jedoch nicht, die Aufstellung amerikanischer Raketen zu verhindern oder gar die Bundesrepublik aus dem westlichen Bündnis herauszubrechen. Eine Radikalisierung der Friedensbewegung unterblieb ebenfalls; anders als die Studentenbewegung nach dem 2. Juni 1967 blieb sie weitgehend gewaltlos. So musste Erich Honecker dem sowjetischen Außenminister im Oktober 1984 geradezu enttäuscht mitteilen: "Es ist eine Tatsache, dass in der Mehrzahl der westlichen Länder die Bürger Angst vor der wachsenden Kriegsgefahr haben. Man muss feststellen, dass diese Angst dem Niveau der Massenaktionen gegen den Konfrontationskurs nicht entspricht. Dabei gibt es große Bewegungen, zum Beispiel in der BRD. Diese achten aber mehr auf die Gewaltlosigkeit ihrer Aktionen. Damit ermöglichen sie es den USA, weiter ihre Pershing-II und Cruise Missiles zu stationieren." Den Worten Honeckers ist zu entnehmen, dass sich die SED offenbar eine gewalttätigere Friedensbewegung in westlichen Staaten und vor allem in der Bundesrepublik gewünscht hätte.
Welche Abgeordneten arbeiteten für das MfS?
Im Fokus von SED und Stasi standen zu Zeiten der deutschen Teilung jedoch nicht nur linke Organisationen, sondern auch die Institutionen und Parteien, die die freiheitlich-demokratische Ordnung der Bundesrepublik gegen linksradikale Widersacher und ostdeutsche Kommunisten verteidigten. Großes Interesse an Aufklärung besteht bei ihnen bis zum heutigen Tag ebenfalls nicht. So lehnt es der Deutsche Bundestag ab, mögliche Stasi-Verstrickungen ehemaliger Abgeordneter untersuchen zu lassen. Für sich genommen würde dies jenseits medialer Skandalisierung vielleicht wenig erfolgreich sein, aber eingebettet in eine Analyse der gesamten Einflussversuche der SED auf die Politik der Bundesrepublik wäre es ein sinnvolles Unterfangen.
Was steht in der geheimen Ablage des MfS?
Neben den Defiziten bei der Aufarbeitung der Westaktivitäten der Stasi - solche Forschung war offensichtlich im ersten Jahrzehnt nach der Institutionalisierung der Stasi-Unterlagen-Behörde nicht gewünscht - hat es die von Beginn an umstrittene und vergleichsweise personalstarke Abteilung Bildung und Forschung der Behörde versäumt, wichtige Aspekte der Arbeit und Bedeutung des MfS zu bearbeiten. Zum Beispiel existiert keine systematische Untersuchung über die Zusammenarbeit der Stasi mit verschiedenen staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen, um die Verzahnung der Repressionsorgane mit Staat und Gesellschaft offen zu legen. Auch der "Braintrust" des MfS, die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG), ist nach wie vor nur unvollständig erforscht. Die geheime Ablage des MfS, in der sich die Akte Kurras befand, ist bisher sogar nur zu sechs Prozent erschlossen. Ähnliches gilt für die in der Anfangszeit der Gauck-Behörde aussortierten IM-Akten, die bisher ebenfalls nicht in der gewünschten Weise erschlossen sind. Warum sich die Behörde nach einer ersten Durchsicht der geheimen Ablage Mitte der neunziger Jahre entschloss, diese nicht zu bearbeiten und weitere 15 Jahre liegen zu lassen, ist der Öffentlichkeit nicht bekannt.
Die Aufarbeitung der Stasi-Aktivitäten und ihre Einordnung in die Politik der SED kranken aber vor allem auch daran, dass viele Unterlagen bisher nicht professionell erschlossen und archiviert wurden. Eine Übernahme der Stasi-Hinterlassenschaften in das Bundesarchiv könnte hier Abhilfe schaffen. Zudem würden Wissenschaftler und Journalisten die Möglichkeit erhalten, eigenständig zu recherchieren. Sie wären nicht mehr auf die Aktenrechercheure der Behörde angewiesen, denen es oft an zeitgeschichtlichem Wissen und somit an der Fähigkeit zur richtigen Zuordnung der Akten zu Forschungsanträgen mangelt.
Die vorgeschlagene Auflösung beziehungsweise Umstrukturierung ist aber nur sinnvoll, wenn erstens die Betroffenen in gleicher oder beschleunigter Weise Einblick in ihre Unterlagen nehmen können wie heute, zweitens die Sperrfristen für diese Akten weiterhin aufgehoben bleiben und drittens die sehr erfolgreichen Außenstellen der Birthler-Behörde für die politische Bildungsarbeit eingesetzt werden. Mit der Überführung der Stasi-Akten in das Bundesarchiv würden die wissenschaftliche Aufarbeitung der SED-Diktatur und die deutsch-deutschen Verstrickungen nicht beendet, sondern im Gegenteil in Breite und Qualität verbessert.
Hat die Birthler-Behörde ihre Aufgabe erfüllt?
Die Stasi-Unterlagen-Behörde hat vor allem in der Ära Gauck viel Positives geleistet und einen unverzichtbaren Beitrag zur Aufklärung über die finstersten Seiten der SED-Diktatur geliefert. Sie ermöglichte zudem vielen von der SED und dem MfS überwachten und verfolgten Personen, Einblicke in diese Dimension ihres Lebens in der DDR zu nehmen. Schon kurz nach der Vereinigung begannen Überprüfungen der öffentlich Bediensteten in den neuen Ländern. Über die Weiterbeschäftigung von Belasteten hatte freilich nicht die Stasi-Unterlagen-Behörde, sondern der jeweilige Arbeitgeber zu entscheiden - mit fragwürdigen Ergebnissen, wie derzeit der hohe Anteil ehemaliger Stasi-Mitarbeiter in der Brandenburger Polizei belegt. Angesichts der nur noch eingeschränkten und zeitlich befristeten Überprüfung des höheren Staatspersonals hat die Behörde ihre politische Aufgabe weitgehend erfüllt und kann in das Bundesarchiv überführt werden.