Don’t look back in Anger
Markiert der Brexit den Anfang vom Ende der Europäischen Union? Nein. Eine EU ohne Großbritannien ist denkbar und machbar. Schließlich wurde sie ja auch mal ohne Großbritannien gegründet.
Ist eine EU ohne Großbritannien wünschenswert? Nein, das ist sie nicht, auch wenn die Briten manche in der Union oft genug „genervt“ haben – Tendenz zuletzt zunehmend. Sie sperrig drinnen zu haben, hätte aber immer noch einen größeren Mehrwert, als wenn die Briten draußen wären.
Kann eine EU ohne Großbritannien die gleiche sein wie bisher – nur minus der Briten? Nein. Die EU wird sich verändern müssen. Doch kann sie das auch? Und wenn ja, in welche Richtung?
Für London ist die Europäische Union nie nur annähernd das gewesen, was sie für ihre Gründungsstaaten auch stets war: ein politisches Projekt. Großbritannien trat erst 1973 der EU bei und den Briten ging es damals, angesichts einer kriselnden heimischen Wirtschaft, um das gleiche wie heute nach einem Austritt: um den Markt. Nicht ein geeintes Europa war ihre Vision, sondern ein möglichst unproblematischer Zugang zu Millionen europäischer Konsumenten. Ob es den auch für das zukünftige Nicht-EU-Mitglied Großbritannien wird geben können, und wenn ja, um welchen Preis? Genau das wird Verhandlungssache sein.
Diese Verhandlungen werden mit Sicherheit ein hartes Ringen – egal, ob sie nun in 5, 9 oder 13 Monaten beginnen. Für London steht wirtschaftlich einiges auf dem Spiel. Aber auch der EU muss im wohlverstandenen Eigeninteresse an weiterer enger ökonomischer Zusammenarbeit gelegen sein. Gleichzeitig hat sie nicht Unwesentliches zu verlieren: ihr Gesicht und ihre Attraktivität. Bleibt die EU nicht bei ihrem Credo, „(fast) alle Rechte gibt es nur bei (fast) allen entsprechenden Pflichten“, wird zwangsläufig der Eindruck entstehen, dass es sich bequem von den Segnungen des gemeinsamen Marktes profitieren lässt, ohne weniger bequeme Verpflichtungen übernehmen zu müssen, die daraus erwachsen. In dem Fall würden mit Sicherheit in diversen EU-Ländern die Stimmen derjenigen sehr viel lauter, die verkünden, dass es sich allein besser leben lässt als in der Union. Und dass wäre dann tatsächlich der Anfang vom Ende der EU.
Alle tragen dicke Fragezeichen auf der Stirn
Erst wenn die Verhandlungen über die Scheidungs-Modalitäten und vor allem über die Prinzipien der neuen Beziehungen zueinander abgeschlossen sind, werden sich Fragen klären, die sich den bis zu 1,8 Million Briten im EU-Ausland stellen. Und den rund 2 000 Mitarbeitern mit britischem Pass in den europäischen Institutionen. Und hunderttausenden EU-Ausländern, die in Großbritannien arbeiten. Und allein über 2 500 deutschen Firmen auf der Insel. Und den vielen Studenten, die dort studieren, oder umgekehrt den jungen Briten, die zum Studium in (andere) EU-Staaten gehen. Und den Profi-Fußballern aus EU-Europa, die zu britischen Klubs wechseln. Sollten sich die EU und Großbritannien künftig gegenseitig behandeln wie jedes Nicht-EU-Drittland, dann würde es ans „Eingemachte“ gehen: Wird man dann wieder gegenseitig voneinander Visa und Aufenthaltsgenehmigungen verlangen? Wird es höhere Studiengebühren geben und keine selbstverständliche Absicherung mehr im Krankheitsfall? Wie hoch werden die Hürden für Nicht-Insulaner, auf der Insel ein Unternehmen zu gründen, zu investieren, eine Immobilie zu erwerben, und umgekehrt für die Briten, die solches in der EU tun wollen? All das – und noch viel, viel mehr – ist Verhandlungssache. Bleibt also, möglicherweise noch jahrelang, ohne Antwort.
Erst einmal ändert sich in Brüssel konkret nichts. „Bis zum Austritt ist und bleibt Großbritannien Vollmitglied der Europäischen Union, mit allen Rechten und Pflichten“. Das ist die Standard-Antwort, die man bekommt, wenn man nach den Konsequenzen aus dem Brexit-Votum hier und jetzt fragt. Allen in den Brüsseler Institutionen sind dicke, fette Fragezeichen gewissermaßen in Leuchtschrift quer über die Stirn geschrieben, wenn sie darüber nachdenken, was die Zukunft der EU minus Großbritannien bringt. Für sie persönlich. Aber auch politisch. In den EU-Institutionen arbeiten Beamte, Angestellte, „Verliehene“ aus den EU-Mitgliedsländern. Möglicherweise – auch das Verhandlungssache – behalten die britischen Mitarbeiter ihren Arbeitsplatz nach dem vollzogenen Austritt Großbritanniens. Allerdings wohl mit spürbar eingeschränkten Karrierechancen. Neueinstellungen von Briten dürfte es nicht geben.
Nur dreierlei weist in Brüssel momentan konkret auf den sich abzeichnenden Auszug der Briten aus dem „gemeinsamen Haus“ hin: Alle drei europäischen Institutionen – der Europäische Rat, die EU-Kommission und das EU-Parlament – haben „Brexit-Beauftragte“ für die anstehenden Verhandlungen benannt. Großbritannien hat seine turnusgemäß anstehende halbjährige Präsidentschaft ab Sommer nächsten Jahres abgegeben (Estland hat übernommen). Und schließlich ist der britische EU-Kommissar Jonathan Hill zurückgetreten, weil sein Zuständigkeitsbereich – Finanzmarktregulierung – ein sensibles Thema im „Scheidungsprozess“ sein wird. Der „Neue“, Julian King, bis auf Weiteres mit allen Rechten und Pflichten eines EU-Kommissars ausgestattet, übernimmt die Zuständigkeit für einen Bereich, den es so bisher nicht gegeben hat und der weniger politisch kontaminiertes Terrain markiert: Er wird Kommissar für die „Sicherheitsunion“. In Zeiten der allgemeinen Verunsicherung der EU-Bürger durch Terrorismus und mangelnde Kontrolle über die EU-Außengrenzen könnte die „Sicherheitsunion“ – so sie denn nicht eine leere Worthülse bleibt – ein zukunftweisendes Projekt sein, wenn die EU sich ihrer selbst vergewissern und zweifelnden Bürgern etwas anbieten will, was den Glauben an das europäische Projekt wieder stärkt. Das wäre ein Vorhaben, das weit über die absehbar eingeschränkte Amtszeit von Julian King hinausginge.
Bei vielem standen die Briten sowieso abseits
Großbritanniens Abgang wird für die EU in manchen Bereichen zu verkraften sein – schon allein deshalb, weil das Noch-EU-Mitglied bei vielem, was europäisch gespielt wird, ohnehin nur am Spielfeldrand steht: Beim Schengenraum ohne Kontrollen an den Binnengrenzen sind die Briten nicht dabei. Beim (wenn auch mangelhaften und in seinen Grundfesten zu reformierenden) Asyl-System machen sie nicht mit. Und bei der gemeinsamen Währung wollten die Briten es sogar schriftlich haben, dass sie den Euro nicht einführen müssen, wenn sie in der EU verblieben wären.
Bei der, zumindest in Ansätzen vorhandenen, gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU sowie der gemeinsamen Außenpolitik stehen die Briten nicht selten auf der Bremse. Ebenso verhält es sich bei der Stärkung des europäischen Pfeilers in der Nato, der 22 der EU-Länder angehören. Mehr oder weniger alles, wo das schöne Wörtchen „gemeinsam“ drauf steht, ist London suspekt – abgesehen vom gemeinsamen Markt. Trotzdem möge sich niemand Illusionen machen, dass die EU ohne Großbritannien „gemeinsamer“ oder gar gewichtiger auf der internationalen Bühne würde. Genau in diesem Punkt wird der Verlust für die EU möglicherweise am schmerzhaftesten sein. Denn mit den Briten verliert die EU eine Militärmacht, ja eine Nuklearmacht, ein ständiges Mitglied im Weltsicherheitsrat und zudem ein gewichtiges transatlantisches Bindeglied. Zwar hat die EU selten tatsächlich mit einer Stimme in der Welt gesprochen. Aber ein europäischer Staats- oder Regierungschef, der sich weltpolitisch äußert, tut das mit dem Gewicht eines (fast) ganzen Kontinents hinter sich. In diesem Sinne wird die EU den Briten eines Tages vielleicht noch fehlen. Und in diesem Sinne werden die Briten als militärischer und diplomatischer Faktor von internationaler Bedeutung in der EU eine große Lücke hinterlassen.
Jetzt mehr Europa – oder lieber das Gegenteil?
Selbst wenn man sich in Brüssel und in den europäischen Hauptstädten nach dem Referendums-Schock erst einmal eine Atempause verordnet hat, intern laufen die Gedankenspiele auf Hochtouren. Staats- und Regierungschefs treffen sich in allen möglichen Konstellationen. Die Frage, welche Konsequenzen aus dem britischen Misstrauensvotum gegen die EU von den übrigen 27 Mitgliedsstaaten zu ziehen sind, will beantwortet werden. Der Sondergipfel in Bratislava sollte vor allem dem informellen Gedankenaustausch dienen. Bis März 2017 – dem 60. Jahrestag der Römischen Verträge, gewissermaßen die Geburtsurkunde der EU – will man sich berappelt und über die künftige Marschrichtung entschieden haben. Es gilt, die grundsätzliche Entscheidung über zwei mögliche Wege zu fällen, die sich diametral gegenüberstehen: Jetzt mehr EU wagen, sich entweder zumindest in einigen Themenfeldern in Richtung einer echten politischen Union zu bewegen, mit gemeinsamer europäischer Regierung, mit einer Art Zwei-Kammer-System, in dem die EU-Länder sich analog zum Bundesrat organisieren würden, neben einem EU-Parlament, das die gleichen Kompetenzen wie nationale Parlamente hätte. Oder aber das glatte Gegenteil: eine weitreichende Rückverlagerung der Kompetenzen in die europäischen Hauptstädte, eine (erneute) Reduzierung der EU-Kommission auf ihre Rolle als reine (unpolitische) Hüterin der (abgespeckten) Verträge.
Für beide Varianten würde man Einstimmigkeit in der Union benötigen. Beide Varianten bedeuteten Vertragsänderungen, mit Referenden in einigen Mitgliedsländern. Beide Varianten haben Anhänger und entschiedene Gegner in der EU. Beide Varianten sind aktuell daher äußerst unrealistisch. Deshalb ist die wahrscheinlichste eine „Sowohl-als-auch-Variante“: Einige EU-Länder dürften sich ohne Vertrags-Veränderungsverfahren auf dem einen oder anderen Themenfeld enger zusammenschließen. Die Euro-Staaten werden dies mit einer Vertiefung ihrer Wirtschafts- und Währungsunion tun. Mit teilidentischer Beteiligung könnten dies einige EU-Länder beim Asylsystem tun, in der Verteidigungspolitik, in der Sicherheitspolitik oder hinsichtlich der Zusammenarbeit der Geheimdienste beim Anti-Terrorismus-Kampf. Auch eine verstärkte Kooperation bei Klima- und Energiestrategien ist denkbar. Vielleicht entsteht sogar ein (gesund)geschrumpfter Schengenraum, „Mini-Schengen“, in dem die Grenzen nach innen offen bleiben und nach außen wieder systematisch kontrolliert werden. Die EU würde – mehr noch als sie es ohnehin schon ist – zu einer Union der verschiedenen Geschwindigkeiten und der verschiedenen Integrationstiefen.
Das Brexit-Votum der Briten und die Flüchtlingskrise haben wie unter einem Brennglas ein Grundproblem der EU-28 sichtbar werden lassen: Die Union kann nur mit geteilter Souveränität und mit geballter Solidarität funktionieren. Die Bereitschaft zu beidem ist und bleibt wohl auch auf absehbare Zeit unterschiedlich verteilt. Sie sortiert sich einerseits oft entlang der Größe der Mitgliedsstaaten; manch kleinere Länder sehen in geteilter Souveränität einen Gewinn an Einfluss in internationalen Fragen, während manch großes Land sich in der Lage wähnt, der anderen dabei nicht zu bedürfen. Und andererseits sortiert sie sich entlang der Bedeutung, die die jeweilige Regierung dem nationalen gegenüber dem gemeinsamen europäischen Handeln gibt.
Kurzum: Der Ausstieg der Briten aus der EU markiert nicht den Anfang vom Ende der Union. Aber er bedeutet sehr wohl einen tiefen Einschnitt in ihrer Geschichte. Zum Wunden lecken lassen die aktuellen Krisen nur wenig Zeit. Es gilt, nicht den Blick zurück im Zorn (auf die Briten) zu kultivieren, sondern den Weg nach vorn zu finden – oder eben mehrere Wege. Über der Suche nach ihm oder ihnen wird noch manche Gipfel-Nacht vergehen.