Ein anderes Wirtschaften ist möglich
Jahrelang habe ich mich gefragt, ob die amerikanische Autorin Marjorie Kelly ein weiteres Buch schreiben werde und was dann wohl ihr Thema sein könnte. Im Jahr 2001 war ich Berater für die Entwicklung von Führungskräften. Damals half mir Kellys erstes Buch, The Divine Right of Capital, die Quellen der Dysfunktionalität klarer zu begreifen, die ich tief im Herzen moderner kapitalistischer Organisationen bereits selbst gespürt hatte. Einerseits verlangten die Chefs der Firmen, für die ich arbeitete, totale Loyalität von ihren Managern und Angestellten. Diese mussten innerhalb immer stärker ausgedünnter Strukturen immer härter arbeiten. Andererseits aber trafen dieselben Führungskräfte regelmäßig wichtige strategische Entscheidungen zugunsten von externen Shareholdern; Stellen wurden gestrichen, während sie ihre eigenen Bonuszahlungen erhöhten. Kellys erstes Buch verdeutlichte, dass sich das moderne amerikanische Unternehmertum von seinen ursprünglichen Zwecken entfernt hatte. Statt noch die sozialen und ökonomischen Bedürfnisse des Landes zu befriedigen, waren die Unternehmen zu Geiseln von Kapitaleignern und leitenden Managern geworden, die in erster Linie ihren eigenen finanziellen Interessen dienten.
Nachhaltigkeit als Firmenphilosophie
Marjorie Kellys 2012 erschienenes zweites Buch Owning our Future enttäuscht vor diesem Hintergrund nicht. Die zehn Jahre, die zwischen beiden Büchern liegen, waren für die Autorin offensichtlich eine Zeit des Lernens und Reifens. Bereits am Anfang des Bandes weckt Interesse, wie ihre Einsicht in das Funktionieren natürlicher Systeme ihr neues ökonomisches Modell beeinflusst hat. 25 Jahre lang sei ihr eine Frage im Kopf herumgegangen, die einst ihr Tutor am britischen Schumacher College aufgeworfen habe, schreibt Kelly: „Welche Art von Ökonomie ist vereinbar mit einem Leben innerhalb eines lebendigen Wesens?“ Ihr aktuelles Buch ist ein Versuch, diese Frage zu beantworten. Als „Beweismittel“ dienen Kelly dabei zahlreiche Unternehmen, die Nachhaltigkeit bereits zu ihrer Herzensangelegenheit gemacht haben.
Im Buch nutzt Kelly ein Hilfsmittel, das ich als Leser besonders schätze. Um ihre grundsätzlichen Punkte zu illustrieren, erzählt sie uns Geschichten vom Leben echter Menschen und wie es ihnen in der heutigen US-Wirtschaft ergeht. Wie in einem Dokumentarfilm begleitet der Leser die Autorin auf ihrer akribischen Suche nach der Lebenswirklichkeit der armen und mittleren Schichten. Gerade sie leiden seit 2008 am meisten unter dem Zusammenbruch des Finanzsystems.
Von diesem Punkt aus entwickelt Marjorie Kelly eine klare und anschauliche Diagnose der Auswirkungen, die die neoliberale Wirtschaftspolitik der vergangenen dreißig Jahre auf die Gesellschaft hatte. Ähnlich wie andere amerikanische Autoren – Joseph Stiglitz, Robert Reich, Chuck Collins oder Chrystia Freeland –, die im vorigen Jahr Bücher über die wachsende Ungleichheit veröffentlich haben, legt Kelly das große Missverhältnis von Einkommen und Vermögen bloß, das gegenwärtig die sehr Reichen und die Mehrheit der Bevölkerung voneinander trennt. Sie zeigt, wie Wohlstand durch das In-strument der Schulden von den Armen zu den Reichen umverteilt wird.
Zwar hält die Autorin dabei ihre Emotionen gut in Schach, aber es ist nicht schwer, ihre Wut zu erahnen, wenn sie die scheinbar unaufhaltsame Zerstörung des grand bargain beschreibt. Dieser „Große Gesellschaftsvertrag“ der Nachkriegszeit zwischen Kapital und Arbeit ermöglichte es den meisten Amerikanern drei Jahrzehnte lang, am steigenden Lebensstandard teilzuhaben, den sie als Beschäftigte in der Volkswirtschaft selbst mit erzeugten. Diese Abmachung gilt mittlerweile nicht mehr.
Ein neuer Gesellschaftsvertrag
Trotzdem ist Kellys Buch nicht wütend geraten, sondern optimistisch und aktivierend. Es zeigt, wie Menschen an vielen verschiedenen Orten der Welt in Unternehmen unterschiedlicher Größe den Prinzipien eines neuen grand bargain Rechnung tragen. Dieser Gesellschaftsvertrag ist ökologisch nachhaltig und von Vorteil für alle Beteiligten, einschließlich der Angestellten und ihrer lokalen Gemeinschaften. So wird klar, dass die Zukunft kein entferntes Land jenseits des Horizonts ist, sondern teilweise bereits Wirklichkeit – wenn wir sie denn erkennen wollen.
Worin besteht nun der entscheidende Unterschied zwischen diesen nachhaltigen Unternehmen und denjenigen, die im Finanzkapitalismus immer noch größere Ungleichheit und soziale Verwerfungen produzieren? Wie der Titel des Buches nahelegt, lautet Kellys zentrale Prämisse, dass die Differenz aus den Eigentumsverhältnissen und deren Ausgestaltung resultiert. Dabei gelten Eigentumsverhältnisse als „generativ“, wenn sie nachhaltig sind und sich zugunsten von Gleichheit und der Gemeinschaft auswirken. Ist das Eigentum hingegen so ausgestaltet, dass aus Unternehmen maximaler Profit bei minimalem Risiko für die Anteilseigner herausgeholt werden soll, handelt es sich laut Kelly um ein „extraktives“ Modell.
Die Autorin benennt im Buch fünf wesentliche Elemente zur Bestimmung der Eigentumsausgestaltung. Erstens: Worin besteht das Ziel des Eigentums? (Profite zu maximieren? Das Glück der Mitarbeiter zu vermehren? Der Gemeinschaft zu dienen?) Zweitens: Wem gehört das Unternehmen? (Einer Personengesellschaft? Abwesenden Aktionären? Den Mitarbeitern?) Drittens: Wie wird das Unternehmen geführt? (Durch abgehobene Manager und Vorstände? Mit voller Beteiligung aller Betriebsangehörigen?) Viertens: Wie ist das Verhältnis zum Finanzkapital? (Ist das Unternehmen nur sein Diener? Oder wird es von ihm unterstützt?) Und schließlich fünftens: Wie ist das Verhältnis des Unternehmens zum umgebenden Gemeinwesen? (Ist es integriert in ethisch fundierte Netzwerke? Oder verhält es sich distanziert und geschäftsmäßig?)
Die politischen und philosophischen Wurzeln der „extraktiven“ Version stammen aus den Anfangsjahren des britischen Industriekapitalismus: „Das Konzept des extraktiven Eigentums geht auf die angelsächsische Rechtstradition zurück. Der britische Rechtstheoretiker William Blackstone beschrieb im 18. Jahrhundert Eigentum als das Recht zur alleinigen und despotischen Herrschaft (‚sole and despotic dominion‘). Diese Sichtweise ... dient als legitimierende Auffassung für eine Kultur, in der weiße besitzende Männer die Dominanz über Frauen, andere Rassen, Arbeiter und die Erde selbst beanspruchen. Im 20. Jahrhundert wurde uns beigebracht zu glauben, dass es grundsätzlich zwei ökonomische Systeme gibt: Kapitalismus (Privateigentum) und Sozialismus beziehungsweise Kommunismus (Staatseigentum). Jedoch tendierten beide in der Praxis dazu, ökonomische Macht in den Händen einiger weniger Menschen zu konzentrieren.“
Hier kommen die unterschiedlichen philosophischen Wurzeln zum Vorschein, die in der Praxis zu beachtlichen Differenzen zwischen dem angelsächsischen Modell und der „rheinischen“ Version des Kapitalismus geführt haben. Im letztgenannten Modell sind Eigentümer durch grundsätzliche Regeln verpflichtet, auf das Allgemeinwohl zu achten. In Artikel 14 des deutschen Grundgesetzes heißt es: „Eigentum verpflichtet: Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen.“ Dieses Prinzip wirkt im insgesamt angemesseneren Verhalten deutscher Unternehmen weiterhin fort.
Die noch unentdeckte Revolution
Das letzte Drittel des Buches widmet sich Unternehmen, deren Eigentumsverhältnisse die Autorin „generativ“ nennt. Zu ihnen zählen Hummerfischer-Genossenschaften in Maine ebenso wie Organic Valley, der führende Zulieferer von Biolebensmitteln in den USA oder John Lewis, die größte britische Kaufhauskette, die sich komplett im Eigentum ihrer 76 500 Mitarbeiter befindet. Diese Firmen erwirtschaften Gewinne, sind aber nicht auf deren Maximierung aus. „Zusätzlich zu traditionelleren gemeinnützigen und staatlichen Modellen bringen sie eine Kategorie des Privateigentums ins Spiel, die sich zugunsten des Allgemeinwohls auswirkt“, schreibt Kelly. „Ihre Zunahme rund um den Globus stellt eine weitgehend unentdeckte Revolution dar.“
Bei aller Abneigung gegenüber radikaler Veränderung sind die rechtlichen und politischen Systeme der angelsächsischen Länder gegenüber Unternehmen im Eigentum und unter Leitung von Mitarbeitern übrigens nicht feindlich eingestellt. Eine beträchtliche Zahl von amerikanischen Bundesstaaten erlaubt mittlerweile die Gründung von „B-corps“. Das sind Unternehmen, deren Zweck über die Maximierung von Profiten hinausgeht. In Großbritannien wiederum haben Regierungs- und Oppositionsparteien erst kürzlich das Mitarbeitereigentum ausdrücklich als wichtigen Teil der britischen Wachstumsagenda begrüßt.
Möglicherweise wird Marjorie Kellys Buch Progressive enttäuschen, die sich darauf beschränken möchten, das aktuelle ökonomische System zu kritisieren und himmelblaue Visionen einer besseren (Parallel-)Welt zu entwerfen. Begeistern und anregen wird das Buch hingegen solche Progressive, die zwar ebenso davon überzeugt sind, dass das heutige System zum Scheitern verurteilt ist, die aber zugleich im Hier und Jetzt neue Wege des Arbeitens und Wirtschaftens beschreiten wollen.
Einige Fragen bleiben vorerst unbeantwortet. Wenn ein beständiges Wachstum der „generativen“ Wirtschaft angenommen wird, kommt dann nicht irgendwann der Augenblick, in dem die Anhänger des „extraktiven“ Modells die Auslöschung ihrer Herausforderer betreiben? Welche Bedingungen müssen herrschen, damit eine „generative“ Wirtschaft weiterhin wachsen kann? Und wie könnte der tipping point in Richtung einer tatsächlich „generativen“ globalen Ökonomie aussehen?
Marjorie Kellys ungewöhnliches Talent besteht in ihrer Fähigkeit, die kompromisslos kritische Analyse des modernen kapitalistischen Systems mit der zuversichtlichen Suche nach „Keimlingen“ eines besseren und faireren Wirtschaftens harmonisch zu kombinieren. Nicht zuletzt deshalb hat ihr Buch auch in Deutschland eine große Leserschaft verdient.
Aus dem Englischen von Benjamin Triebe
Marjorie Kelly, Owning our Future: The Emerging Ownership Revolution, San Francisco: Berrett-Koehler Publishers 2012, 241 Seiten, 15,95 Euro