Diktatur 2.0 in Europa?
Kann es innerhalb der Europäischen Union eine Diktatur geben? Vor ein paar Jahren wäre solch eine Überlegung noch als interessante Spielerei der politischen Theorie abgetan worden. Angesichts der politischen Entwicklungen in Ungarn und Rumänien steht nun aber die Frage auf der Tagesordnung, ob die EU als eine Art Hüterin der Demokratie agieren und die europäischen Völker sozusagen vor sich selbst oder zumindest vor ihren eigenen Regierungen schützen soll. Oder würde Brüssel dadurch zu einem pan-europäischen Polit-Polizisten, der Bürgern von Lappland bis Lampedusa das einzig wahre Demokratieverständnis vorschriebe?
Dabei sollte man die Gefahr eines supranationalen Paternalismus ernst nehmen. Doch wie ich in meinem Band Wo Europa endet zu zeigen versucht habe, ist die EU prinzipiell berechtigt, zum Schutze nationaler Demokratien zu intervenieren. Verdachtsmomente gerade auch von linker Seite, die Union sei selbst zutiefst undemokratisch oder nur ein Mechanismus, kapitalistische Interessen durchzusetzen (plus ein rhetorischer Zuckerguss von „europäischen Werten“, die ja doch keiner definieren kann), sind zwar nicht völlig aus der Luft gegriffen – überzeugen letztlich aber nicht. Das eigentliche Problem ist denn auch eher praktischer Natur: Es gibt bis heute keine überzeugenden politischen oder rechtlichen Instrumente für EU-Interventionen zum Schutz der liberalen Demokratie.
Die große Keule will keiner schwingen
Ein knapper Überblick über die existierenden Möglichkeiten: Artikel 7 des EU-Vertrags, der vorsieht, die Stimmrechte eines Landes, das dauerhaft europäische Grundwerte verletzt, im Rat zu suspendieren, gilt – ob nun zu Recht oder nicht – als „nukleare Option“ (José Manuel Barroso), die niemand wahrnehmen will, oder als „große Keule“ (Guido Westerwelle), die niemand schwingen möchte. Die Hemmungen europäischer Regierungen haben sicherlich damit zu tun, dass offizielle Verurteilungen eines Mitgliedslandes der ganzen EU-Kultur von Konsens und Kompromiss diametral entgegengesetzt sind. Zudem treibt die Nationalstaaten die Sorge um, dass Artikel 7 irgendwann gegen sie selbst angewandt werden könnte. Hier enthüllt sich wieder einmal, welch fatale Folgen der Exekutivföderalismus (Jürgen Habermas) haben kann, der derzeit in der EU herrscht: Nationale Regierungen denken nicht in gesamteuropäischen Zusammenhängen, sondern zeigen sich zuerst einmal als „souveränitätssensibel“, so der Europarechtler Mattias Kumm.
Der Heidelberger Jurist Armin von Bogdandy und seine Mitstreiter haben einen originellen Vorschlag zu einem „Rettungsschirm für Grundrechte“ gemacht, der den Status der Bürger in den Mitgliedsländern als europäische Bürger nutzt, um den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg als Hüter nationaler Rechtsstaatlichkeit ins Spiel zu bringen (und um im Idealfall auch nationale Gerichte gegenüber illiberalen Kräften zu stärken). Einmal dahingestellt, ob illiberale Regierungen sich wirklich noch von Urteilen aus Luxemburg beeindrucken lassen würden und ob in Situationen wie in Rumänien im Sommer 2012 die Mühlen der Justiz nicht viel zu langsam mahlen – in den Augen von Kritikern ist der Ansatz viel zu legalistisch, geht es doch im Kern um politische Herausforderungen.
Eine direkte politische Antwort aber ist erst einmal nicht zu erwarten. Die Eurokrise, so hört man häufig, habe zur Politisierung Europas geführt – nun gelte es, die Politik zu europäisieren. Doch führt dies offenbar auch dazu, dass sich die Europäische Volkspartei vor Viktor Orbán stellt und Martin Schulz, einer der schärfsten Kritiker Orbáns, zumindest am Anfang den nominell linken rumänischen Ministerpräsidenten Victor Ponta in Schutz nahm: Parteipolitik statt Protektion der Demokratie.
Was bräuchte es also? Mit einem Satz gesagt: eine Institution, die kurzfristig eine Art politischen Alarm auslösen kann – und die über starke Urteilskraft verfügt. Eine derartige Institution kann einem Gericht in mancher Hinsicht ähneln, aber sie sollte keine Kopie eines Gerichtes sein: Sie muss nicht nur individuelle Rechtsverletzungen in den Blick nehmen, sondern eine ganze politische Landschaft erfassen können.
Wer schlägt den Demokratie-Alarm?
Nur: Wird hier nicht das Rad neu erfunden? Hängt der Prozess der EU-Erweiterung nicht von genau dieser Art Urteilen ab? Waren die „Kopenhagen-Kriterien“, die unter anderem Demokratie und Rechtsstaat forderten, nicht eben jene Art von Kriterien, die man nun mühsam wieder neu zu formulieren sucht? Es darf daran erinnert werden, dass der Erweiterungsprozess de facto oft im „Checklist-Verfahren“ vorgenommen wurde: Beamte machten Häkchen bei den einzelnen Kästchen („Haben die Gerichte funktionstüchtige Computer, ja oder nein?“), ohne sich zu fragen, ob denn beispielsweise der Rechtsstaat bei den Bürgern am Ende wirklich als effektiv gelten kann. Urteilskraft – das heißt eben, dass man nicht einfach Regeln anwendet oder Listen abarbeitet.
Wünschenswert ist also eine Institution, die „ganzheitlicher“ vorgeht, ohne das Erbe der Kopenhagen-Kriterien zu verleugnen. „Kopenhagen-Kommission“, in Anlehnung an die Venedig-Kommission des Europarates, wäre ein passender Name. Idealerweise würde diese Kommission routinemäßig – vielleicht gar jedes Jahr – Berichte über den Zustand des Rechtsstaats und der Demokratie in allen Mitgliedsländern erarbeiten. Die Alternative wäre, von vornherein gewisse Länder gesondert zu behandeln, was nicht zu Unrecht den Verdacht von Vorurteilen (besonders gegen „die Osteuropäer“) wecken würde. Die Absicht solcher Berichte bestünde nicht darin, Krittelei an jedem Aspekt nationaler Institutionen zu legitimieren oder einen letztlich unpolitischen Traum völlig homogener europäischer Rechtsstaatlichkeit zu verwirklichen, sondern sie läge in dem Versuch, systematische Probleme möglichst rasch paneuropäisch zur Sprache zu bringen. In einer EU ohne gemeinsame europäische Öffentlichkeit und ohne kontinuierliche Aufmerksamkeit von Institutionen wie der Kommission ist eine solche „Demokratie-Alarmglocke“ dringend nötig.
Warum aber eigentlich nicht die Kommission, also die Europäische Kommission, mit dieser Aufgabe betrauen, statt schon wieder eine neue (teure) Einrichtung zu schaffen (und neue Akronyme, die kein europäischer Bürger mehr versteht)? Es scheint, dass die Kommission in den kommenden Jahren bewusst politisiert werden wird. Der Präsident könnte direkt gewählt werden; die Parteien reden bereits über die Möglichkeit, im Verbund mit einem gemeinsamen Spitzenkandidaten anzutreten, der dann von der Mehrheit im Europaparlament zum Präsidenten der Kommission gewählt würde. Es sei hier dahingestellt, ob eine solche Politisierung die Legitimitätsdefizite der EU ausgleichen kann – plausibel ist, dass sich eine derartige Kommission nicht mehr als überparteiliche Hüterin der Verträge inszenieren könnte. Bereits bestehende Verdachtsmomente, beim supranationalen Schutz von Rechtsstaatlichkeit gehe es eigentlich nur um Parteipolitik oder paneuropäischen Kulturkampf mit anderen Mitteln, würden noch einmal deutlich verstärkt. Man kann also nicht beides gleichzeitig haben: Demokratieschutz und direktdemokratisch legitimierte Institutionen zum Demokratieschutz, weswegen ja auch beispielsweise in Deutschland nicht Berlin, sondern das Verfassungsgericht in Karlsruhe Parteien verbieten kann.
Auf den richtigen Ton kommt es an
Diese Überlegungen schließen jedoch nicht aus, dass in den aktuellen Auseinandersetzungen mit Ungarn die Kommission noch einmal eine Führungsfunktion übernehmen könnte. Sie ist durch einen an José Manuel Barroso adressierten Brief von Guido Westerwelle und drei weiteren europäischen Außenministern dezidiert dazu ermutigt worden. Nachdem sie vom Exekutivföderalismus der Eurokrise sehr ins Abseits gedrängt worden ist, hat die Kommission auch ein Eigeninteresse, ihre Relevanz unter Beweis zu stellen. Die Frage ist nur, ob die Mittel der Kommission – das Ahnden von Vertragsverletzungen und die Kürzung europäischer Gelder – wirklich ihren Zweck erfüllen können: Bei ersteren besteht oft ein Missverhältnis zwischen individuellem Vergehen und den eigentlichen politischen Problemen; bei finanziellen Sanktionen läuft Brüssel Gefahr, die ohnehin Schwachen in einem Mitgliedsland zu treffen. Es sollte zu denken geben, dass die ungarischen Sozialisten – welche allerdings, gelinde gesagt, nicht gerade für ihre Urteilskraft berühmt sind – sich bereits gegen Sanktionen ausgesprochen haben. Was „smart sanctions“ in der EU sein könnten – darüber muss weiter nachgedacht werden.
Es sei betont, dass die hier avisierte „Kopenhagen-Kommission“ die bereits bestehenden Möglichkeiten für Demokratieschutz nicht ersetzen, sondern ergänzen sollte. Idealerweise würde Artikel 7 dazu um die Möglichkeit erweitert, ein Mitgliedsland ganz aus der Union auszuschließen. Ein solches Szenario ist zwar wenig wahrscheinlich, unmöglich ist es aber nicht. Derzeit könnte eine Militärdiktatur offiziell in der EU verbleiben – nur ohne Stimmrechte im Rat. Eigentlich ein skandalöser Zustand und eine völlige Missachtung der Tatsache, dass eine politische Gemeinschaft entweder umfassende Interventionsmöglichkeiten im Inneren oder eine Art „Recht zum Ausschluss“ haben muss. Derzeit hat die EU weder das eine noch das andere.
Ein letzter Aspekt darf nicht unerwähnt bleiben: Europäische Institutionen müssen den richtigen Ton treffen. Denn das Problem ist nicht Ungarn, sondern eine bestimmte Regierung; die Probleme dieses Landes und anderer Länder sind nicht einfach Hirngespinste von Populisten; und den EU-Beitritt hat nicht jeder Bürger als Segen empfunden. Europa sollte deshalb nicht von oben herab belehren – und wenn es Maßnahmen ergreift, dann immer im Namen gemeinsamer und stets wieder gemeinsam neu zu erringender Prinzipien, anstatt Völker wie Demokratie-Pennäler zu behandeln, die etwas schwer von Begriff sind.