Effizienz und Gerechtigkeit
Nach einer neuen Studie der Universität Duisburg-Essen bekommen in Deutschland mehr als zwei Millionen Beschäftigte einen Stundenlohn von weniger als sechs Euro brutto. Auf der anderen Seite der Gehaltsskala nimmt Larry Ellison, der Chef der Software-Firma Oracle, den weltweiten Spitzenplatz auf der Einkommensrangliste der Top-Manager ein: Laut Wall Street Journal erhielt er in den vergangenen zehn Jahren durchschnittlich rund 184 Millionen Dollar pro Jahr. Und der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank, Josef Ackermann, verdiente zuletzt 9,6 Millionen Euro pro Jahr.
Viele Jahre fand das Thema Einkommensverteilung kaum Beachtung. Doch in jüngster Zeit häufen sich Medienberichte über das Auseinanderklaffen von Arbeitseinkommen. Und auch die Wissenschaft befasst sich wieder vermehrt mit Verteilungsfragen. Das Buch Gleichheit ist Glück von Richard Wilkinson und Kate Pickett, dem die Berliner Republik im letzten Heft einen Schwerpunkt widmete, dürfte die Diskussion über die Folgen der Einkommensungleichheit weiter anheizen. Eine Debatte, die gerade auch in Deutschland notwendig ist. In keinem anderen Land der OECD hat sich die Ungleichheit in den vergangenen Jahren so stark erhöht wie hierzulande –wenn auch von einer im internationalen Vergleich durchschnittlichen Basis aus.
Ebenso wie „Gerechtigkeit“ ist Gleichheit ein normativer Begriff, um dessen Deutung und politische Verwirklichung seit langem intensiv gerungen wird. Der herrschende Konsens in Deutschland besagt, dass Gleichheit zuvorderst Chancengleichheit bedeutet. Wilkinson und Pickett geht es in Bezug auf die Einkommen dagegen nicht um eine Gleichheit der Chancen, sondern um tatsächliche Gleichheit im Ergebnis. Ihnen zufolge profitieren davon Arme und Reiche in einer Gesellschaft gleichermaßen.
Das ist überraschend. Traditionell gilt die Ungleichheit der Einkommen als Voraussetzung für Wettbewerb, Innovationen und Wachstum. Besonders Ökonomen betonen ihre Vorzüge: Das Versprechen, zu den Besserverdienenden aufsteigen zu können, treibe die Angehörigen der Unter- und Mittelschicht zu Anstrengung an. Die Hoffnung der Geringverdiener, dass sie oder ihre Kinder „es eines Tages besser haben“, ist der Grund dafür, warum auch viele Angehörige der Mittel- und Unterschicht gegen höhere Steuern und andere Umverteilungsmaßnahmen sind.
Dieses Funktionsprinzip wird jedoch unglaubwürdig, wenn die Unter- und Mittelschichten ihre materielle Situation über längere Zeit nicht verbessern können. Der aktuelle Verlust an Vertrauen in die marktwirtschaftliche Ordnung und in die demokratischen Instanzen in Deutschland hat seine Ursachen auch im Rückgang der Realeinkommen vieler Arbeitnehmer und im Mangel an Aufstiegsperspektiven. Zwar kann der Einzelne im Einkommensgefüge weiterhin relativ zu anderen aufsteigen. Aber die materielle Verbesserung aller sozialen Schichten kann nur absolut erfolgen, indem das Durchschnittseinkommen einer Gesellschaft ansteigt.
Hier liegt aus meiner Sicht der dialektische Kern der Argumentation von Wilkinson und Pickett. Die Autoren lassen die Warnung der Ökonomen, dass Einkommensgleichheit negative Anreize schafft und dadurch Stagnation droht, einfach ins Leere laufen, indem sie diese Folgewirkungen gleichsam zum Ziel erheben. Ihrer Ansicht nach ist weiteres Wirtschaftswachstum ohnehin unmöglich, da wir an unsere Ressourcengrenzen stoßen. Während für die Klassiker der politischen Ökonomie von Adam Smith bis hin zu Karl Marx ökonomische Stagnation noch ein Menetekel darstellte und auch die moderne Wirtschaftswissenschaft Wachstum als zu maximierende Zielgröße versteht, sehen Wilkinson und Pickett in der Stagnation die Lösung aller Probleme. Herzinfarkte, Teenager-Schwangerschaften und Kriminalität korrelieren ja allesamt negativ mit Einkommensungleichheit. Wenn die Einkommen gleich verteilt sind und der Wachstumszwang verschwindet, so ihre Interpretation, entlastet das nicht nur die Umwelt, sondern auch die Menschen, die heute ihrer Einkommensvermehrung und der Absicherung ihres sozialen Status zu viel Kraft opfern. So sympathisch diese Ansichten, die ähnlich auch die ökonomische Glückforschung vertritt, auch sein mögen – es gilt die Folgen zu berücksichtigen, die eine massive Umverteilung beziehungsweise ein nachhaltiger Eingriff in den Preisbildungsmechanismus hätten: Was genau passiert eigentlich, wenn man die Einkommen einander angleicht? Und mit welchen Instrumenten erreicht man dieses Ziel? Mit diesen zentralen Fragen beschäftigen sich die Autoren leider nur am Rande.
Unter Ökonomen ist die Auffassung verbreitet, der Staat möge in die Entstehung der Markteinkommen möglichst wenig eingreifen, weil sonst negative Anreize entstehen und die Effizienz der marktwirtschaftlichen Prozesse leidet. Stattdessen müssten gesellschaftlich unerwünschte Marktergebnisse mit Umverteilungsinstrumenten wie Steuern oder Transfereinkommen korrigiert werden. Weniger einig ist sich die Wissenschaft allerdings über das notwendige Ausmaß der Umverteilung. Schließlich muss dabei der Zielkonflikt zwischen Gleichheit und Effizienz berücksichtigt werden. In der ökonomischen Theorie ist der optimale Punkt dann erreicht, wenn die Wohlfahrtsgewinne aus größerer Gleichheit den Wohlfahrtsverlusten aufgrund weniger Effizienz entsprechen. In der Praxis ist dieser Punkt jedoch aus verschiedenen Gründen überhaupt nicht zu bestimmen. Zur Lösung dieses Problems trägt das vorliegende Buch leider nichts bei. Im Gegenteil stellen die Autoren sogar die kühne Behauptung auf, es sei im Prinzip egal, ob Egalität über die Primär- oder die Sekundärverteilung hergestellt wird. Dabei sind die Folgen, die sich durch staatliche Eingriffe in den Preisbildungsprozess ergeben können, aller ökonomischen Kenntnis nach in der Regel deutlich größer als reine Umverteilungsmaßnahmen.
Das Ziel, eine gleichmäßigere Einkommensverteilung zu erreichen, mag man aus vielen Gründen für erstrebenswert halten. Doch ohne genaue Kenntnis des Weges kann es niemals erreicht werden. Daher wäre zunächst eine detaillierte Analyse aller einzusetzenden „Gleichheitsmaßnahmen“ notwendig, die wiederum auf einer fundierten ökonomischen Theorie basieren müsste. Ohne diese bleibt der Ansatz von Wilkinson und Pickett nichts als eine Ansammlung von interessanten und gelegentlich verblüffenden Beobachtungen. Frei nach Kurt Tucholsky gilt: Gut gemeint, ist nicht immer gut gemacht. «