Eine Kopfgeburt der Neuen Mitte
Spätestens seit sich Bodo Hombach, damals noch Kanzleramtsminister und Chefkoordinator des "Bündnisses für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit" als Leiter der sogenannten "Benchmarking Gruppe" im Frühsommer 1999 für die Einrichtung eines "Niedriglohnsektors" ausgesprochen hatte, war der "Niedriglohnsektor" für ein paar Monate in aller Munde. Bislang gibt es auch keinen Aufschrei darüber, dass hiermit neuartige Subventionen in einer Höhe von 15 bis 25 Milliarden Mark verbunden wären.
Über die Problembeschreibung besteht breite Einigkeit: Eine Phase zwanzigjähriger Massenarbeitslosigkeit hat eine mit jeder Rezession weiter anwachsende Gruppe in der Regel gering qualifizierter Langzeitarbeitsloser zurückgelassen, deren Chancen auf eine Wiedereingliederung auf den Arbeitsmarkt als gering eingeschätzt werden.
Im derzeit vorherrschenden Diskurs, dem in Parteien und Wirtschaft wie an Stammtischen und in den Medien nur selten widersprochen wird, ist der Schlüssel zur Schaffung von Arbeitsplätzen und Einstellung Arbeitsloser die Senkung der Lohnkosten. Einzelbetrieblich betrachtet ist dies leicht nachvollziehbar: Fallen die Lohnkosten, so lassen sich die Stückkosten zur Herstellung einer Ware oder Dienstleistung weiter senken. Dies erhöht die Möglichkeiten eines gewinnbringenden Absatzes. Allerdings vernachlässigt eine solche Betrachtung, die ein zentraler Baustein des neo-liberalen Gedankengebäudes ist, dass gerade Wirtschaft ein vernetztes und dynamisches System ist:
- Absatz setzt Nachfrage voraus.
- Neue Technologien verdrängen den Faktor Arbeitskraft mehr und mehr; der Klassiker unter den Beispielen hierzu ist das Pferd, das heute auch dann nicht mehr vor den Pflug gespannt werden würde, wenn es ohne Futter und Wasser auskäme.
- Produktinnovation und -differenzierung sind für die Erschließung neuer Absatzmärkte häufig wichtiger als Preissenkung.
Betriebswirtschaftliches Kalkül des Niedriglohnsektors
Folgt man der einzelbetrieblichen Betrachtung jedoch weiter, so ist klar, dass die Lohnkosten je Stunde allenfalls so hoch sein dürfen, wie der Wertzuwachs ausfällt, der durch den Einsatz einer zusätzlichen Arbeitsstunde geschaffen wird; theoretisch übersetzt: Die realen Lohnkosten dürfen nicht oberhalb der Grenzproduktivität liegen, sonst rechnet sich die Arbeitskraft für das Unternehmen nicht. Geringe Qualifizierung heißt aber geringe Grenzproduktivität. Angewendet auf die Gruppe der gering Qualifizierten bedeutet daher diese Überlegung, dass ihr Lohn so niedrig ausfallen würde, dass er - zumindest in Haushalten mit Kindern - nicht mehr existenzsichernd wäre. Daher der Subventionsbedarf. Zu seiner Ausformung gibt es mehrere Modelle: Zuschüsse an die Unternehmen, Aufstockung der Entgelte ausgezahlt an die Arbeitnehmer oder - so auch Hombachs Vorschlag damals - Übernahme eines Teils der Sozialversicherungskosten.
Ein ausformuliertes Modell hat hierzu die Friedrich-Ebert-Stiftung vorgelegt. Bei Vollzeit sollen die Sozialversicherungsbeiträge bis zu einem Monatslohn von 1.500 Mark ganz und bis 3.000 Mark teilweise vom Staat übernommen werden.
Milliardengrab
Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), Nürnberg, hat den Vorschlag eingehend analysiert und unter Zugrundelegung der Spezifizierung der Friedrich-Ebert-Stiftung durchgerechnet. Für die Bezuschussung der heute in diesem Einkommenssegment Beschäftigten (ohne Auszubildende) sind zwischen 15 und 24 Milliarden Mark zu veranschlagen. Die Beschäftigungseffekte fallen mit rund 160.000 zusätzlichen Vollzeitstellen bescheiden aus; es wäre eine Senkung der Arbeitslosigkeit um etwa 4 Prozentpunkte. Ins Verhältnis gesetzt bedeutete dies - bei der "optimistischen" Variante von 15 Milliarden Mark - einen jährlichen Zuschuss von über 90.000 Mark pro zusätzliche Stelle. Die wesentliche Ursache hierfür ist, dass schon heute für sehr viele Beschäftigte - nämlich über 9 Millionen - der Lohn so niedrig ist, dass er künftig dauerhaft subventioniert werden müsste.
Darüber hinaus gibt das IAB zu bedenken, dass der neue Zuschuss Arbeitsanreize vor allem auch für Personen schafft, die im jetzigen System keine Transferleistungen beziehen und dann auf den Arbeitsmarkt drängen werden, so dass der Rückgang der Arbeitslosigkeit möglicherweise noch geringer als um 160.000 ausfallen würde. Auch warnt das IAB vor den Missbrauchsmöglichkeiten durch falsche Angaben bei der Arbeitszeit oder einer Kürzung des per Lohnzettel ausgezahlten Entgelts. Einen weiteren kritischen Hinweis, nämlich auf die erhebliche aufzubauende Bürokratie zur Verwaltung dieser Subventionen - verzichtet das IAB und kommt auch so schon zu der Schlussfolgerung: "Die Therapie kann also nicht empfohlen werden".
Volkswirtschaftlicher Irrtum
Zwingt man sich einen Augenblick hinein in die komplizierte Welt des vernetzten Denkens - der neoliberale Ansatz ist ja offenbar vor allem auch wegen seiner leichten Nachvollziehbarkeit so robust in der politischen Debatte -, so erkennt man, dass der Vorschlag volkswirtschaftlich keine Verbesserung bringt. Die Subventionen für den Niedriglohnsektor müssten dauerhaft aus dem allgemeinen Steueraufkommen aufgebracht werden. Dies bedeutet aber, dass zu seiner Finanzierung letztlich - ob direkt oder indirekt spielt dabei keine wesentliche Rolle - diejenigen herangezogen würden, die ein höheres Entgelt erhalten, also eine höhere Grenzproduktivität haben. Die Erhöhung der Steuer führt aber bei ihnen zu verminderten Arbeitsanreizen, was mit gesamtwirtschaftlichen Kosten verbunden ist. Kurzum, die Volkswirtschaft verliert an Kapazitäten qualifizierter Arbeit, weil diese nicht mehr angeboten werden, um niedrig qualifizierte Arbeit dauerhaft zu subventionieren.
Verteilungspolitischer Skandal
In den Diskursen zur beruflichen Integration gering Qualifizierter werden von den Befürwortern eines Niedriglohnsektors stets die sogenannten einfachen Dienstleistungen aufgezählt und Beispiele vor allem aus der amerikanischen Gesellschaft, vom Schuhputzer über den Gepäckträger und den Kaufwareneintüter bis hin zum Dienstmädchen aufgelistet. Unbeschadet der Frage, ob diese Art von Dienstleistungen überhaupt in größerem Umfang in Deutschland nachgefragt werden würde und in wieweit die personenbezogenen Dienstleistungen den Arbeitsmöglichkeiten gering Qualifizierter überhaupt entsprechen würden, offenbart sich hier eine skandalöse Selbstbedienungsmentalität. Denn wer würde diese Dienstleistungen nachfragen, wenn nicht diese gut bis sehr gut verdienenden Angehörigen der Neuen Mitte, die den Niedriglohnsektor als den endlich innovativen und modernen Vorschlag zur Lösung des Problems der Integration gering Qualifizierter begrüßen und die kritischen Analysen schlicht nicht zur Kenntnis nehmen? Man hält es für politisch durchsetzbar, dass aus dem allgemeinen Steueraufkommen privat nachgefragte Arbeiten subventioniert werden. Möglicherweise hatte man sich verkalkuliert und nicht gedacht, dass soviele ein derart niedriges Einkommen haben und somit ein solch gigantisches Subventionsprogramm entstehen würde.
Handlungsalternative
Ein positives Ergebnis hat die Debatte zum Niedriglohnsektor gleichwohl gebracht. Es gab in der breiteren Öffentlichkeit keinen Aufschrei, als zur Lösung des Problems der beruflichen Integration gering Qualifizierter der Bedarf an größeren Summen, besagte 15 bis 24 Milliarden Mark, genannt wurde. Es scheint also eine solidarische Bereitschaft in der deutschen Gesellschaft zu einer größeren gemeinsamen Kraftanstrengung zu geben. Und es gibt Alternativen zu dem fragwürdigen Konzept des Niedriglohnsektors. Der folgende Maßnahmenmix zielt auf eine mittelfristige Lösung des Problems der Langzeitarbeitslosigkeit:
1.Einführung eines am Bedarf orientierten Kindergeldes für berufstätige Haushalte mit niedrigen Einkommen.
2.Begleitung und Qualifizierung gering Qualifizierter längst individuell ausgearbeiteter Eingliederungspläne.
3.Für einen Übergangszeitraum längerfristig angelegte Förderung von Arbeitsplätzen für ältere gering Qualifizierte in Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit.
Zur Erläuterung: Nr. (1) nimmt das Problem auf, dass für Haushalte mit Kindern ein Bruch zwischen dem Kindergeld bei Erwerbstätigkeit und dem "Kindergeld" bei voller Abhängigkeit von Sozialhilfe, nur Letzteres orientiert sich am Bedarf, besteht. Alleinstehende ohne Kinder beziehen im Regelfall eine so niedrige Sozialhilfe, dass bei ihnen selbst relativ niedrige Löhne genügen, einen klaren ökonomischen Anreiz zur Arbeitsaufnahme zu geben. Im übrigen nimmt dieser Vorschlag positive Erfahrungen aus den USA ("Earned Income Tax Credit" EITC) auf, die jetzt auch in Großbritannien gesetzgeberisch umgesetzt werden. Nr. (2) ist der Kern einer Integrationsstrategie: Es gilt, das eigentliche Defizit, die mangelnde Qualifizierung, abzubauen. Erfahrungen aus zahlreichen Modellprojekten belegen, dass dies funktionieren kann, wenn die Qualifizierung auf den Einzelnen, auf seine Lebens- und Berufserfahrung, individuell zugeschnitten ist und ihn "bei sich abholt". Allein auf (Teil-/Berufs-)Abschlüsse ausgerichtete Maßnahmen in Klassenstärke sind da häufig wenig erfolgreich. Nr. (3) folgt aus einer Berücksichtigung altersbedingter und regionaler Problemlagen: Für ältere gering Qualifizierte wird Nr. (2) nicht überall greifen können; hier ist für einen Übergangszeitraum auch die Nachfrage nach Arbeit durch öffentlich geförderte Arbeit gemäß dem Prinzip "Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren" zu erhöhen; indem ein Teilbetrag der genannten Summen mit der Förderung von Strukturanpassungsmaßnahmen gemäß Paragraph 272 Sozialgesetzbuch III, die seit 1999 für Ältere bis zu fünf Jahre gewährt wird, verbunden wird, ist dies auch kurzfristig umsetzbar. Mit einem jährlichen Einsatz von rund 10 Prozent der genannten 15 Milliarden Mark als Kofinanzierungsmittel könnten mindestens 100.000 zusätzliche Stellen auf lokaler Ebene geschaffen werden. Damit wäre es möglich, für einen großen Teil der heute schon langzeitarbeitslosen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einen Arbeitsplatz zu finanzieren.
Im Unterschied zu den Vorschlägen dauerhafter Subventionierung von Niedriglohnsektoren, setzt diese Handlungsalternative mit dem Schwerpunkt auf Förderung von Qualifizierung auf einen zeitlich befristeten Anschub und die Erschließung höherwertiger Arbeitsplätze.