Durch die Angstmauer ins Freie

Noch immer ist man sich im Westen unschlüssig darüber, was vom arabischen Aufstand zu halten ist. Volker Perthes’ neues Buch schafft Klarheit

Noch immer ist man sich im Westen unschlüssig darüber, was vom arabischen Aufstand zu halten ist. Volker Perthes’ neues Buch schafft Klarheit

„Der Aufstand der Menschen in der arabischen Welt muss als ein historisches Großereignis begriffen werden, das von seiner Bedeutung her mit der Zeitenwende von 1989 in Mittel- und Osteuropa vergleichbar ist.“ (Volker Perthes)

Das Epizentrum des arabischen „Aufstandes“ – der Begriff, den Volker Perthes bevorzugt, um den arabischen Frühling zu beschreiben – lag in Tunesien. Die Auswirkungen des Bebens auf die anderen arabischen Länder fielen sehr unterschiedlich aus. In Ägypten gelingt es den Revolutionären, das Mubarak-Regime innerhalb von 18 Tagen zu stürzen; in Libyen eskaliert die Revolte schnell zu einem Bürgerkrieg; in Bahrain wird der Aufstand brutal niedergeschlagen; im Jemen gibt es eine Mischung aus friedlichen und gewalttätigen Protesten, ohne dass in dem zerrissenen Land ein neuer Aufbruch erkennbar wäre; in Syrien schließlich erschrecken uns nun bereits seit zehn Monaten die blutigen Bilder der Gewalt, mit der das Assad-Regime gegen die eigene Bevölkerung vorgeht.

Wie es binnen weniger Wochen dazu kam, obwohl kaum jemand eine arabische Revolution erwartet hatte, ist nach wie vor eine offene Frage. Die westliche Politik wurde vollständig überrascht und hat bis heute keine klare, einheitliche Linie entwickelt. Nach wie vor schwankt sie zwischen dem Lob für die Revolution und der Angst vor einer Destabilisierung. Volker Perthes leistet hier wertvolle Aufklärungsarbeit. Als einer der profiliertesten deutschen Nahostkenner stellt er die komplexen Bündel von Ursachen für den arabischen Aufstand detailliert dar. Er geht auf einzelne Ereignisse ein, die zu Auslösern wurden. So war die Selbstverbrennung des tunesischen Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi in Tunesien zwar der Funke, der die Proteste in der arabischen Welt entzündete. Jedoch bleibt für Perthes die demografische Entwicklung in der Region „die wichtigste erklärende Variable für den Umbruch“. Für ihn ist der arabische Aufstand in erster Linie „ein Aufstand der Jugend“.

Wer die Rolle dieses wichtigsten Akteurs verstehen will, findet in Perthes’ Buch Statistiken, die alarmierend sind. Die arabische Welt ist jung. 65 bis 75 Prozent der arabischen Bevölkerung sind unter 35 Jahre alt. Sie haben einen besseren Zugang zu Bildung als die Generation ihrer Eltern, sie bewegen sich im Internet, sie sind vernetzt und globalisiert. Im Netz genießen sie eine virtuelle Freiheit, die im wahren Leben nicht existiert. Die arabischen Länder werden autoritär regiert. Ein fragiles, von religiöser und politischer Zerrissenheit bedrohtes demokratisches System existiert nur im Libanon, im Irak und in den palästinensischen Gebieten.

Die ausgebildete und selbstbewusste junge Generation ist mit der alles beherrschenden Korruption der Herrschaftssysteme konfrontiert. Nicht nur in ihrem Lebensalltag beobachten sie die Missstände, sondern auch im Internet, wo über Wikileaks zahlreiche entlarvende Dokumente einsehbar sind. Diese Jugendlichen – und das ist eine neue Qualität – sind keine isolierten Individualisten oder Hedonisten mehr. Zugleich gehen sie aber nicht den traditionellen Weg in die Politik. Gleichgesinnte finden und organisieren sich eher auf Facebook als in politischen Parteien. Dort führen sie politische Debatten, die durchaus ihre Freiheit gefährden. Blogger wurden vom Geheimdienst und von der Polizei beobachtet und festgenommen, sogar umgebracht, wie im Fall des ägyptischen Bloggers Khaled Said.

Die Despoten reagierten immer falsch und mit Verzögerung

Diese neue politische Generation wächst außerdem in einem kapitalistisch-korrupten Wirtschaftssystem auf. Trotz guter Ausbildung finden die jungen Menschen häufig keine Jobs. Viele haben keine Möglichkeit zum sozialen Aufstieg. Ausbildung, Fähigkeiten und politisches Bewusstsein werden von den politischen und sozio-ökonomischen Umständen blockiert und frustriert. Eine typisch „revolutionäre“ Situation, die Perthes klar analysiert.

Diese Generation schrie nun „Würde“, „Freiheit“, „Gerechtigkeit“. Sie mobilisierte den Aufstand ohne Führer und ohne Ideologie – und überraschte die ältere Generation in ihrer Heimat. Die Despoten reagierten immer falsch und mit Verzögerung auf die Forderungen der Aufstände. In mehreren Ländern wurden die Proteste als „Brotaufstände“ gesehen. Rasch senkten Despoten die Lebensmittelpreise und führten Subventionen wieder ein, die vorher abgebaut worden waren. Dies war allerdings eine kurzsichtige und patriarchalische Fehlinterpretation der Ereignisse. Ben Ali in Tunesien und Mubarak in Ägypten hielten Reden an ihre Bevölkerungen, in denen sie sich noch einmal als Väter der Nation in Szene setzen wollten, aber nur bestätigten, dass sie den Bezug zur Realität verloren hatten.

Wie sieht ein Jahr nach Beginn des arabischen Aufstands die Bilanz aus? Drei Despoten wurden gestürzt: Ben Ali lebt im saudischen Exil. Informationen über ihn werden als saudi-arabisches Staatsgeheimnis behandelt. Mubarak saß zunächst in seiner Villa in Sharm El Sheikh, bis die Revolutionäre den Druck auf den ägyptischen Militärrat so sehr erhöhten, dass er mit seinen beiden Söhnen verhaftet und angeklagt wurde. Gaddafi wurde nach einem monatelangen blutigen Bürgerkrieg von einem Rebellenkommando brutal umgebracht. Die künftigen Machtverhältnisse in Libyen sind offen. In Tunesien, Marokko und Ägypten fanden freie Wahlen statt. In allen drei Ländern gewannen die Islamisten. Nicht nur im Westen, auch in den betroffenen Ländern ist die Unsicherheit groß, ob es zu einer Führung radikalreligiöser Kräfte kommt. Scheitert aber die arabische Revolution, dann scheitert mehr als nur die Hoffnung der arabischen Jugend.

Aus Perthes’ Sicht ist der arabische Aufstand eine große Herausforderung für Europa, das „sein Verständnis von Stabilität neu bestimmen“ müsse. Viele europäische wie amerikanische Entscheidungsträger hätten „Stagnation mit echter Stabilität verwechselt“. Die autoritären Regime waren aber nicht stabil. Sie haben ihre Länder mit einer Mischung aus politischer Unterdrückung und kapitalistischer Rücksichtslosigkeit blockiert, korrumpiert, sozial gespalten – und so die Stabilität gefährdet. Perthes’ hellsichtige Beobachtung, die der jungen arabischen Generation aus dem Herzen spricht, sollte eine Mahnung an die europäische Außenpolitik sein.

Kann die Demokratie Wurzeln schlagen, oder kippt die Entwicklung?

Wo liegen die eigentlichen europäischen Interessen angesichts einer neuen globalen Machtverteilung? In seinem Schlusswort zieht Volker Perthes einen guten Vergleich. Der arabische Aufstand sei eine Gegenthese zum autoritär-kapitalistischen Modell Chinas, das von nicht wenigen Beobachtern schon als zukunftsträchtiger für die arabische Welt gehalten wurde als das demokratisch-marktwirtschaftliche Modell Europas. Perthes zeigt: Die junge arabische Generation fand in einem „autoritären Wachstumskapitalismus“ keine Orientierung.

Der arabische Aufstand ist eine unvollendete Revolution. Wir haben das erste Kapitel erlebt, ohne sicher sein zu können, wie das nächste Kapitel endet. Wird eine arabische, vielleicht islamisch geprägte Demokratie Wurzeln schlagen? Oder kippt die Entwicklung in wirtschaftliche Not, in politische Radikalisierung und neue Unterdrückung? Es werden Jahre vergehen, vielleicht Jahrzehnte, bis sich ein neues System etabliert. Klar aber ist, dass die „Angstmauer“ (Perthes) durchbrochen wurde und dass die arabische Jugend wieder bereit sein wird, auf die Straße zu gehen, wenn sich das politische System nicht öffnet und demokratisiert, Korruption nicht bekämpft wird und „Würde, Freiheit und Gerechtigkeit“ nicht gewährleistet werden.

Volker Perthes, Der Aufstand: Die arabische Revolution und ihre Folgen, München: Pantheon Verlag 2011, 224 Seiten, 12,99 Euro


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