Die Vergangenheit ist ein anderes Land

Und Krisenstolz können wir uns nicht mehr leisten. Eine neue intellektuelle Generation entdeckt die Reize des Anpackens in der Gegenwart

Wenn gegenwärtig von deutscher Geschichte die Rede ist, gehen die Emotionen wieder einmal hoch. Das gilt für die Debatte um das "Zentrum gegen Vertreibung" ebenso wie für den Streit um den Bombenkrieg am Ende des Zweiten Weltkriegs und die Erinnerung an dessen deutsche Opfer. Gleichzeitig weint der Kanzler bei der Sondervorführung des "Wunders von Bern" im Kanzleramt Tränen der Rührung und weiß sich dabei mit seiner Geschichtsnation vereint, die sich an die Helden von Bern ebenso gern in Technicolor erinnern lässt wie an jene von Lengede.

Dräut hier ein neuer Geschichtsrevisionismus im Gefühlsgewand? Oder spiegelt sich in diesem aktuellen Geschichtstrend vielmehr das lang ersehnte "normale" Nationalgefühl, zu dem wir Deutschen nach über 40 Jahren der Teilungsbuße und fast 15 Jahren hart erarbeiteter Einheit endlich gefunden haben? Diese Fragen haben sich auch die jungen Berliner Historiker Alexander Cammann, Jens Hacke und Stephan Schlak gestellt, die für die Zeitschrift Ästhetik & Kommunikation das aktuelle Doppelheft zum Thema "Geschichtsgefühl" herausgegeben haben.

Stellt die Gefühlsaufladung der gegenwärtigen deutschen Geschichtsdebatten eine dreifache Gefahr dar, so fragen sie in ihrem Editorial: Eine politische, da die Empathie für die deutschen Opfer von Bombenkrieg und Vertreibung nach Revanchismus riecht? Eine ästhetische, da die vereinfachenden Bilder die kritischen Diskurse zu überlagern drohen? Eine historische, da die massenmediale Geschichtsaufbereitung die differenzierende Geschichtswissenschaft verdrängt?

Von diesen Gefahren ist im weiteren Verlauf des Themenschwerpunkts allerdings kaum noch die Rede. Stattdessen finden sich darin sehr vielfältige Momentaufnahmen zeithistorischer Befindlichkeit, die selbst gleichsam Übungen in Geschichtsfühligkeit darstellen - allerdings, wenn man so will, in kritischer Absicht.

Dass die Fixierung auf die deutsche Nation selbst ein Ergebnis der zunehmenden Emotionalisierung des Geschichtsdenkens seit den 1980er Jahren ist, argumentiert Paul Nolte in seinem sehr lesenswerten Beitrag über "Jürgen Habermas und das bundesrepublikanische Geschichtsgefühl". Nolte beschreibt darin den linksintellektuellen Wandel von der Gesellschaftskritik zur nationalen Geschichtspolitik seit den 1960er Jahren. Noch in den 1970er Jahren habe sich die Geschichte für Habermas und die an einer "Rekonstruktion des historische Materialismus" interessierte Linke vornehmlich "kalt und hart" angefühlt. Doch in den 1980er und 1990er Jahren sei auch Habermas am "kulturpolitischen Historisierungstrend" beteiligt gewesen und habe durch die "historische Reflexion vorzugsweise auf nationale Identität" konservative Felder besetzte. (Zu Recht weist Nolte darauf hin, dass Habermas′ "Verfassungspatriotismus" auch auf der zweiten Begriffshälfte zu betonen ist.) An dieser altlinken Geschichtspolitik ist gegenwärtig auch Hans-Ulrich Wehler beteiligt, den Stephan Schlak in seinem Beitrag unter anderem dafür kritisiert, in der Debatte um den EU-Beitritt der Türkei mit genau denselben Argumenten abendländische Geschichtspolitik zu betreiben, die er früher an seinen bundesrepublikanischen Kontrahenten tadelte.

Das lange Ende der westdeutschen Meister

Stehen Habermas und Wehler für das linke Geschichtsgefühl der alten Bundesrepublik, so repräsentieren Ernst Nolte und Odo Marquard, die beide mit einem Interview in diesem Heft vertreten sind, deren konservative Gegenstücke. Allen gemeinsam ist aber eine (negative wie positive) Verhaftung an die alten Geschichtskontroversen des Westens, deren Hauptvertreter sie als ehemalige Schlachtrösser des Historikerstreits selbst waren. Sie gehören - zusammen mit dem im Heft ebenfalls mehrfach zitierten Martin Walser - zur geschichtspolitisch so einflussreichen "langen Generation" der "Fünfundvierziger", welche die alte Bundesrepublik aus ihrer spezifischen Nachkriegsgenerationslage heraus intellektuell geprägt haben.

Diese Generation wird in dem Heft zwar noch einmal aufgerufen. Ihr gegenüber formiert sich aber gleichzeitig eine jüngere Generation der heute Anfang 30-Jährigen, zu der die Mehrzahl der Autorinnen und Autoren gehört und die nun ihr eigenes Geschichtsgefühl reklamiert. Am deutlichsten wird das vielleicht in Stephan Schlaks Wehler-Kritik, die zusammen mit der nach und nach abtretenden "Generation Wehler" gleich auch den "ergrauten" Geschichtsort Bielefeld und das verblasste Charisma der Kritischen Theorie verabschieden will. Deutlich wird es auch in dem Versuch, gegenüber der westdeutschen Meistererzählung der dreifachen Republikgründung 1945, 1968 und 1989 (etwa in Richard von Weizsäckers Dreimal Stunde Null von 2001) den historischen Horizont der (ehemaligen) DDR in das gesamtdeutsche Geschichtsgefühl zurückzuholen.

So kann etwa Albrecht von Lucke in seiner Kritik an der "westlich dominierten Erinnerungskultur" überzeugend darlegen, wie das westdeutsche Geschichtsgefühl das ostdeutsche nach 1989/90 überlagerte, indem er auf die geschichtspolitische Verdrängung des 17. Juni 1953 durch 1968 als den "zweiten Gründungsmythos der (Bundes-) Republik" hinweist: "Das ewige altlinke Lamento ′Der Osten hatte kein 68′ - es klang dieses Jahr fast schäbig angesichts der revolutionären Bedeutung des 17. Juni."

Im Gestern finden wir die Zukunft nicht

In seiner revolutionären Bedeutung unterschätzt werde allerdings nicht nur der Aufstand von 1953, sondern auch das Ende der DDR selbst, so Alexander Cammann in seinem Beitrag über die "ignorierte Revolution" von 1989. Dass die Revolutionsgeschichte von 1989 "als Forschungsgegenstand intellektuell nicht ernst genommen" werde, führt Cammann in erster Linie auf das "postnationale Geschichtsgefühl der Bonner Republik" und ihren "Anti-Pathos-Reflex" zurück, dem die existenzielle und unironische Aufladung des Wende-Geschehens fremd geworden sei. Dass es in der DDR im Gegensatz zum post-historischen Westen noch um etwas gegangen sei ("nothing goes, but everything matters" statt "anything goes, but nothing matters"), sei umgekehrt aber gerade der Antrieb für die "um 1970 geborenen West-Menschen" gewesen, nach 1990 in den wilden Osten (zumeist Berlins) zu ziehen, wie Eva Behrendt in ihrem Artikel über die "West-Ostalgie" darlegt. Indem Behrendt nach dem "emotionalen Bild vom Osten" bei der Westjugend fragt, beschreibt sie eine ganz anders gelagerte Überformung der ostdeutschen Vergangenheit durch den westdeutschen Blick. Diese "west-ostalgische Schwärmerei" sei allerdings bald abgekühlt. Sie hat heute einer ernüchterten Verabschiedung der DDR-Geschichte in die Ostalgie-Shows Platz gemacht, zu deren Kritik neben dem Artikel von Luckes auch die erhellenden Überlegungen von Wolfgang Engler über die "DDR-Vergangenheit zwischen literarischer Archäologie und medialem Schlussverkauf" einen Beitrag leisten.

Die doppelte Kritik an West- und Ostalgie und ihrer unheiligen Allianz, die in den verschiedenen Beiträgen geübt wird, verbindet sich dabei indirekt mit dem Bewusstsein, dass die gesamtdeutsche Zukunft nicht in der Vergangenheit zu gewinnen ist. Paul Nolte ist also durchaus zuzustimmen, wenn er den Intellektuellen in der Tradition unzeitgemäßer Betrachtungen rät, "der übermäßigen Historisierung Grenzen zu setzen und sich wieder dem Gegenwartsprojekt der Gesellschaftsreform zuzuwenden". Er spricht mit dieser Aufforderung für eine jüngere Generation von Gesellschaftskritikern und -theoretikern, die sich anschickt, die alten Zöpfe der (west-) deutschen Geschichtsbefindlichkeit abzuschneiden und die Berliner Republik als Zukunftsprojekt kritisch zu begleiten und voranzubringen.

Wie nicht zuletzt dieses Themenheft zeigt, geht das allerdings nicht ohne eine eigene Art des Geschichtsgefühls, das so immer auch als generationelles Lebensgefühl erkennbar wird. Und in Bezug auf dieses gegenwärtige Lebensgefühl haben uns die "Alten" vielleicht doch noch etwas zu sagen: Wenn Guido O. Kirner (Jahrgang 1967) das Geschichtsgefühl der postmodernen Gegenwart als "Krise ohne Alternative" durch eine "Grundstimmung des Abschieds und des Verlusts" geprägt sieht, so möchte man ihm gerne mit dem im Heft direkt nachfolgenden Odo Marquard (Jahrgang 1928) entgegnen: "Diesen unendlichen Krisenstolz können wir uns gar nicht leisten." Und in der Tat, es gibt gegenwärtig tatsächlich zu viel zu tun, um den Krisendiskurs des letzten Jahrhunderts noch weiter zu pflegen. Interessieren sich für die anstehenden Zukunftsaufgaben auch wieder historisch und sozialwissenschaftlich geschulte Intellektuelle, kann uns das nur gut tun. Wenn sie es mit einem Gefühl für Geschichte tun, ist das natürlich noch besser.

Alexander Camman, Jens Hacke, Stephan Schlak (Hrsg.), Geschichtsgefühl, Heft 122/ 123 der Zeitschrift Ästhetik & Kommunikation, 34. Jahrgang, Winter 2003, 252 Seiten, 20 Euro

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