Drinnen und draußen
Moderne Gesellschaften erzeugen notwendigerweise eine Gruppe von Menschen, die keinen Platz in der Gesellschaft finden, schrieb der polnisch-britische Soziologe Zygmunt Bauman in seinem Buch Verworfenes Leben. Diese Personen bezeichnet er als „menschlichen Abfall“. Dass auf diese These eine große öffentliche Entrüstung folgte, verwundert nicht, wenngleich diese Aufregung angesichts alltäglicher entwürdigender Äußerungen wenig glaubhaft ist. So sprach Guido Westerwelle von „spätrömischer Dekadenz“ bei Hartz-IV-Empfängern, und Thilo Sarrazin empfahl ihnen, sich eben einen „dicken Pullover“ anzuziehen, wenn es angesichts der knappen Heizkostenpauschale in der Wohnung einmal kalt würde. Auch wie mit Hartz-IV-Empfängern umgegangen wird, macht die Entrüstung über Baumanns These nicht verständlicher. Denn wie Müll aus den Augen derjenigen, die ihn produzieren, an den Stadtrand gebracht wird, werden auch die SGB-II-Bezieher infolge exorbitant steigender Mieten einerseits und einem begrenzten Mietzuschuss andererseits faktisch am Stadtrand endgelagert.
Überflüssig trotz Fachkräftemangel?
Der Begriff des menschlichen Abfalls muss also aus einem anderen Grund aufregen: Abfall kann es nur dort geben, wo er von jemandem produziert wird. Das würde bedeuten, dass die Gruppe des „menschlichen Abfalls“ das Produkt derjenigen Bevölkerungsteile ist, die zur Gesellschaft gehören. Wer aber möchte schon mit einem solchen Vorwurf leben? Schließlich könne niemand etwas dafür, wenn arbeitslose Transferleistungsempfänger nicht in der Lage seien, sich anzustrengen und anzupassen, lautet die Entschuldigung. Doch moderne Gesellschaften produzieren immer mehr Menschen, die dauerhaft nutzlos und überflüssig sind. „Überflüssig zu sein bedeutet, überzählig und nutzlos zu sein, nicht gebraucht zu werden“, so Bauman. Wie kann es in Zeiten eines angeblichen Fachkräftemangels in Deutschland überhaupt zu solcher Überflüssigkeit kommen?
Denn zunächst erscheinen die statistischen Zahlen recht erfreulich. Mit knapp 42 Millionen Personen besteht derzeit die höchste Erwerbsbeteiligung, die je in der Bundesrepublik gemessen wurde. Erst der zweite Blick zeigt, um welche Art von Arbeit es sich handelt. Dem Statistischen Bundesamt zufolge ging die Anzahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten zwischen den Jahren 1996 und 2011 von 24,6 auf 23,6 Millionen zurück. Zugleich hat sich die Anzahl der atypischen Beschäftigungen von 1 Million auf 2,6 Millionen mehr als verdoppelt. Auch die Leiharbeitsverhältnisse stiegen seit 2006 von 562 000 auf 775 000 an. De facto geht die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden seit 1991 kontinuierlich zurück – ein signifikanter Trend ohne Ausnahmen.
Verwunderlich bleibt, wie eine Viertelmillion Personen, die von der Bundesagentur für Arbeit als Hochqualifizierte und Fachkräfte eingestuft werden, trotzdem arbeitslos sein können. Würde es tatsächlich an Fachkräften mangeln, wäre doch anzunehmen, dass die Unternehmen versuchen, dieses Potenzial an qualifizierten Arbeitslosen zu nutzen. Zudem würde die Anzahl an festen Arbeitsverhältnissen steigen und die Zahl der arbeitslosen Hochqualifizierten sinken. Beides ist jedoch nicht der Fall. Die Deutsche Bahn kann derzeit beispielsweise ihren Bedarf an Arbeitskräften nach eigenen Angaben – abgesehen von unternehmensspezifischen Jobs wie beispielsweise Lokführern – am Markt decken. Ähnliches gilt für den deutschen Stahlriesen ThyssenKrupp. Das Angebot an Arbeitskräften ist momentan so groß, dass Arbeitgeber auf geeignete Fachkräfte verzichten. Das tun sie regelmäßig dann, wenn die Bewerber nicht dem gängigen Schönheitsideal entsprechen, einen falschen – insbesondere ausländischen – Namen tragen oder dem falschen Geschlecht angehören. Eine Vielzahl von Studien weist nach, dass diesen Menschen der Zugang zum Arbeitsmarkt erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht wird. Dies ist vor allem bei sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen der Fall. Die Hamburger Professorin für Betriebswirtschaftslehre Sonja Bischoff verweist in ihren Untersuchungen darauf, dass die äußere Erscheinung von Menschen entscheidend dafür ist, ob sie einen Job bekommen. Qualifikation ist somit keineswegs das ausschlaggebende Kriterium zur Stellenbesetzung. Das zeigt sich nicht zuletzt an dem eklatanten Mangel von Frauen in qualifizierten Positionen trotz besserer Ausbildung.
Der Deutsche Gewerkschaftsbund weist in der Studie „Vollzeitbeschäftigung mit Berufsausbildung im Niedriglohnsektor“ nach, dass ein Fünftel der Beschäftigten im Niedriglohnbereich, wo üblicherweise schlecht oder nicht ausgebildete Personen tätig sind, eine Berufsausbildung besitzt. Der gängige Slogan „Bildung lohnt sich“ erscheint vor diesem Hintergrund durchaus fragwürdig.
Hier zeigt sich des Pudels Kern: In vielen Fällen verzichten Unternehmen auf qualifizierte Arbeitskräfte – ein Beleg dafür, dass es einen grundsätzlichen Fachkräftemangel nicht gibt. „Unser Planet ist überfüllt“, sagt Zygmunt Baumann. Das heißt nun keineswegs, dass es nicht an einzelnen Stellen zu Engpässen des Fachpersonals kommen kann. Doch nur weil es in einer Region an bestimmten Fachkräften hapert, begründet das noch keinen Mangel im Allgemeinen. Vielmehr muss hier von einem Passungsproblem gesprochen werden. Dies trifft gerade auf Ingenieure oder Informatiker zu, was lange Zeit jedoch vollkommen anders war.
Wer als Fachkraft gilt, hängt von Zufällen ab
„Fachkraft“ ist heute also nicht, wer als hoch qualifiziert gilt, sondern allein wer ökonomisch verwertbar ist. In einer Zeit, in der alles anhand ökonomischer Maßstäbe gemessen wird, gibt es unweigerlich Menschen, die nach diesen Kriterien nicht verwertbar sind. Mag auch die Formulierung der Überflüssigen drastisch klingen, so weist sie doch auf das wesentliche Problem des Konzepts vom Fachkräftemangel hin und bringt einen der zahllosen inhärenten Fehler einer derart ökonomisierten Gesellschaft zum Ausdruck. Wer in der Gesellschaft als Fachkraft erscheint, entscheidet sich eben nicht mehr nach der Fachkompetenz, sondern ist ausschließlich abhängig von volatilen Zuschreibungen anderer. Und weil die Nachfrage schwankt, kann es buchstäblich jeden treffen.
Aufgrund der rein ökonomischen Orientierung verläuft die Scheidelinie in der modernen Gesellschaft zwischen denen, die dazugehören und denen, die überflüssig sind, entlang ihrer Verwertbarkeit. Um zu erkennen, dass es begriffsnotwendig Verlierer geben muss, wenn es Gewinner gibt, muss man kein Marxist sein. Und die Menschen, die drinnen sind, bedürfen der Überflüssigen, die draußen sind – und dies am besten auch bleiben. Studien wie die unlängst von der Bertelsmann Stiftung vorgestellte Untersuchung „Mittelschicht unter Druck?“ zeigen, dass besonders die Mittelschicht Angst vor dem Jobverlust und dem damit verbundenen sozialen Abstieg zum „menschlichen Abfall“ hat. Ganz gleich, ob begründet oder nicht. Deshalb eignet sich der menschliche Abfall, um eine Drohkulisse aufzubauen. Denn wer Angst hat, wird selbstverständlich jede Dreistigkeit seines Arbeitgebers hinnehmen, um nur ja drinnen zu bleiben. Außerdem wird er die Scheidelinie zementieren helfen, die ihn drinnen bleiben lässt und das System erhält.
Eine übliche Praxis ist es, immer neue Qualifikationsniveaus als Zugangskriterien zu Arbeitsstellen zu erfinden. Auf diese Weise lässt sich der Bewerberkreis klein halten. Und wer den neuen Anforderungen nicht gerecht wird, ist selbst schuld. Dabei sollten sich diejenigen, die drinnen sind, einmal fragen, ob sie nach den heute geltenden Maßstäben die Stelle, die sie bekleiden, noch einmal bekommen würden. Das dürfte bei wenigen der Fall sein. Sind sie deswegen unqualifiziert? In den meisten Fällen sicherlich nicht. Doch warum erhöhen sie dann die Zugangsbedingungen für andere?
Die Antwort macht deutlich, welche Funktion die für nutzlos erklärten Menschen erfüllen: Je starrer die Gruppe derjenigen ist, die draußen sind, desto sicherer fühlen sich die anderen. Der Zweck des menschlichen Abfalls in einer volatilen Welt ist es, die Grenzen zwischen drinnen und draußen zu ziehen. Eine andere Erklärung lässt sich angesichts der Anzahl hoch qualifizierter Hartz-IV-Empfänger in Kombination mit dem angeblichen Fachkräftemangel nicht finden.
Diese starre Trennung der Gesellschaft erzeugt dauerhafte Ungleichheit. Mit fatalen Folgen: Der Preis der Ungleichheit liegt nämlich, dem gleichnamigen Buch des Nobelpreisträgers Joseph E. Stiglitz zufolge, in der Destabilisierung des Rechtsstaats. Und die Ungerechtigkeit zerstört den sozialen Frieden. Aufschlussreich ist hierzu ebenfalls die neue Studie Die neue Umverteilung des Sozialhistorikers Hans-Ulrich Wehler, in der dieser einen sozialen Konzentrationsprozess konstatiert, „der die elitäre Schließung hin zu einer verblüffenden Homogenisierung vorangetrieben hat, die das Schlagwort von der offenen Leistungsgesellschaft dementiert“.
Die Machtlosigkeit der Ausgeschlossenen
Zu einer entwickelten und stabilen Gesellschaft gehört, dass sich nicht eine Gruppe auf der anderen ausruht. Doch genau das geschieht dort, wo in großem Stil Menschen für nutzlos erklärt werden. Da hilft es auch nichts, wenn man den selbst produzierten menschlichen Abfall für die Zumutung des dauerhaften Ausschlusses aus der Gesellschaft mit lächerlichen Almosen ruhig zu halten versucht. Genauso wenig kann es das Ziel sein, sich selbst einzureden, jeder habe die gleichen Chancen und sei somit des eigenen Glückes Schmied.
Solange man jeden Wert als ökonomischen Wert begreift, wird es zu keiner gerechten, stabilen und vor allem gesunden Gesellschaft kommen. „Macht kommt nicht aus Gewehrläufen, sondern aus Institutionen“, schrieb der amerikanische Philosoph John Searle. Gegen die Macht derjenigen, die drinnen sind und die Institutionen beherrschen, kommen die von draußen nicht an. Das daraus resultierende Gefühl der Machtlosigkeit schafft einen Nährboden für Gewalt, wie sie in den Banlieues von Paris, den Vororten Londons und an immer mehr Orten auf der Welt bereits zu beobachten ist. Diesen Zusammenhang mussten diejenigen, die drinnen sind, immer erst durch Revolutionen erlernen. Doch zu mehr als kleinen Unruhen wird es nicht mehr kommen. Denn heute sind diejenigen, die draußen sind, flächendeckend mit Flachbildfernsehern und Computerspielen versorgt.