Eine liberale Geschichte
Sowohl unter weltanschaulichen Gesichtspunkten als auch unter parteipolitischen wird in der Öffentlichkeit zurzeit viel über den Liberalismus diskutiert. Dieser ist in den vergangenen Monaten nämlich zunehmend in die Kritik geraten, nicht zuletzt in Folge der globalen Verwerfungen an den Finanzmärkten und der Wirtschaftskrise, die daraus resultierte. Unter anderem wird den Vertretern des Liberalismus vorgeworfen, die gegenwärtigen Probleme durch ordnungspolitische Nachlässigkeit strukturell erst ermöglicht zu haben (wenngleich selten erwähnt wird, dass es die rot-grüne Bundesregierung war, die 2005 die Aufweichung des Euro-Stabilitätspaktes vorangetrieben hat). Außerdem biete der Liberalismus nicht das nötige Rüstzeug, um die Krise erfolgreich zu bewältigen beziehungsweise aus ihr Lehren für die Zukunft zu ziehen. Des Weiteren geht es in der aktuellen Liberalismus-Debatte darum, in welche Richtung ein neues Grundsatzprogramm der FDP weisen könnte, das im Jahr 2012 den „Wiesbadener Beschlüssen“ von 1997 nachfolgen soll.
Bevor jedoch grundlegende liberale Antworten auf die politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts formuliert werden, lohnt sich ein Blick in die Vergangenheit. Was die Programmatik anbelangt, lässt sich eine interessante historische Konstante beobachten: Politisch erfolgreich war der Liberalismus immer dann, wenn das Kollektiv hinter das Individuum zurücktrat. Das unterschied den Liberalismus maßgeblich von den beiden anderen großen Fortschrittsideologien, vom Sozialismus und vom Nationalismus. Wurde diese Grenzlinie jedoch überschritten, dann standen liberale Grundüberzeugungen zur Disposition. Der Liberalismus veränderte seinen Charakter. Und für die liberalen Parteien war dies stets mit politischem Machtverlust verbunden.
Nehmen wir etwa die Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg, als die meisten Liberalen einer imperialistischen Politik anhingen, für die nicht der Einzelne, sondern die Nation den höchsten Wert darstellte. Das Bekenntnis zur Nation schwächte die Bereitschaft, sich für eine liberale Werteordnung einzusetzen, was wiederum dazu führte, dass in den Jahren vor 1914 die Sozialdemokratie zur stärksten politischen Kraft aufsteigen konnte. Oder blicken wir auf die zweite Hälfte der Weimarer Republik: Damals hatten sich die liberalen Parteien auf Gedeih und Verderb mit der Wirtschaft liiert und waren daraufhin bei den Wahlen in die Bedeutungslosigkeit abgestürzt. Bei der Wahl zur Deutschen Nationalversammlung 1919 hatten DDP und DVP zusammen mehr als 20 Prozent der Stimmen erhalten – bis zur Reichstagswahl im Juli 1932 stürzten sie auf zusammen gerade noch 2,2 Prozent ab. Verschwindend gering war der politische Einfluss, der ihnen verblieb. Stattdessen erfolgte der Aufstieg der radikalen Kräfte im linken und rechten Spektrum der Gesellschaft; eine Entwicklung, die bekanntlich im Januar 1933 in der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten kulminierte. Damit war das Schicksal der Liberalen vorerst besiegelt. Das wenige Wochen später von den Nazis erlassene generelle Parteienverbot war nur der Schlusspunkt eines Niedergangsprozesses, dessen Ursprung bis in die Mitte der zwanziger Jahre zurückreicht.
Der Einzelne und nicht die Gruppe
Auf der anderen Seite feierten Liberale immer dann ihre größten politischen Erfolge, wenn sie sich dezidiert um die Belange des Einzelnen bemühten. Etwa bei der Emanzipation der Frauen zu vollberechtigten Staatsbürgern, die von Liberalen – der bekannteste unter ihnen war der englische Philosoph und Staatstheoretiker John Stuart Mill – bereits seit der Mitte des 19. Jahrhunderts propagiert wurde, und somit lange bevor sich Vertreter anderer politischer Strömungen des Themas annahmen. Allerdings darf an dieser Stelle nicht verschwiegen werden, dass ein vergleichbares liberales Engagement im Zuge der zeitgleich stattfindenden jüdischen Emanzipationsbemühungen leider weitgehend ausblieb. Hier waren auch die Liberalen zu sehr dem Geist ihrer Zeit verhaftet.
Und selbst wenn der Zusammenbruch des Kommunismus nicht das vielzitierte „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) eingeläutet hat, handelt es sich bei den Ereignissen vom Herbst 1989 dennoch um einen Sieg des Liberalismus: Der Fall des Eisernen Vorhangs schuf die Grundlage für eine liberale Gesellschaftsordnung in Ost- und Mitteleuropa ganz im Sinne der Definition Ralf Dahrendorfs oder auch John Rawls’: Gleichheit vor dem Gesetz, gleiche politische Teilhabe und eine hinreichende Grundausstattung mit sozialen Lebenschancen. Erneut war es der Einzelne, nicht die Gruppe, der dabei im Vordergrund stand.
Für die Frage nach der Orientierung des modernen Liberalismus ist zudem aufschlussreich, welches Gesellschaftsbild dem historischen Liberalismus zugrunde lag. Wie standen seine Vertreter zum im 19. Jahrhundert auch hierzulande aufkommenden Industriekapitalismus und zur industriekapitalistischen Marktgesellschaft? Wer glaubt, das überzeugte Ja zum freien, ungeregelten Markt sei seit jeher ein Markenzeichen liberaler Politik, der irrt sich gewaltig. Der frühe Liberalismus verstand sich keineswegs als Prophet der freien Marktwirtschaft. Vielmehr war sein Ziel seit dem 19. Jahrhundert die Schaffung einer Mittelstandsgesellschaft, einer bürgerlichen Gesellschaft mit breiter Vermögensstreuung, die als ein wirksamer Gegenpol zu übergroßer Industrie- und Kapitalanhäufung wirken sollte. Liberale hatten den Industriekapitalismus weder kommen sehen noch vorausgedacht und mussten daher erst lernen, ihn in ihre Vision einer Gesellschaft gleichberechtigter Bürger „einzubauen“.
Dabei wird deutlich, dass der Liberalismus frühzeitig eine Pluralität von Sozialvorstellungen umfasste, in deren Zentrum stets die Forderung nach sozialem und ökonomischem Fortschritt stand, jedoch ausdrücklich keine industriekapitalistische Klassenpolitik. Mit dem so genannten Laissez-faire-Kapitalismus nach britischem Vorbild hatten kontinentaleuropäische Liberale nichts am Hut. Zwar forderten sie ökonomischen Fortschritt, plädierten jedoch zugleich für dessen soziale Einhegung. Eine industriekapitalistische Klassengesellschaft, wie sie sich in England im Zuge der industriellen Revolution ab der Mitte des 18. Jahrhunderts herausgebildet hatte, war zu keiner Zeit ihr Ziel. (Davon einmal abgesehen ist der Begriff „Manchesterliberalismus“ zu Unrecht ein durchweg negativ besetztes politisches Schlagwort geworden; dessen Anhänger wie David Hume oder Adam Smith plädierten zuvörderst für einen fairen Freihandel und gegen die oftmals militärische Ausbeutung der Kolonien.)
Kein sozialer Fortschritt ohne Bildung
Wer das bezweifelt, der möge einen Blick in die Schriften bekannter Liberaler des 19. Jahrhunderts wie Eugen Richter oder Karl von Rotteck werfen. Auch bei Friedrich Naumann finden sich dazu – einige Jahre später – recht eindeutige Positionen. So zählte zu Naumanns zentralen politischen Anliegen unter anderem die Lösung der sozialen Frage, wobei er der Bildung als Voraussetzung für gesellschaftlichen Fortschritt eine herausragende Bedeutung beimaß.
Als im Zuge der Industrialisierung gegen Mitte des 19. Jahrhunderts der Pauperismus schließlich auch Deutschland erreichte, waren es Liberale, die das Problem frühzeitig bemerkten und sich als erste um die kommunale Daseinsvorsorge in den nun stetig anwachsenden Städten bemühten. Dazu gehörten die Straßenreinigung und die Müllabfuhr, aber auch der Bau von Badeanstalten, Museen und Krankenhäusern. Früher als andere hatten sie erkannt, dass die individuelle Vorsorge angesichts der gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklung sowie des einsetzenden Bevölkerungswachstums an ihre Grenzen stoßen würde. Lange vor Einführung von Arbeitslosen-, Renten- und Unfallversicherung zogen sie daraus die Konsequenz, dass die Lebenschancen des Einzelnen fortan kollektiv zu schützen seien. Besonders in den Städten, wo die größte Not herrschte, war die Betreuung der Armen sowie die Errichtung sozialer und schulischer Infrastruktur für die unteren Gesellschaftsschichten lange Zeit ein Alleinstellungsmerkmal liberaler Politik. Auch hier lautete die Maxime: Im Mittelpunkt steht das Individuum, während das Kollektiv nur ein Mittel zum Zweck ist. Das liberale Erfolgsrezept im Jahrhundert des Liberalismus – denn das war das 19. Jahrhundert – setzte eben nicht auf den schwachen „Nachtwächterstaat“, sondern auf Freiheit zum und im Staat.
Gegen den konservativ erstarrten Sozialstaat
Vor diesem Hintergrund beschäftigten sich in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts auch Ralf Dahrendorf und John Rawls mit der Frage, was eine Gesellschaft und einen Staat heute und in Zukunft liberal macht. Ihre Denkansätze eint, dass sie eine historische Herangehensweise mit systematischen Überlegungen verbinden. Unabhängig voneinander kommen Dahrendorf und Rawls zu dem Ergebnis, dass die Grundlage einer fairen Gesellschaftsordnung die bereits erwähnte Dreiheit von Bürgerrechten ist: Gleichheit vor dem Gesetz, gleiche Teilhabechancen und hinreichende soziale Sicherung. Während jedoch die beiden erstgenannten mittlerweile zum unverzichtbaren Grundgerüst einer jeden liberalen Gesellschaft zählen, erkennt Dahrendorf im dritten, sozialen Bürgerrecht, eine Aufgabe, für die unsere Zeit neue Lösungen finden müsse. Den Wohlfahrtsstaat als Agentur zur Absicherung von Sozialrisiken und zur Verteilung von Sozialchancen – kurz: den sozialen Interventionsstaat des 20. Jahrhunderts – hält Dahrendorf für bürokratisch verkrustet und konservativ erstarrt; insgesamt behindere er den Einzelnen mehr, als dass er ihm nutze.
Doch ist der Schluss, den er daraus zieht, keine Kombination von Minimalstaat und Maximalmarkt. Dahrendorf glaubt nämlich nicht an das Regelungswunder des Marktes. Vielmehr schwebt ihm die Umwandlung des bestehenden Sozialstaates in einen „Sozialstaat der Zukunft“ vor, in dem das Verhältnis von gesellschaftlicher und individueller Verantwortung eine neue Gewichtung erhält (in diesem Zusammenhang denkt Dahrendorf unter anderem über ein Grundeinkommen für alle nach). Die Bürgerliche Gesellschaft – die Vision des historischen Liberalismus seit seiner Entstehung – übersetzt Dahrendorf mit „Lebenschancen“, erzeugt durch die „Verbindung von Staatsbürgerrechten und Wohlfahrtschancen“ mit dem Ziel, alle Menschen zu befähigen, „am Leben der Gesellschaft als Staatsbürger teilzunehmen“ und „die Errungenschaften ihrer Zeit zu genießen“. Eine solche Gesellschaft sei nicht mehr primär innerhalb der Grenzen des historisch überkommenen Nationalstaates verankert, sondern in einer liberalen Weltgesellschaft, dem großen Zukunftsprojekt unserer Zeit. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sei der Nationalstaat zwar noch unverzichtbar, er müsse aber mittelfristig überwunden werden.
Dahrendorf plädiert also für einen reformierten liberalen Sozialstaat, der es vermag, der „sozialen Frage“ ihre Sprengkraft zu nehmen. Dabei stellt die soziale Frage der Gegenwart ein im Grunde altes Problem neu zur Debatte: Welche sozialen Voraussetzungen müssen erfüllt sein, um eine Form von Staatsbürgerschaft zu gewährleisten, die „Gerechtigkeit als Fairness“ (John Rawls) zum Programm hat?
Liberale sind keine Revolutionäre und waren es nie – außer im Kampf gegen totalitäre Systeme. Ihre Reformmethode sind die vielen kleinen Schritte. Karl Popper hat den Liberalismus deswegen einmal eine „evolutionäre Überzeugung“ genannt. Und von Ralf Dahrendorf stammt der Hinweis, man verändere die Welt nicht durch das Versetzen von Bergen, sondern durch Steine, die ins Rollen gebracht werden.
Mehr als Demokratie plus Marktfreiheit
Gleichwohl war das liberale Credo, das Kollektiv müsse hinter das Individuum zurücktreten, im 19. und auch noch im 20. Jahrhundert ein Alleinstellungsmerkmal liberaler Politik, das sowohl aufgrund seiner Fortschrittlichkeit als auch wegen seiner zukunftsweisenden Strahlkraft im Rückblick durchaus als revolutionär bezeichnet werden kann. Und auch wenn die liberalen politischen Parteien davon nur bedingt profitierten (das 20. Jahrhundert war, wie Dahrendorf es einmal nannte, ein sozialdemokratisches Jahrhundert), ist ein Liberalismus, der sich in seiner Programmatik nicht auf das Konzept Demokratie plus Marktfreiheit verengen lässt, auch weiterhin aktuell – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Erfahrungen, die das 20. Jahrhundert mit totalitären Regimen gemacht hat. Hinzu kommt, dass mit einer Bürgerlichen Gesellschaft jenseits nationalstaatlicher Denkmuster in absehbarer Zeit eine der großen Visionen des Liberalismus Wirklichkeit werden könnte. Gerade in einer Zeit, in der Verteilungsprobleme aller Voraussicht nach nicht mehr wie bisher durch kontinuierliches Wachstum übertüncht werden können, ist ihre faire Gestaltung für den politischen Liberalismus Herausforderung und Chance zugleich. «