Doppelte Moral und blindes Staatsvertrauen
Es gibt derzeit eine publizistische Aufgeregtheit, die uns veranlasst, über die Verwerfungen im Dreieck von Politik, Gesellschaft und Individuum etwas intensiver nachzudenken, nicht im Stil des emotionalen und phrasenhaften Jargons, auch nicht mit der distanzierten Noblesse der wissenschaftlichen Expertise. Es sind eher Notationen und zufällige Eindrücke, essayistische Versatzstücke, die zur Diskussion gestellt werden sollen.
Zunächst geht es darum, angesichts unübersehbarer ideologischer Voreingenommenheiten darüber aufzuklären, woher unsere auseinander gehenden Vorstellungen über die Funktion des Staates stammen. Genauer gefragt: Woher kommen die Befürworter eines eher staatlich etatistischen Denkens auf der einen Seite, und woher auf der anderen die, die ihr Vertrauen in die Selbstregulation der Gesellschaft und damit auf die Pluralität politischen Denkens und Handelns setzen.
Ein Blick in die Ideengeschichte des 19. Jahrhunderts verschafft Klarheit. Staat und Gesellschaft sind im Grunde durch die konservativen und sozialistischen Staatsvorstellungen und politischen Glaubenssätze in einen Gegensatz gebracht worden, der sich, neben vielen anderen Details, vor allem in der eher monolithischen oder der eher pluralistischen Vorstellung von Staat und Gesellschaft darstellt. Auf der einen Seite stehen Vertreter der konservativen Gedankenwelt, die den Staat organisch verstehen und als die Summe der ihn begründenden Einzelteile der Gesellschaft begreifen. Auf der anderen Seite wird dem Staat die Rolle zugewiesen, gesellschaftliches Leben vermeintlich rational und neutral zu organisieren, also die Regulation des menschlichen Miteinanders nur in einem Zentrum, dem Staat eben, zu suchen, dem der Rang einer moralischen Instanz zuerkannt wird, von dem die Regeln für das Miteinander ausgehen und der den Streitfall schlichtet. Während im ersten Modell, dem konservativen, die Gesellschaft und ihre Teile eine vorrangige Rolle einnehmen, gleichsam die Funktion der Selbstregulation, der Eigenverantwortlichkeit wahrnehmen, sind im zweiten Teil alle Funktionen im Staat gebündelt, einschließlich einer politisch gesetzten, verbindlichen Moral.
Der Markt wird’s schon richten?
Gewiss, dies ist recht flächig und idealtypisch dargestellt, und zudem sind wir noch unvollständig, wenn wir nicht zumindest die linksliberale Variante mit ins Spiel brächten, die sich zunächst am Beginn des 19. Jahrhunderts in Humboldts frühliberaler Schrift über die Grenzen des Staates von 1811 abbildet, in der Humboldt dem Staat nur eine defensive Rolle zusprach, ihn nur in der Schutzfunktion vor äußerer Bedrohung wahrnehmen wollte – das hat ihm und seiner Vorstellung den Vorwurf eingetragen, er habe einen „Nachtwächterstaat“ vor Augen.
Heute würde man das blinde Vertrauen in die gesellschaftliche Selbstregulation („Der Markt wird’s schon richten“) als neoliberal schelten, ein Ausdruck, der historisch so ungenau ist wie er etwas unbestimmt Fruchterregendes und Eiskaltes aussprechen soll. Heutige politische Parteien und die, die sie vom Gedanken her, auch vom historischen Gedanken her zu tragen scheinen, gehen mit dieser Geschichte, die ihre eigene ist, nicht sonderlich gewissenhaft um.
Eigentlich wird weltanschauliches Herkommen kaum mehr zur Klärung heutiger Standpunkte herangezogen, oder wenn doch, dann versehen mit dem Zusatz „neu“ oder „modern“, um die Geschichte für das Heute instrumentalisieren zu können – so etwa, wenn die CDU von der „neuen“ sozialen Marktwirtschaft spricht oder der Kanzler sein wirtschaftspolitisches Credo aus der Beliebigkeit von „modern“ ableitet.
Mit Worthülsen lässt sich kein Staat machen
Nun ist gewiss, dass sich mit Weltanschauung und ihren aseptischen Worthülsen allein kein Staat und keine Politik machen lassen. Die Realität biegt die Idealität stets zurecht und das ist noch nicht einmal per se zu beklagen, kurzum die Grenzen zwischen etatistischem und pluralistischem Denken und Handeln sind fließend, und weltanschauliche Beharrlichkeit stünde in der heutigen Politik nicht eben hoch im Kurs. Eindeutigkeit wirkt altfränkisch und auf eine allenfalls charmante Weise unmodern.
Trotzdem: Sieht man genauer auf die heutige Politik und den Austrag von begründeten Positionen, so lassen sich die monolithische und die pluralistische Position noch stets erahnen. Auf der einen Seite stehen eben die, die auf die moralische, Macht erhaltende und Macht gebietende Potenz des Staates setzen, auf der anderen jene, die zumindest eine Mitwirkung gesellschaftlicher Teilkräfte und gesellschaftlicher Initiativen zur Geltung bringen möchten.
Freilich lassen sich heute diese Positionen nicht mehr distinkt auf die eine oder andere Partei zuschreiben. Man kann eben, wie die Protagonisten von Achtundsechzig bewiesen haben, einmal eine Staatsopposition propagieren und sich gleichzeitig um des eigenen Vorteils und der eigenen Karriere willen etatistisch verhalten, bis hin zur rigorosen Okkupation staatlicher Verantwortungsbereiche.
Wir sind derzeit mit einer politischen Krise konfrontiert, die sich in dreifacher Form äußert. Es handelt sich um eine Vertrauenskrise, die sich vor allem im Gegenüber von Politikern, politischer Klasse und Bürgern entwickelt hat; es handelt sich um eine Akzeptanzkrise, die vor allem die Volksparteien mit ihrer diffusen Programmatik und ihrer etatistischen Sozialpolitik erreicht; und es handelt sich um eine Loyalitätskrise, die sich in einer tiefen Skepsis gegenüber dem Staat äußert, verbunden mit Ohnmachtgefühlen gegenüber einer Bürokratie, die nicht geringer, sondern übermächtiger wird. Da sich der Staat in einer Krise, vor allem auch einer finanziellen Krise befindet, handelt und denkt er nur noch in Krisenbewältigungsstrategien, die die Funktion und den Sinn des Staates nicht mehr grundsätzlich bedenken; vielmehr dominieren Kurzatmigkeit und Schnellzüngigkeit, gepaart mit Rechthaberei.
Tatsächlich sollte sich der Staat als Agent der Gesellschaft begreifen, die Gesellschaft in ihrer Kompetenz respektieren und sich der Aufgaben entledigen, die in der gesellschaftlichen Zuständigkeit und Verantwortungsbereitschaft besser aufgehoben sind. Stattdessen erleben wir die Weltverbesserer aller Couleur, die meinen, dass der Staat schon alles regeln werde und dabei ein neutraler und ethisch ausgeglichener Sachwalter sei.
Stocksteife Formulierung, richtiger Kern
Es sollte eigentlich nicht so schwer sein einzusehen, dass Bescheidenheit und Zuständigkeit des staatlichen Handelns auf der einen Seite und die gesellschaftliche Selbstregulation auf der anderen einander bedingen und zu einem Ausgleich gebracht werden müssen. Der Staat hat Ordnungsfunktionen, die ihm keine gesellschaftliche Macht abnehmen kann, er muss sich allerdings auch zu dem Verzicht durchringen, der Gesellschaft das zu überlassen, was sie besser kann. Die etwas stocksteife Formulierung von der „regulierten Selbstregulation“, die man für den heutigen Jugendschutz erdacht hat, benennt etwas durchaus Vernünftiges und Richtiges, nämlich die gesellschaftlichen Kräfte zu veranlassen, sich aufgrund ihres Sachverstandes und ihrer Besonderheiten auf einen ethischen Minimalkonsens zu verständigen, dem der Staat die rechtliche Begründung und Sicherung zuteil werden lässt.
Der Kompetenteste kommt nicht zum Zuge
Es lassen sich durchaus Beispiele angeben, die belegen, dass sich die Selbstregulation der gesellschaftlichen Kräfte unter dem Dach rechtlicher Vorgaben oder staatlicher Supervision bewähren. Zu denken ist etwa an die Aufsichtsgremien des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, die in zahlreichen Fällen den gesellschaftlichen Gruppen ein großes Mitsprache- und zu Teilen auch Mitentscheidungsrecht einräumen. Freilich wird eine derartige gesellschaftliche „Harmonie“ irritiert durch die politischen Ansprüche und Durchsetzungsstrategien der Parteien und der Politiker, die dazu geführt haben, dass oft nicht der Kompetenteste zum Zuge kommt, sondern der politisch Willfährigste. Dass man sich in den politischen Wechselfällen zur Loyalität verpflichten muss, unbeschadet eigener politischer Ansichten, ist offenbar aus der Mode gekommen.
Angesichts solcher Befunde wundert es, dass dem Staat weiterhin das Recht zugesprochen wird, in allen moralischen Fragen ein gesellschaftliches Mandat wahrzunehmen und dabei oft ohne Bedenken und nur mit rhetorischer Phraseologie bemäntelt und mit der Zustimmung der eigenen Parteigänger eine Doppelmoral praktiziert, die ihn nur noch zusätzlich schädigt. Man sollte freilich die allgemeine Umschrift „der Staat“ auflösen und dabei stets an die jeweiligen Repräsentanten des Staates, die Politiker und die politische Klasse, denken. Sie versehen den Staat mit jenem Allmachtsanspruch, der die Gesellschaft in wichtigen Fragen von individueller Betroffenheit oft gering oder geringfügig erscheinen lässt. Die repräsentative Demokratie ist kein Freibrief für eine je vierjährige Entmündigung, wie das vielleicht die politische Klasse wünscht, von deren intellektueller Sensibilität man derzeit keine große Meinung haben muss.
Ich möchte letztlich noch mit einigen Beispielen bei dem bleiben, was ich Doppelmoral nenne oder was man schlichter als Lauterkeitsdefizit kennzeichnen könnte. Man denke nur an die zahllosen Reglementierungen, die scheinbar um das gesundheitliche Wohl und Wehe der Bürger besorgt sind. Die Branntweinsteuer, die Flottensteuer, heute besser unter dem Namen Sektsteuer bekannt, und jüngst die Tabaksteuer kamen alle mit einem moralischen Besorgheitstrauma daher. Die Tabaksteuer ist dann angesichts des hohen Verwaltungsaufwands und des dazu im Vergleich zu geringen Steueraufkommens aus der parlamentarischen Diskussion entschwunden. Mit einem Mal war die Gesundheit nicht mehr der wahre Anlass, Steuerpolitik hatte sich demaskiert, hatte den schönen Schein einer hehren Gesinnung abgelegt.
Schnelle Hochrechnungen verbieten sich
Besonders empört, emotional und moralisch aufgeladen sind die Auseinandersetzungen dagegen um das Spiel, vor allem um das nichtstaatlich organisierte Unterhaltungsspiel, obwohl zahlreiche Publikationen vorliegen, die eigentlich Ordnung in die Argumente hätten bringen können. So wird in jüngster Zeit, vom wem und mit welch hintersinnigen Absichten auch immer, eine Diskussion um die Gefährdung durch die so genannten nichtstoffgebundenen Süchte, hier die Spielsucht, erneut angefacht. Es ist schon seit den beginnenden neunziger Jahren unstreitig, dass es das Krankheitsbild „Spielsucht“ gibt, aber es ist gleichzeitig ebenso unstreitig, dass es aus einem multifaktoriellen Bedingungsgefüge der individuellen Biografie zustande kommt und dass die Therapie ein Gegenstand der wissenschaftlich begründeten Verhaltenstherapie sein sollte. Strittig mag die Zahl der belasteten Spieler sein, schnelle Hochrechnungen verbieten sich ebenso wie die scheinheilige Absicht, das Spiel in die ausschließliche oder vorrangige Zuständigkeit des Staates zu übertragen.
Was man seit Dostojewski wissen sollte
Man sollte zunächst einige einfache Tatbestände zur Kenntnis nehmen: Spielen ist eine Kulturtechnik; Spielen ist Ausdruck des menschlichen Lebensstils; der Mensch ist ein homo ludens, also auch ein spielender Mensch; dass es exzessives Spielen gibt, sollte man spätestens seit Dostojewski wissen. Ferner gehört es zur Bestimmung des Menschen, über sich und seine Gewohnheiten zu entscheiden, solange andere dadurch nicht geschädigt oder beeinträchtigt werden. Und was schließlich würde nahe legen, das Spielen in die Zuständigkeit des Staates zu verlagern, ihm ein Wächteramt zuzumessen, wo er doch selbst am Spielen etwa in Spielcasinos nicht eben wenig verdient?
Ganz offen und schonungslos gefragt: Was unterscheidet das Spielen in staatlicher Zuständigkeit und das in gesellschaftlicher Selbstverantwortung in ihrer moralischen Qualität? Dem Staat kommt per se keine moralische Höherrangigkeit gegenüber der gesellschaftlichen Selbstregulation zu. Dieses Votum entbindet uns freilich nicht davon, Gefahren zu erkennen und gesetzliche Regelungen zu achten. Also, so unschön der Begriff auch klingen mag, man sollte sich auf eine „regulierte Selbstregulation“ einrichten.