Ein Projekt für das 21. Jahrhundert

Warum der »Green New Deal« weit mehr ist als ein Synonym für »ökologische Industriepolitik«. Und weshalb Sozialdemokraten und Grüne gut beraten sind, sich rechtzeitig darüber zu verständigen, was ihnen gemeinsam gelingen soll

Kaum ist sie richtig da, soll sie schon wieder weg sein. „Die Krise ist vorbei“, jubeln Teile der Presse. Und der Ökonom Hans-Werner Sinn findet angesichts der aktuellen Wirtschaftsdaten sogar: „Deutschland ist in Partylaune.“ Aber jeder ist wahrscheinlich schon auf mehr als einer schlechten Party gewesen, auf der keine Stimmung aufkommen wollte, das Bier spätestens um eins alle war und der Gastgeber überfordert schien. Getanzt wurde dann ja meistens auch nicht, selbst wenn es immer irgendeinen gab, der ständig „Party!“ rief und die Musik aufdrehte.

Nein, Deutschland ist – wie viele andere Industrienationen auch – nicht in Partylaune. Aufgrund der Finanz- und Wirtschaftskrise steht unser Land vielmehr am Scheideweg seiner wirtschaftlichen Entwicklung. Jeder und jede hat es in den vergangenen Monaten gemerkt: So wie jetzt kann und wird es nicht weitergehen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass es „die Krise“ als solche gar nicht gibt. „Die Krise“, das sind in Wirklichkeit drei große Krisen, namentlich die Wirtschafts- und Finanzkrise, die Klima- und Ressourcenkrise sowie die Gerechtigkeitskrise.

Von welchen Zuständen reden wir also im Jahr 2010 in Deutschland und in der Welt? Die weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise hat die deutsche Binnen- und Exportwirtschaft nachhaltig geschwächt, Massenarbeitslosigkeit und eine dramatische Zunahme der öffentlichen Verschuldung sind die Folge. Neben Industrienationen wie Deutschland sind die Schwellen- und Entwicklungsländer mindestens genauso stark von den wirtschaftlichen Einbrüchen betroffen. Entfesselte Finanzmärkte sowie unregulierte Handels- und Kapitalströme führten rund um den Globus zu einem immer riskanteren und nicht im Geringsten nachhaltigen oder gar gerechten Wirtschaften, bis – ausgelöst vom amerikanischen Immobilienmarkt – die Blase platzte. Nicht nachhaltig war das alles auch deshalb, weil die weltweite wirtschaftliche Entwicklung auf einem massiven Verbrauch von Rohstoffen, besonders fossilen Brennstoffen, beruht. Nicht gerecht war das, weil die wirtschaftliche Entwicklung der vergangenen Jahre den Effekt hatte, dass die Unterschiedlichkeit der Lebensverhältnisse sowohl weltweit zwischen Nord und Süd, aber auch innerhalb Deutschlands zugenommen hat. Ganze Bevölkerungsgruppen sind hierzulande mittlerweile ausgeschlossen von Erwerbsarbeit, ausreichendem Einkommen, guter Bildung sowie von politischer und gesellschaftlicher Teilhabe. Die Finanzkrise, die Klimakrise und die Gerechtigkeitskrise – wer diese drei Krisen zeitgleich und konsequent angehen will, wird das nur mit einem kohärenten Gesamtkonzept bewerkstelligen können.

Ums große Ganze sollte es schon gehen

Dieses Gesamtkonzept darf nicht zurück zu den Verhältnissen vor der Krise führen, sondern muss neue Chancen eröffnen für die Wirtschaft, für das Klima und für die Menschen. Mit anderen Worten: Wir brauchen ein Konzept, das den Weg aus der Krise bewusst und kreativ gestaltet. In der Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre hat Franklin D. Roosevelts New Deal einen solchen Wendepunkt erfolgreich markiert. Daran gilt es anzuknüpfen – und gleichzeitig die für das 21. Jahrhundert zentrale Frage des Umwelt- und Klimaschutzes zur Grundlage der Antwort zu machen. Ein „Green New Deal“, der die Chance der Neuausrichtung der Weltwirtschaft in der Umstrukturierung hin zu einem klimafreundlichen, Kohlendioxid-neutralen, nachhaltigen Wirtschaften sieht, kann Antworten geben auf die Frage „Wie weiter?“.

Liebe Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten! Wer bis hierher gelesen hat, der hat es mit Sicherheit schon mitbekommen: Der „Green New Deal“ ist kein Synonym für „ökologische Industriepolitik“. Eine solche Einengung des Blickfelds greift zu kurz, wenn es ums große Ganze gehen soll. Eine Neuausrichtung der industriellen Wertschöpfung und des industriellen Sektors ist ohne Zweifel ein wichtiger Teil des Green New Deal. In einer Zeit, in der die einst homogene Arbeitnehmergesellschaft zunehmend divers wird, kann ökologische Industriepolitik nur einen Teil derjenigen ansprechen, die für eine umfassende wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Veränderung erreicht werden müssen. Der Green New Deal ist vielmehr ein wirtschafts- und gesellschaftspolitisches Gesamtkonzept.

Der Green New Deal ruht auf drei Säulen. Die erste Säule ist die Neuregulierung der Finanzmärkte, um Spekulationsblasen zu verhindern und eine langfristig stabile und nachhaltige Wirtschaftsentwicklung zu sichern. Die zweite Säule ist der ökologische und soziale Umbau unserer Gesellschaft. Dazu werden Investitionen in Klimaschutz, Bildung und soziale Gerechtigkeit notwendig sein – einschließlich der oben genannten ökologischen Industriepolitik. Die Dritte Säule des Green New Deal ist die Stärkung und Erneuerung des sozialen Ausgleichs. Das betrifft das Verhältnis zwischen entwickelten Ländern und Entwicklungs- sowie Schwellenländern genauso wie die zunehmende gesellschaftliche Spaltung in Deutschland.

Aber was heißt das konkret für die deutsche Politik der kommenden Monate und Jahre? Einige Schlaglichter können eine Idee davon geben, welche dringlichen Maßnahmen des Green New Deal in den nächsten zwei bis drei Jahren verwirklicht werden müssen, um neue Grundpfeiler und kluge Leitplanken für einen Neuanfang zu setzen.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Ohne funktionierende Märkte kann der Green New Deal nicht gelingen. „Funktionieren“ bedeutet aber nicht, allein auf kurzfristige Rendite ausgerichtet zu sein, sondern stabile Investitionen in die Zukunft zu ermöglichen. Wer das schaffen will, muss Leitplanken für die Finanzmärkte aufstellen. Neben der Stärkung der Finanzmarktaufsicht und mehr Verbraucherschutz auf den Finanzmärkten ist die Einführung einer Finanzumsatzsteuer ein geeignetes Instrument, um schnelle und hochspekulative Geschäfte mit vielen An- und Verkäufen unrentabel zu machen, ohne reale, langfristig angelegte Geschäfte übermäßig zu belasten. Eine solche Steuer könnte in der Eurozone eingeführt werden, ohne Standortnachteile zu erzeugen. Innerhalb der EU könnte ein Steuersatz in Höhe von 0,01 Prozent Einnahmen in Höhe von etwa 64 Milliarden Euro bewirken. Mit dem Geld könnten sozial- und entwicklungspolitische Maßnahmen des Green New Deal finanziert werden.

Langfristigkeit statt Klientelpolitik

Wer Arbeitsplätze im industriellen Sektor schaffen und zugleich das Klima schützen will, der muss die Energiewende vorantreiben. Die schwarz-gelbe Bundesregierung tut seit ihrem Amtsantritt das genaue Gegenteil. Mit der übermäßigen Kappung der Solarförderung setzt sie den Technologievorsprung einer Zukunftsbranche aufs Spiel, mit der Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke gefährdet sie die Erfolgsgeschichte der erneuerbaren Energien, mit der Aussetzung von Fördermitteln und Zuschüssen für energetische Sanierung bremst sie das mittelständische Handwerk aus. Einmal ganz abgesehen davon, dass Deutschland die selbst gesetzten Einsparziele beim Kohlendioxid-Ausstoß so niemals erreichen wird – wer auf den Gebieten erneuerbare Energie und Energieeffizienz eine nachhaltig stabile Wirtschaftsentwicklung bewirken will, der muss neben Investitionen einen langfristig stabilen politischen Rahmen bieten, anstatt kurzfristige Klientelpolitik zu betreiben.

Alle reden von Bildung, aber die über die Parteigrenzen hinweg geforderte Bildungsoffensive bleibt bisher aus. Nicht zuletzt, weil das im Rahmen der Föderalismusreform II beschlossene Kooperationsverbot dem Bund die letzten Einflussmöglichkeiten genommen hat. Klar ist: Bildung gibt es nicht umsonst. Plätze in guten Ganztagskitas für alle Kinder in Deutschland in den nächsten zwei Jahren kosten 5 Milliarden Euro. Und weitere 5 Milliarden müssten für den Umbau der Schulen zu Ganztagsschulen aufgewendet werden, um einen sichtbaren Effekt zu erzielen. Das ist viel Geld, aber eben eine nachhaltige Investition in Bildungsgerechtigkeit – unabhängig von den positiven Auswirkungen auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und den neuen Jobs, die im Bildungssektor entstehen würden. Ein Bildungssoli als Finanzierungsinstrument könnte schrittweise den altbekannten Solidarbeitrag ersetzen – und damit (wie der Name schon sagt) solidarisch in ein besseres und gerechteres Bildungssystem investiert werden.

Qualitativ wachsen und nachhaltig leben

Die Millennium-Entwicklungsziele der Vereinten Nationen sind derzeit vom Scheitern bedroht. Ursache dafür ist die mangelnde Bereitschaft der Industrieländer, genug Geld für die Bekämpfung von Armut, Hunger und Krankheiten bereitzustellen. Im Jahr 1970 wurde vereinbart, dass die Staaten der OECD 0,7 Prozent
ihres Bruttosozialproduktes in die weltweite Entwicklungszusammenarbeit investieren. 40 Jahre später ist es absolut überfällig, dieses Versprechen einzulösen und die Länder des Südens stärker zu unterstützen. Dort kann schon verhältnismäßig wenig Geld unglaublich viel bewirken. Wer den Entwicklungs- und Schwellenländern das Recht auf eine umweltzerstörende nachholende Entwicklung analog zu den Industriegesellschaften des 20. Jahrhunderts nicht einräumen will, der muss den Menschen dort andere Chancen eröffnen, ein gutes Leben zu leben.

All diese Maßnahmen können – den politischen Willen vorausgesetzt – in den nächsten zwei Jahren angegangen werden. Die Politik muss sich in schwierigen Zeiten diesen dringlichen Aufgaben stellen – und die Reaktionen auf unbequeme Maßnahmen auch aushalten können. Dazu gehört auch, dass die Verursacher der Krisen sich an den Kosten beteiligen, ob über den Emissionshandel oder Ökosteuern. Damit sind die Bürgerinnen und Bürger aber nicht aus der Verantwortung entlassen. Neben einer konsequenteren Besteuerung von Erbschaften und Vermögen geht es auch um das Alltagsverhalten. Jeder und jede kann Politik machen, zum Beispiel mit dem Einkaufskorb. Ob Stromanbieterwechsel, fair gehandelte Schokolade oder nachhaltige Geldanlage: Dass das Alltagshandeln politisch weitreichende Effekte haben kann, ist die vielleicht wichtigste Botschaft der Krise. Jede und jeder kann dazu beitragen, dass ein gutes Leben kein Leben auf Kosten anderer oder nachfolgender Generationen sein muss.

Nach den Grenzen des Wachstums hat bekanntlich schon der Club of Rome in den siebziger Jahren gefragt. Heute ist die Frage wieder aktuell. Wie kann eine Wirtschaft ohne Wachstum oder mit nur sehr wenig Wachstum aussehen und funktionieren? Wachstum, brauchen wir das überhaupt? Ein radikaler Abschied vom Wachstumsparadigma ist der Green New Deal sicher nicht. Aber er ist ein Plädoyer für ein Umdenken, ein Neu-Denken. Für einen qualitativen Wachstumsbegriff und einen nachhaltigen Lebensstil. Für gezielte Investitionen in die Zukunft statt Abwrackprämien oder Konjunkturprogramme ohne nachhaltige Perspektive. Zugegeben, es sind keine kleinen Veränderungen, die anstehen. Wer neue Arbeitsplätze schaffen und gleichzeitig die Kohlendioxid-Emissionen bis 2050 um 80 bis 95 Prozent reduzieren will, der wird mit der einen oder anderen Vierteldrehung an kleinen Stellschrauben nicht weit kommen.

Deshalb stellt sich die Frage: Wer kann das, wer macht das, wer traut sich ein solches Projekt zu? Die schwarz-gelbe Bundesregierung mit Sicherheit nicht. Sie steckt fest im Klein-Klein des täglichen (Nicht-)Handelns und zeigt keine Anzeichen, dass sie den Fokus noch einmal aufs große Ganze wenden könnte. Der Umgang mit den Laufzeiten der Atomkraftwerke zeigt, dass die Regierung gefangen ist zwischen den Lobbyinteressen der Konzerne und den kleinteiligen Streitereien innerhalb der Koalitionsparteien. Umso dringlicher ist der Blick auf die Alternativen und umso mehr lohnt er sich. Die Neuauflage einer rot-grünen Bundesregierung wäre dieses Mal wohl kein „Projekt“ mehr – aber dafür könnte der Green New Deal für das 21. Jahrhundert das zentrale Projekt einer nächsten rot-grünen Koalition auf Bundesebene werden. «

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