Ein Alarmsignal für die Union
Fünfzehn Jahre nach dem Fall der Mauer und dem überwältigenden Bekenntnis der Ostdeutschen zu der einen, ungeteilten Nation beginnt in Deutschland eine verspätete Debatte über den Patriotismus. Aber sie wird nicht von denen geführt, die sie häufig annonciert haben, von den bürgerlich Konservativen, sondern von denen, die sie immer für obsolet hielten, den deutschen Linken. Der Bremer Historiker Paul Nolte spricht inzwischen schon von einer linken Aneignung der deutschen Nationalgeschichte, von einer Bemächtigung durch ein Gefühl für die eigene Herkunft, das den deutschen Linken traditionell eher fremd war. Das ist eine bemerkenswerte Verkehrung der alten Fronten. Die verlorenen Söhne und Töchter von Achtundsechzig finden nach Hause zurück und besetzen das Feld der nationalen Geschichtspolitik; sie ringen mit der Frage nach der kollektiven Identität und versöhnen sich mit ihrer Republik. Wie ein psychischer Gezeitenwechsel erschien das dem Historiker Hans-Ulrich Wehler.
Im Gegenzug dazu fühlen sich die bürgerlich-konservativen Kreise plötzlich heimatlos gemacht. Das Wendejahr 1989 und der Fall der Mauer war eigentlich ihr großer historischer Triumph gewesen. Aber sie wohnen der Berliner Republik seither auffallend missmutig, fast randständig bei. Die Konservativen sind es heute, die auf Distanz zu ihrem Land gehen, und ihre lieblos technokratische Reformrhetorik erinnert in Ton und Diktion fatal an die kalte linke Systemkritik vergangener Jahre. Sie sprechen von deformierter Gesellschaft (Meinhard Miegel), von einer Republik ohne Kompass (Hans-Peter Schwarz); sie zweifeln, ob Deutschland überhaupt noch zu retten sei (Hans-Werner Sinn) oder konstatieren kurzerhand den Abstieg des einstigen Superstars (Gabor Steingart).
Der deutsche Selbsthass, ehedem ein Wesenszug der Linken, ist auf die bürgerliche Seite übergewechselt und bedient sich dort der sattsam bekannten Instrumente der Publikumsbeschimpfung, der demonstrativen Abscheubekundungen. Kein Wunder also, daß die bürgerlichen Parteien ihr eigenes Stichwort Patriotismus bis heute nicht mit Inhalt und Leben füllen konnten. Die Linken machen sich und ihrem Land dagegen Mut und erzählen sich optimistische Geschichten aus ihrer verzagten Republik. “Kopf hoch, Deutschland” (Hajo Schumacher) heißt ihre Losung, und sie schrecken auch vor dem Wort Vaterlandsliebe nicht mehr zurück, das man nach der deutschen Katastrophe nie mehr in den Mund zu nehmen wagte.
Mancher Konservative träumt von Amerika
Das mag Zweckoptimismus inmitten einer verfallenden Regierungskoalition sein. Und es wäre fatal, wenn sich dieses Land vorschnell in Sicherheit wiegen würde, wo doch seine Strukturprobleme und sein Trauerplatz am unteren Ende der europäischen Wachstumsskala offenkundig sind. Aber es fällt doch auf, dass sich bei der deutschen Linken, die der Wiedervereinigung einst ablehnend gegenüberstand, heute ein Begriff von der eigenen Nation zu entwickeln beginnt, der den Konservativen verloren geht. Denn die wissen mit der wieder gewonnenen deutschen Einheit intellektuell kaum etwas anzufangen. Es scheint, als würde bei den Linken eine Debatte über Deutschland und Deutschsein nachgeholt, die nach 1989 nicht geführt wurde – so jedenfalls registriert, fast ungläubig, der sozialdemokratische Kanzleramtsminister Frank-Walter Steinmeier das Phänomen. Der historischen Rückerkundung des eigenen Lebens, die in den letzten Jahren zum herausragenden Motiv in der deutschen Literatur und im deutschen Film geworden ist, können die Konservativen nur einen dürren Patriotismus der Zukunftsgestaltung (Paul Nolte) entgegensetzen, der in der Regel in jenen geschichtslosen Reformismus mündet, der dem bürgerlichen Denken heutzutage eigen ist. Am liebsten hätte er eine Gesellschaft wie in Amerika, hat Friedrich Merz unlängst sogar bekannt und damit seiner Sehnsucht nach der Ersatzheimat in Übersee freien Lauf gelassen.
Wie das Traditionsgut geborgen werden soll
Deutschland bleibt als weißer Fleck auf dieser Gefühlslandkarte zurück, den jetzt die Linken mit Lust zu erkunden beginnen. Für sie hat Eckhard Fuhr gewissermaßen den Reiseführer geschrieben. Schon dessen Titel Wo wir uns finden, einem einst viel gesungenen, heimatsüßen Volksliedvers entnommen, macht deutlich, was der Autor vorhat: das herrenlos gewordene deutsche Traditionsgut und Nationalbewusstsein für eine ideologisch verunsicherte Linke zu bergen und der Ära Schröder als historische Sinnstiftung zu überantworten; dies gewissermaßen als dritter Gründungakt der Republik – nach der Etablierung der Bonner Westrepublik durch Adenauer, ihrer gesellschaftlichen Umwälzung durch die Achtundsechziger und schließlich deren Aussöhnung mit dem befriedeten deutschen Nationalstaat in Berlin.
Das ist ein waghalsiges Unternehmen. Aber während die früheren Annäherungsversuche der nachkriegsdeutschen Linken an den Patriotismus (bei Kurt Schumacher, bei Rudi Dutschke, bei Martin Walser) eher Randerscheinungen waren, korrespondieren sie diesmal mit einer gesellschaftlichen Grundströmung, die sich noch nicht entschieden hat, in welches politische Flussbett sie eines Tages münden wird.
Fuhr beschreibt diese Grundströmung sehr genau, aber er nimmt sie auch ideologisch in Beschlag. Ihm geht es weniger um die Darstellung eines historischen Vorgangs, als um die Frage, welche Partei ihn moderiert und womöglich eines Tages auch davon profitiert. Es wäre also naiv zu glauben, dass sich auf diesem Wege die intellektuelle Annäherung der politischen Lager auf der Grundlage wertkonservativer Vorstellungen vollziehe. Denn es ist schon eindeutig, von welcher politischen Position aus Fuhr operiert: Es geht ihm um eine genuin linke Denkbewegung, die sich als Neue Mitte versteht und die Alte Mitte damit automatisch nach rechts verschiebt. Diese Denkbewegung hat Fuhr mit vielen der von ihm zitierten Autoren gemein. Mit Jürgen Habermas oder Martin Walser; mit dem späten, sich im Krebsgang der Vertreibung nähernden Günter Grass; mit Stephan Wackwitz, dessen Romanbiografie eines unsichtbaren Landes einmal als eines der wichtigsten Bücher zu Beginn der Berliner Republik gelten wird; mit Jörg Friedrich und dem Pathos des Verlusts der deutschen Städte.
Eine gänzlich andere Sozialdemokratie
Spätestens da riskiert Fuhr den Konvertitenvorwurf. Aber er geht nicht den Weg der meisten Abtrünnigen aus dem linken Lager, die ihre ideologische Unduldsamkeit in einen doktrinären Marktliberalismus hinübergerettet haben. Fuhr sichtet lieber die nationalliberale und nationalkonservative Trümmerlandschaft und sammelt die verstreuten Spolien ein für einen linken Konservativismus, der in der deutschen Parteienlandschaft eigentlich keinen Ort mehr besitzt, den Fuhr aber der Sozialdemokratie wieder einpflanzen möchte. Es ist der Versuch, den akademischen Begriff der Neuen Mitte mit wirklichem Leben zu erfüllen und ihn über den womöglich jämmerlichen Untergang der rot-grünen Regierungspraxis hinaus zu retten: Die SPD als die kommende Partei der deutschen Selbstversöhnung.
Das ist natürlich eine gänzlich andere Sozialdemokratie als sie derzeit in rot-grüner Machtverklammerung in Erscheinung tritt und die sich ihre lange historische Tradition von Windkraftwerken und Dosenpfand verstellen lassen muss. Die Grünen wirken dabei wie eine Partei, die nicht in Würde altern kann, die lange Zeit erstaunlich abriebfest war, aber keine Patina bildete – und früher oder später doch zerkratzt erscheint. So erweisen sich die Grünen immer mehr als dialektischer Irrtum der alten SPD.
Aber auch für die Union müsste Fuhrs Buch ein Alarmsignal sein. Denn jene Säulen und Architrave, mit denen er die SPD ausstaffiert, stammen samt und sonders aus dem Baubestand der Konservativen, und es ist eben kein guter Befund, dass sie sich dort so leicht ausbauen und woanders wieder einfügen lassen. Die Reste alter Zentrumstradition plus neoliberale Reformrhetorik sind eben zu wenig, um den Anspruch der Union auf die geistige und politische Führung in einem Land zu rechtfertigen, das sich im dramatischen Übergang befindet.
Es gibt einige intellektuelle Randfiguren wie Alexander Gauland oder Arnulf Baring, wenige Parteiprogrammatiker wie Christoph Böhr, Alois Glück oder vielleicht noch Jürgen Rüttgers, die für einen eigenständigen bürgerlich konservativen Diskurs stehen. Aber die Mehrzahl in dieser Partei der deutschen Einheit weiß mit der Rolle, die ihr da zugewachsen ist, wenig anzufangen. Vor allem aber ignoriert sie, dass sich das wieder größer gewordene Deutschland nicht in die alte Nachkriegsordnung einfügen lässt, die von den Parametern der Marktwirtschaft, der Sozialgemeinschaft, der Westbindung und des transatlantischen Verhältnisses bestimmt war. Spätestens Schröders Antikriegswahlsieg von 2002 müsste der Union eigentlich gezeigt haben, wie viele freie Radikale auch in ihrem Milieu zum Tanzen kommen, wenn an die Tiefenschichten jenes deutschen Bürgertums gerührt wird, das sich nicht im Raster von christlichem Widerstand und sozialer Partizipation erfassen lässt.
Begründung eines kulturellen Neutralismus
Auch Fuhrs Argumentation bezieht ihre Kraft aus einer Urerinnerung an jenes Europa, das 1914 untergegangen war und mit der Brüsseler Welt der Kohäsionsberichte und Strukturausgleichsfonds nicht wieder erstanden ist. Zu behaupten, dass die Mutterkatastrophe des 20. Jahrhunderts nicht 1933 sondern 1914 stattfand, ist immer noch verwegen, denn es setzt die beiden Ereignisse in ein problematisches Verhältnis von Ursache und Folge. Aber es geht dabei weniger um die Vorgeschichte der eigentlichen deutschen Katastrophe; es geht vielmehr um die besondere Wahrnehmung der Zäsur des Ersten Weltkriegs, hinter der jene europäische Urbanität und Geisteswelt aufscheint, die Züge eines goldenen Zeitalters trägt.
Zur Passion der wenigen deutschen Wertkonservativen gehört, dass sie sich gerne noch auf ein Gesellschaftsbild des englischen Landadels vor der französischen Revolution beziehen, aber das 19. Jahrhundert weitgehend ignorieren, dessen große zivilisatorische Leistung in der ästhetischen Bändigung der entfesselten Kräfte der Moderne bestand. Diese Welt des europäischen Bürgertums ging 1914, nicht, wie frivole Zeitgenossen glaubten, in den reinigenden Stahlgewittern des Fortschritts unter, sondern war ein beispielloses Autodafé, von dem sich der Kontinent nie wieder erholen sollte. Für den modernen, bürgerlichen Konservativismus ist daher nicht die Französische Revolution, sondern der Erste Weltkrieg die blutige Zäsur, die entscheidende Wendemarke der europäischen Heilsgeschichte. Selbst ein Jahrhundert später geht von diesem untergegangenen bürgerlichen Europa noch so viel utopische Kraft aus, dass sich damit die erstarrten politischen Fronten überrennen lassen; weshalb es kurzsichtig wäre, die Schrödersche Außenpolitik nur unter dem Aspekt der taktischen Vorteile, der kurzfristigen Bündnisse und der Kompasslosigkeit zu betrachten. Denn sie kalkuliert mit einer mächtigen Verlusterfahrung im kollektiven Gedächtnis des Bürgertums, wie der Irak-Krieg sofort zeigte. Fuhr erweitert diesen Effekt zu einem Programm des europäischen Sonderwegs, der sich auf eine zivilisatorische Erfahrung stützt, die er den Vereinigten Staaten abspricht. Damit begründet er einen kulturellen Neutralismus, der schnell zu einem gefährlich irisierenden Gebräu wird. Denn auf sehr deutsche Weise vermischt Fuhr den liebevollen ethnografischen Blick auf die eigene Vergangenheit mit der nüchternen Bestimmung der deutschen Interessenlage und der deutschen Machtpolitik. Es ist eben genau keine Frage von kultureller Hegemonie, dass Deutschland und Europa ihren Platz an der Seite Amerikas einnehmen müssen, sondern schlicht eine des Überlebens.
Die Linke auf dem Weg in die Innerlichkeit?
Dass Fuhrs Buch offensiv zur Verwischung dieses Unterschieds beiträgt, ist politisch gewollt. Auch die deutsche Sonderwegsdebatte und der spätere Nationalneutralismus haben sich auf diese Weise kulturell ausstaffiert – mit verheerenden Folgen für die Politik. Spätestens an dieser Stelle wird schmerzhaft deutlich, warum die bürgerlichen Parteien sich schleunigst um ihr konservatives Erbe kümmern sollten, warum sie nicht zusehen dürfen, wie es zu ideologischem Treibgut wird.
Eckhard Fuhr macht den Gezeitenstrom sichtbar, auf dem diese Fracht noch ziellos schwimmt, aber er gibt ihr zusätzliche Fahrt. Sein Buch hat es wahrlich verdient, leidenschaftlichen Streit über die Frage anzustiften, wo wir uns finden. Aber doch nicht in der deutschen Innerlichkeit.
Eckhard Fuhr, Wo wir uns finden: Die Berliner Republik als Vaterland, Berlin: Berlin Verlag 2005, 156 Seiten, 18 Euro