Ein überflüssiger Streit
In Polen hat das von Erika Steinbach gemeinsam mit dem mittlerweile verstorbenen SPD-Politiker Peter Glotz geplante „Zentrum gegen Vertreibungen“ heftige Proteste ausgelöst und somit die nationalkonservative sowie nationalistische Wählerschaft mobilisiert. Das Projekt, Vertreibungen und Zwangsumsiedlungen im Europa des 20. Jahrhunderts zu dokumentieren, wird als Teil einer groß angelegten Geschichtsrevision angesehen, wie sie angeblich seit mehreren Jahren in Deutschland zu verzeichnen ist. Nur eine kleine Gruppe liberal eingestellter Warschauer Publizisten trat für die gemeinsame Aufarbeitung des Themas Vertreibung als wichtigen Abschnitt der deutsch-polnischen Geschichte ein, darunter Adam Michnik von der Gazeta Wyborcza, Adam Krzeminski von Polityka sowie der Historiker Wlodzimierz Borodziej. Gemeinsam mit dem SPD-Abgeordneten Markus Meckel schlugen sie im Frühjahr 2002 vor, ein Zentrum zur Dokumentation von Vertreibungen nicht in Berlin, sondern in Breslau einzurichten.
Nestbeschmutzer und Einflussagenten
Dieser Vorschlag war jedoch nicht politisch abgesichert und überraschte das damals in Warschau regierende Linksbündnis, das ihn denn auch nicht aufgriff. Im rechten Parteien- und Medienspektrum aber löste der Vorstoß einen wahren Schrei der Empörung aus. Die Zeitschrift Wprost prangerte Michnik und Krzeminski als Netzbeschmutzer und „bezahlte Einflussagenten Berlins“ an. Ein Großteil der Kommentatoren behauptete, dass Zentrumsprojekt laufe auf eine Fälschung der Geschichte zu Lasten der Polen hinaus, die im Krieg Opfer ungleich größerer Verbrechen geworden waren. Teilweise wurde den Deutschen grundsätzlich das Recht abgesprochen, eigener Opfer zu gedenken – da sie Hitler ja legal an die Macht gebracht und somit die Schuld für dessen Politik auf sich zu nehmen hätten.
Besonders scharf griffen nahezu alle polnischen Medien Erika Steinbach an. Die Präsidentin des Bundes der Vertriebenen (BdV) wurde im Stil längst überwunden geglaubter kommunistischer Propaganda diffamiert und mit dem Etikett „falsche Vertriebene“ belegt, da sie als Tochter eines Feldwebels der Luftwaffe im Städtchen Rahmel (Rumia) unweit von Danzig im besetzten Polen zur Welt gekommen war. Den Berichten zufolge hatte ihr Vater ein polnisches Haus in Besitz genommen und die bisherigen Bewohner hinausgeworfen. Jüngste Recherchen polnischer Journalisten ergaben jedoch, dass diese Version gar nicht stimmt. Vielmehr hatten sich die Eltern Steinbachs bei einer polnischen Familie eingemietet und zu dieser gute Kontakte gepflegt. Doch diese Geschichte wollte der zuständige Chefredakteur nicht abdrucken.
Mit solchen Beispielen untermauert der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Günter Nooke, seine zutreffende Behauptung, die polnische Presse berichte einseitig und völlig verzerrt über das Zentrumsprojekt. So haben die polnischen Zeitungsleser auch nie erfahren, dass Steinbachs Vater aus Niederschlesien stammt und ihre Großmutter Schauspielerin am Stadttheater von Hirschberg war, wo die Familie ein Haus besaß.
Eine deutsch-jüdische Initiative?
Auch einen anderen Aspekt verschweigen die polnischen Medien bislang: Erika Steinbach, die Karikaturisten gern in SS-Uniform darstellen, kommt keineswegs aus dem Altnazi- oder Neonazi-Milieu, ihre politische Karriere begann im christlich-jüdischen Dialog sowie in der deutsch-israelischen Gesellschaft. Nationalistische polnische Politiker sehen darin allerdings einen Beleg dafür, dass das Zentrumsprojekt eine „antipolnische, deutsch-jüdische“ Initiative sei, die den psychologischen Flankenschutz für Forderungen nach der Rückübertragung von Eigentumstiteln darstelle. In Wirklichkeit plädiert Erika Steinbach für den Verzicht auf Forderungen an die Adresse Warschaus. Auch diese Tatsache unterschlug die polnische Presse.
Diese zweite polnische Vertreibungsdebatte setzte im Jahr 2002 ein. Die erste Vertreibungsdebatte Mitte der neunziger Jahre war nicht von Protest und Abwehr, sondern von Anteilnahme geprägt gewesen. Damals erschienen die ersten wissenschaftlichen Arbeiten zu dem Thema, das bei jungen Historikern geradezu in Mode kam. So begann man in Polen mit einer mehrbändigen Dokumentensammlung zu Enteignung, Vertreibung und Zwangsaussiedlung. Ein Sammelband mit den wichtigsten Zeitungsartikeln zu diesem Thema erschien unter dem programmatischen Titel: „Müssen wir die Deutschen um Verzeihung bitten?“
Wo Glotz und Steinbach irrten
Die erste Vertreibungsdebatte wurde im Jahr 2000 von der Jedwabne-Kontroverse überdeckt: In dem ostpolnischen Städtchen Jedwabne hatte im Juli 1941 eine Gruppe Einheimischer, denen von einem SS-Kommando Straffreiheit und Beute versprochen worden waren, einen Großteil der jüdischen Nachbarn ermordet. Mehrere Berichte über diesen Judenpogrom lösten eine heftige Debatte aus. In Polen wurde allerdings vermerkt, dass die deutsche Presse bei diesem Thema größtenteils die Rolle des SS-Kommandos marginalisierte und gleichzeitig besonders unterstrich, Polen seien Mittäter am Holocaust gewesen. Das wurde als Versuch aufgefasst, die deutsche Schuld zu verringern.
Auch Erika Steinbach und Peter Glotz haben die Jedwabne-Kontroverse beobachtet, ebenso wie sie die polnische Vertreibungsdebatte Mitte der neunziger Jahre analysierten. Aus beiden Diskussionen schlossen sie, dass die polnische Gesellschaft von dem traditionellen Selbstbild als „Volk der Helden und Opfer“ Abschied genommen habe. Deshalb luden sie die Regierung und mehrere Institute in Warschau dazu ein, sich am Zentrumsprojekt zu beteiligen. Doch ihre Einschätzung war falsch. Polnische Publizisten befanden, nach der Jedwabne-Debatte könne man nicht hinnehmen, dass Polen ein weiteres Mal von Deutschen als Täter oder Mittäter hingestellt würden. So kam die erste Welle von Publikationen gegen das Projekt ins Rollen.
Im Frühjahr 2003 nahm sich auch die damalige rot-grüne Bundesregierung des Themas an, das zu einer Belastung der deutsch-polnischen Beziehungen zu werden drohte. Innenminister Otto Schily schlug vor, Vertreter der Stiftung, die Verfechter der Breslau-Variante sowie weitere Experten und Politiker aus beiden Ländern an einen Tisch zu bringen. Damit wollte er dem Thema die politische Brisanz nehmen. Doch Außenminister Joschka Fischer sprach sich für einen Konfrontationskurs mit dem BdV und der Union aus, die hinter dem Verband steht. Bundeskanzler Gerhard Schröder entschied sich für Fischers Linie. Beide gaben im Sommer 2003 Interviews, in denen sie das Zentrumsprojekt scharf angriffen. Damit gaben sie gleichzeitig auch grünes Licht für das damalige Warschauer Regierungslager, das sich zuvor zurückgehalten hatte. Nun versuchten Premierminister Leszek Miller und mehrere Mitglieder seines Kabinetts, mit scharfen Stellungnahmen gegen das Projekt zu punkten. Damit lösten sie indes eine allgemeine antideutsche Kampagne der rechten Opposition aus.
Schröders irrationale Fehlkalkulation
Es zeigte sich also rasch, dass sich Schröder und Fischer geirrt hatten, als sie das Problem mit einer moralischen Diskreditierung des Zentrums gegen Vertreibungen zu lösen versuchten. Angesichts der politischen Stärke der Unterstützer sowie der unumstrittenen Integrität und Autorität vieler Prominenter unter ihnen – darunter auch bewährte „Polenfreunde“ sowie Vertreter der jüdischen Intelligenz in der Bundesrepublik – war dies eine geradezu irrationale Fehlkalkulation. Die Berater Schröders in dieser Frage haben vor allem gegen eine grundlegende Erfahrung in den deutsch-polnischen Beziehungen verstoßen: Der Versuch, sich in historischen Debatten als „Polenfreund“ zu zeigen, indem man den innenpolitischen Gegner attackiert, geht fast immer schief. Denn auf der Strecke bleiben dabei die liberalen, dialogbereiten Polen, gestärkt werden die polnischen Nationalisten.
Deutsch-polnische Debatten über den Zweiten Weltkrieg verlaufen nämlich „überkreuz“: Die deutschen Linken und Liberalen sind meist einer Meinung mit der polnischen Rechten, ebenso wie die deutsche Rechte mit den polnischen Linken und Liberalen. Denn die Linken und Liberalen in der Bundesrepublik halten die Aufarbeitung des deutschen Besatzungsterrors für eine moralische Pflicht – genau dies fordert die polnische Rechte. Die deutschen Konservativen indes wollen auch an die Vertreibung erinnern, und die Linken und Liberalen Polens halten es für fundamental wichtig, dass eine demokratische, offene, tolerante Gesellschaft auch dunkle Flecken in der eigenen Geschichte aufarbeitet. Die polnische Rechte aber möchte dieses Thema weiter mit einem Tabu belegen, weil sie am polnischen Mythos des „Volkes der Helden und Opfer“ festhält. Und die deutschen Linken halten es angesichts der deutschen Schuld für unangebracht, über deutsche Opfer zu sprechen.
Ein Bündnis aus Linken und Schwulenhassern
Die innenpolitisch motivierten Angriffe aus den Kreisen der deutschen Linken auf Erika Steinbach und Peter Glotz haben also dazu beigetragen, dass die polnischen Nationalisten diese Debatte dominieren konnten, die in Polen hysterische und irrationale Ausmaße angenommen hat. Es wurde zwar argumentiert, dass das Projekt in Polen für Aufregung sorge; aber mit den dort angeführten Argumenten, die vor allem auf der Kategorie der Kollektivschuld beruhen, setzten sich seine deutschen Kritiker überhaupt nicht auseinander. Vor allem stellten sie nicht die Kardinalfrage: Ist das Konzept des Zentrums überhaupt konfrontativ, gar antipolnisch ausgerichtet? Stattdessen beschränkten sie sich meist darauf, der „falschen Vertriebenen“ Erika Steinbach die Legitimation abzusprechen, sich mit dem Thema Vertreibung zu befassen – und wiederholten somit unreflektiert ein Argument der polnischen Rechten, mit denen man sich wegen deren Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit, Hass auf Homosexuelle, allgemeinen gesellschaftlichen Intoleranz sowie ihrer Verbindungen zu Radio Maryja sonst nie an einen Tisch setzen würde.
Otto Schily hatte es gleich gesagt
Als Konkurrenzprojekt zu dem umstrittenen Berliner Zentrum schlug die rot-grüne Regierung ein „Netzwerk Erinnerung und Solidarität“ vor. Indes kann das Netzwerk von seiner Konstruktion her nur schwerlich eine Konkurrenz zum Zentrum gegen Vertreibungen sein. Auch war vorauszusehen, dass Erika Steinbach erklären würde, die Stiftung wolle dem Netzwerk beitreten. Vor allem aber war zu erwarten, dass die polnische Seite versuchen würde, es zu einem Instrument der eigenen nationalpatriotischen Geschichtsbetrachtung zu machen. Allerdings hat die Rechtsregierung in Warschau das Netzwerk schon kurz nach ihrer Wahl wieder auf Eis gelegt. Man möchte es erst zum Leben erwecken, wenn Berlin definitiv auf das Zentrum gegen Vertreibungen verzichtet.
Um Bewegung in die festgefahrenen Fronten zu bringen, hat Bundestagspräsident Norbert Lammert eine große deutsch-polnische Konferenz über Vertreibungen im und nach dem Zweiten Weltkrieg angekündigt. Wie gesagt, Otto Schily hat einen derartigen Runden Tisch schon vor drei Jahren vorgeschlagen. Ob dieser verhindert hätte, dass das Thema seinen düsteren Schatten auf die deutsch-polnischen Beziehungen werfen würde, darüber lässt sich heute nur spekulieren. Nur eines ist sicher: Der Konfrontationskurs von Rot-Grün hat den nationa-listischen Kräften in Polen erheblich genützt. Warschauer Politologen meinen sogar, wenn Berlin das Thema rechtzeitig politisch entschärft hätte, wären heute nicht die Kaczynski-Zwillinge an der Macht.