Eine neue poltische Generation tritt auf die Bühne
Der 25. Januar 2011 bezeichnet eine Zäsur in der Geschichte Ägyptens, die folgenreiche Auswirkungen auf den gesamten Nahen Osten haben kann. An diesem Tag hat eine junge Gesellschaft begonnen, ein altes Regime abzuschütteln. Denn Ägypten ist ein Land der Jugend. Rund 60 Prozent der 85 Millionen Einwohner sind jünger als 30 Jahre. Die Bevölkerung wächst jedes Jahr um 1,9 Prozent. Nahost-Experten haben immer wieder davor gewarnt, dass die Masse dieser Jungen – enttäuscht, perspektivlos und wütend – dem religiösen Extremismus in die Hände fällt. Sie haben sich ebenso geirrt wie die Muslimbrüder, die eben darauf gehofft haben. Die jungen Demonstranten – und die Demonstrantinnen – haben alle überrascht. Mit Fundamentalismus haben sie nichts am Hut. Sie haben das alte autoritäre Regime nicht bekämpft, um eine neue Diktatur radikaler Prediger in den Sattel zu heben. Stattdessen wollen sie die Bevormundung abschütteln, egal aus welcher ideologischen Ecke diese kommt. Viele fühlen religiös, aber auf die Straße gegangen sind sie für ihre Würde als freie und moderne Menschen, für ein Leben ohne die allgegenwärtige Korruption, die so entwürdigend ist. Sie haben mit Mut und Witz und Einfallsreichtum protestiert. Die Forderung nach dem Abtritt von Präsident Hosni Mubarak, den die Demokratiebewegung am 11. Februar erzwang, hat sie alle vereint. Ich habe in diesen 18 Tagen der Revolution von 30-Jährigen den Satz gehört: „Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich stolz, Ägypter zu sein.“ Es ist der Stolz, den gekauften Prügelhorden des Regimes nicht gewichen zu sein, der Stolz, aufrecht zu gehen und den Aufbruch selbst geschafft zu haben. Hier betritt eine neue politische Generation die Bühne.
Am 25. Januar haben sich Tausende Ägypter auf dem Tahrir-Platz versammelt, der übersetzt Befreiungsplatz heißt, aber für uns bis dahin nur mit Verkehrslärm, Hupkonzerten und Stau verbunden war und mit dem wenig erhebenden Anblick der „Mogamma“, die am Platz liegt: der größten Verwaltungszentrale des ägyptischen Staates, eine Art monströses „Bürgeramt“ und Sinnbild der Schikane. Die Geschichte und das Datum dieser ersten Demonstration sind wichtig. Sie zeigen die Ursprünge der Revolution. Auf Facebook gab es schon seit Monaten die Gruppe „Wir alle sind Khaled Said“. Khaled Said war ein Blogger in Alexandria. Im Juni 2010 hat Mubaraks Polizei ihn verhaftet, gefoltert und ermordet. In den sozialen Netzwerken sammelte sich der Protest. Organisiert wurde er von einer lange anonymen Person, von der wir jetzt wissen, dass es der ägyptische Nahostmanager von Google, Wael Ghoneim, war. Er lebt und arbeitet in Dubai. Die Gruppe „Wir alle sind Khaled Said“ rief dazu auf, am 25. Januar auf die Straße zu gehen und gegen das Regime zu protestieren. Der Tag war kein Zufall: Der 25. Januar war seit ein paar Jahren der so genannte Tag der Polizei, ein lächerliches Propaganda-Theater, bei dem der „Dank“ der Menschen an „ihre“ Polizisten inszeniert wurde.
Am 26. Januar 2011 erschien die regimenahe Tageszeitung Al Ahram ungeachtet der Demonstrationen des vorigen Tages auf der ersten Seite mit der Schlagzeile „Schokolade und Blumen für die Polizisten an ihrem Fest“. Wer sich die Wut und die Verachtung vorstellen kann, mit der die Ägypter auf die Polizei des Regimes reagieren, bekommt ein Gefühl für die absurde Provokation eines solch verlogenen Jubeltages. Der Polizeiapparat und das Innenministerium, aber auch die Justiz, zahlreiche Staatsanwälte und Richter, gehören zu den korruptesten, rücksichtslosesten und unfähigsten Institutionen des Landes. Unzählige Menschen brachte das zur Verzweiflung. Wer sich mit viel Schmiergeld nicht herauskaufen konnte oder wollte, landete in einem Irrgarten von Repression und Prozessen, die sich nicht selten über viele Jahre, über mehr als ein Jahrzehnt hinzogen, was auch kein Wunder war, denn das System lebte davon, immer mehr Schmiergeld aus den Menschen zu saugen. Für viele Bürger der Mittelschicht, für Kleinunternehmer, aber natürlich auch für die Armen der Gesellschaft brachte dieses System eine unerträgliche soziale Ungerechtigkeit. Gewalt und Korruption haben diese Menschen erniedrigt. Die Brutalität der Polizei, wie sie der Mord an Khaled Said zeigte, und die in alle Bereiche des öffentlichen Lebens wuchernde Bestechlichkeit – das gab am 25. Januar den Ausschlag, nicht mehr einfach stillzuhalten.
Demonstranten in Alexandria sagten zu westlichen Reportern: „Wir wollen leben wie ihr!“ Und das war nicht nur materiell gemeint. Es hieß auch: Wir wollen eine moderne Gesellschaft, in der die Bürger Rechte haben, Respekt erfahren und etwas gelten. Politische Reformen und Wahlen innerhalb des Regimes waren aber unmöglich. Die Parlamentswahlen im November 2010 hatten es noch einmal gezeigt. Noch nie waren die Wahlen so offen und schamlos manipuliert und gefälscht worden. Sie sollten den Weg ebnen für die Erbfolge des Mubarak-Clans und die Macht sichern für die Ernennung von Gamal Mubarak als Präsidentschaftskandidat bei den Wahlen, die für September 2011 geplant waren. Diese Aussicht war zutiefst deprimierend. Eine Wende im Bewusstsein brachte dann die Revolution in Tunesien. Am Beispiel Tunesiens sahen die Ägypter, wie ein unbezwingbar erscheinendes Regime, das noch dazu die Unterstützung des Westens besaß, binnen weniger Tage wanken und stürzen kann. Das war ein Vorbild. Es hat Mut gemacht.
Es gibt jetzt eine demokratische Alternative
Mubarak hatte schon lange massiv an Ansehen verloren. Überall wurde geschimpft über die Unfähigkeit des Regierungsapparates. Dennoch stimmt es, dass die ägyptische Mittelschicht, das etablierte Bürgertum, Bildungs- und Kultureliten, aber vor allem auch das private Unternehmertum in einer Mischung aus Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit eine Art Stillhaltepakt mit dem Regime geschlossen hatten. So wie die Regierungen Europas und der Vereinigten Staaten sich an Mubarak klammerten, weil er Stabilität zu garantieren schien, so sagten auch viele Ägypter, ohne den Präsidenten würden religiöse Extremisten die Oberhand gewinnen. Viele Kopten dachten so, weil sie den Islamismus fürchten. Und doch war das eine Illusion. Das Regime hielt Konflikte nicht im Griff, es schürte sie geradezu. Heute wissen wir, dass auch religiöse Auseinandersetzungen zwischen Muslimen und koptischen Christen vom Geheimdienst angeheizt wurden. Alles nur, um Notstand, Unfreiheit und Diktatur als alternativlos erscheinen zu lassen. Aber am 25. Januar platzte der Knoten, der uns die Luft zum Atmen und Denken zu lange abgeschnürt hat. Die Wahl heißt nicht mehr entweder Mubarak oder die Fundamentalisten. Es gibt jetzt eine demokratische Alternative, berechtigten politischen und sozialen Protest offen zu äußern. Kein Demokrat sollte davor Angst haben.
Um Mubaraks Regime zu verstehen und den Weg in eine bessere Zukunft zu finden, muss man allerdings auch über die enge Verflechtung von Neoliberalismus, Günstlingswirtschaft, Bestechlichkeit und Veruntreuung reden. Zugespitzt könnte man sagen: Die Korruption hatte in Ägypten ein Doppelgesicht: auf der einen Seite der autoritäre Staat, auf der anderen die kapitalistische Wirtschaft. Die aggressive neoliberale Wirtschaftspolitik führte zu Unmut in der Bevölkerung über die steigenden Preise und die wachsende Arbeitslosigkeit. Diese Politik kam nur einem Bruchteil der ägyptischen Bevölkerung zugute, vor allem einer schmalen Kaste, die sich mit allen Mitteln bereicherte. Die Anhänger des Neoliberalismus in Europa und in den Vereinigten Staaten sollten erkennen: Nicht nur die Diktatur, auch das neoliberale Wirtschaftsmodell hat in Ägypten versagt.
Beobachter haben lange geglaubt, das beachtliche Wirtschaftswachstum Ägyptens von durchschnittlich fünf Prozent in den letzten Jahren sei allein schon Zeichen einer guten Entwicklung. Noch so ein Irrtum. Nicht gefragt wurde nach der Qualität dieses Wachstums. Dabei gab es genug Gründe zu zweifeln, ob die Gesellschaft gewinnt, ob fairer Wettbewerb möglich wird, ob die Leute sich aus der Armut hocharbeiten können, ob sich die Bildungschancen verbessern.
Die wichtigsten Wirtschaftszweige waren in den Händen weniger ägyptischer Geschäftsleute, die entweder mit der Familie Mubarak oder den Familien hoher Repräsentanten des Regimes verwandt oder eng befreundet sind. Söhne, Schwiegerväter, Onkel, Schulfreunde oder Kommilitonen aus der Universität brachten ihre Schäflein ins Trockene. Der Nepotismus hatte ganze Bereiche der Wirtschaft fest im Griff. Viele Minister der Regierung waren zugleich Großunternehmer. Ihre Ressorts hatten direkt mit dem Geschäft ihres Unternehmens zu tun. Der Vertreter von Unilever in Ägypten wurde zum Minister für Handel- und Industrie, ein Vertreter der Hotelkette Accor war Tourismusminister. Entscheidungen über Standorte, Grundstücke, Gesetze und Verordnungen bedienten geradewegs den Profit ihrer Unternehmen. Eine beachtliche Zahl der Mitglieder des Parlaments waren Geschäftsleute, die Millionen in Wahl- beziehungsweise Bestechungskampagnen investierten, um ein Mandat zu bekommen. Wer dann im Parlament war, spekulierte darauf, durch politische Begünstigung einen „return on investment“ einzufahren. Ein weiteres Beispiel ist der Verkauf staatlicher Grundstücke, die eigentlich für den Bau von Wohnungen für die arme Bevölkerung bestimmt waren. Sie gingen an Freunde und Verwandte des Mubarak-Clans. Auf diesem Land entstanden Luxusobjekte für die Reichen des Landes. Siedlungen wuchsen aus dem Boden, deren Namen sich wie eine Mischung von Hollywood und Disney-Land anhören: Beverly Hills, Dreamland, Le Rêve, Green Heights, Palm Hills. Privates Wachpersonal, Zäune und schrankenbewehrte Zugangsstraßen machen klar, wer hier hingehört und wer nicht. Die untere Mittelschicht und die Armen fanden keinen Zugang zu diesem „Boom“ der Klientelpolitik.
Niemand will sein Kind den staatlichen Schulen überlassen
Gescheitert ist die Privatisierung des Gesundheits- und Bildungssystems. Vor allem für die Grundversorgung fehlte das Geld. Während Privatkliniken und Privatschulen für schwindelerregende Gebühren gute Leistungen anbieten, ist das Niveau der öffentlichen Versorgung für die breite Bevölkerung stetig gesunken. Begehrt sind die internationalen Schulen und Universitäten, die in Partnerschaft mit Frankreich, Deutschland oder den USA entstanden, aber die Plätze sind beschränkt und die Schul- und Studiengebühren sind inzwischen so hoch, dass der Druck selbst auf leidlich gut verdienende Eltern immer weiter wächst. Diese Schulen kosten zwischen 3.000 und 7.000 Euro im Jahr – ein schon weit überdurchschnittliches Gehalt im mittleren Management eines internationalen Unternehmens beträgt rund 20.000 Euro im Jahr. Und dennoch schicken auch diese Gehaltsgruppen ihre Kinder auf teure Privatschulen. Niemand, der es irgendwie ermöglichen kann, will sein Kind den staatlichen Schulen überlassen. Zugleich hat Ägypten eine der höchsten Analphabetenraten weltweit; rund 40 Prozent der Bevölkerung können nicht lesen und schreiben. Das ist kein Schicksal, sondern politisches Versagen. Denn die Verwahrlosung des staatlichen Bildungssystems spottet jeder Beschreibung. Lehrer an öffentlichen Schulen werden so schlecht bezahlt, dass sie mit privat bezahlten Nachhilfestunden ihr Einkommen aufbessern. Die Qualität des eigentlichen Unterrichts nimmt ab. Schüler, die sich keine Nachhilfe leisten können, werden benachteiligt. Auch hier hat sich das Geschwür der Korruption breitgemacht. Denn nicht wenige Lehrer begannen, gute Noten von Nachhilfestunden abhängig zu machen – eine perfide Form der Bestechlichkeit auf Kosten der Kinder.
Die momentane wirtschaftliche Situation ist sehr prekär. Zunehmende Arbeitslosigkeit birgt sozialen Sprengstoff und kann den politischen Protesten eine neue, sozialradikale Richtung geben. Der Druck steigt. Zu den strukturellen Problemen treten jetzt die akuten Einbrüche, die der unklaren politischen Situation geschuldet sind: Jeder fünfte Arbeitsplatz hängt vom Tourismus ab. Aber die Belegungsquote in den ägyptischen Hotels beträgt lediglich sechs bis sieben Prozent. Die Gäste bleiben aus. Das belastet auch andere Wirtschaftszweige: den Dienstleistungssektor, die Lebensmittelindustrie oder die Bauwirtschaft. Zugleich müssen aufgrund des Bürgerkriegs in Libyen Hunderttausende ägyptische Gastarbeiter zurückkehren. Zuhause finden sie nicht so leicht einen neuen Arbeitsplatz. Überweisungen von Auslandsarbeitern sind eine ganz wesentliche Einkommensquelle der Ägypter. Viele Familien, die davon abhängen, geraten in Not.
Hinzu kommt, dass der Transfer von Devisen ins Ausland sehr schwierig geworden ist. Nur kleine Beträge sind erlaubt. Die Regierung fürchtet den Abfluss von Kapital, was jedoch das lebenswichtige Importgeschäft erschwert. Ägypten ist nicht nur abhängig vom Import von Industrieprodukten und Investitionsgütern, sondern auch von der Einfuhr von Lebensmitteln. Versorgungsengpässe sind eine reale Gefahr. Eine nahezu unausweichliche Folge der Korruption ist ferner, dass derzeit keine Lizenzen mehr ausgestellt werden für den Betrieb von Industrieanlagen. Der Chef der zuständigen Behörde sitzt in Untersuchungshaft. Das Amt wird umstrukturiert. Neue Investitionen werden blockiert. Auch internationale Investoren haben ihre Entscheidungen für ein neues Engagement auf Eis gelegt, bis sich die politische Lage stabilisiert hat.
Nie war es so aufregend und befreiend
Ägypten durchläuft in diesen Monaten eine Phase ambivalenter Emotionen. Nie war es so aufregend und befreiend, ägyptische Talkshows zu sehen oder Zeitungen zu lesen. Eine lange aufgestaute Welle der offenen Diskussion bricht sich Bahn. Legendär ist die stundenlange Sendung mit dem noch von Mubarak eingesetzten Premierminister Ahmed Shafik, der sich unter ungewohnt harten Fragen selbst derart bloßstellte, dass er zurücktreten musste. Das Land ist in Aufruhr. Viele Ex-Minister sitzen in Untersuchungshaft: Der Innenminister wird wegen Geldwäsche und der gezielten Tötung von Demonstranten angeklagt, der Bauminister und der Tourismusminister wegen Korruption. In Haft ist auch einer der ägyptischen Tycoons, Ahmed Ezz, der nicht nur die Stahlindustrie monopolisiert hat, sondern auch ein enger Vertrauter von Gamal Mubarak und Mitglied des ägyptischen Parlaments ist. Der ehemalige Handels- und Industrieminister befindet sich im Ausland und wurde ebenfalls wegen Korruption verklagt. Der Unmut wächst, denn je mehr Informationen über diese Vergehen bekannt werden, desto größer wird die Erwartung, dass es auch zur Anklage und Verurteilung kommt.
Hinzu kommt die Sorge, dass die Revolution doch noch von den gut organisierten Muslimbrüdern gestohlen wird. Die Freilassung von Abboud El Zommor hinterlässt ein großes Fragezeichen: Im Jahr 1981 ermordete er Anwar El Sadat und ist Mitglied der Brüder. Seine Haftzeit war schon abgelaufen, er wurde unter dem Notstandsgesetz weiter festgehalten. Jetzt kam er frei. Dass er als Gast in allen wichtigen politischen Talkshows auftrat, wurde als Sensation gehandelt. Doch unbeantwortet bleibt, ob der Islamismus inmitten der Unsicherheit stärker wird.
Die demokratische Revolution hat keinen Führer hervorgebracht und auch keine neue Partei, die Aussichten auf eine Mehrheit in freien Wahlen hätte. Die Führungslosigkeit dieser Bewegung, die in den entscheidenden Stunden, als alles auf der Kippe stand, trotzdem eine bezwingende Stärke hatte, macht sie so einzigartig. Doch in der jetzigen Phase der Transformation stellt dies ein gravierendes Problem dar. Die jungen Aktivisten, die die Revolution auf die Plätze gebracht und vorangetrieben haben, sind nicht in die politischen Entscheidungen einbezogen. Als Mubarak am Ende war, füllte die Armee das Machtvakuum mit dem 75-jährigen Verteidigungsminister Hussein Tantawi. Einerseits übernahm die Armee die segensreiche Rolle, die Gewaltausbrüche von Anhängern des alten Regimes gegen die Demonstranten einzudämmen. Sie drängte auf Mubaraks Rücktritt, sicherte die Revolution und verhinderte einen Bürgerkrieg. Die Bilder der jubelnden Menschen, die auf Panzer steigen und die Soldaten umarmen, geben ein allgemeines Gefühl wieder. Die Armee genießt unter den staatlichen Institutionen den größten Respekt.
Weichenstellungen im Verborgenen
Andererseits aber fallen jetzt grundlegende Entscheidungen im Anonymen, werden Weichenstellungen im Verborgenen vorgenommen. Genau deshalb hat das vom Militärrat vorbereitete Verfassungsreferendum am 19. März und ein neues Parteiengesetz unter den Aktivisten und Sympathisanten der Demokratiebewegung viel Unmut hervorgerufen. Man fühlte sich überrumpelt, kritisierte die Eile und die wenigen, ungenügenden, in Teilen auch nicht gerade fortschrittlichen Änderungen an der Verfassung. Beispielsweise sollen künftige Präsidenten nicht mit einer ausländischen Person verheiratet sein dürfen. Viele Kritiker übersehen allerdings den Prozesscharakter dieses Zwischenschritts. Denn die Verfassungsänderungen öffnen den Weg für freie Parlaments- und Präsidentschaftswahlen, die das Interregnum des Militärs verkürzen und bereits in diesem Jahr eine neue, demokratisch legitimierte Regierung ins Amt bringen können. Eine im Internet gestartete „Nein“-Kampagne hatte keinen Erfolg. Die Wahlbeteiligung betrug 41 Prozent – ägyptischer Rekord. 14 Millionen Ja-Stimmen standen nur 4 Millionen Nein-Stimmen gegenüber.
Die neuen politischen Aktivisten versuchen sich zu organisieren, um bei den Parlamentswahlen eine Rolle spielen zu können. Sie sind darauf nicht vorbereitet, und die Zeit ist knapp. Die einzigen schon organisierten politischen Kräfte sind die alten Kader von Mubaraks Nationaldemokratischer Partei sowie die Muslimbrüder. Der Kampf der neuen politischen Generation um die Freiheit ist also noch nicht zu Ende. Er muss jetzt andere Formen annehmen. Es geht nicht mehr nur um spontane Kundgebungen auf der Straße und Twitter-Botschaften, sondern um organisierte Versammlungen und politische Programme.
Ägypten braucht „politische Bildung”. Wenn aus dem Aufbruch zur Demokratie ein erfolgreiches neues Modell der Modernisierung werden soll, muss das politische Selbstbewusstsein breiter Schichten der Gesellschaft gestärkt werden. Die freien Wahlen zu Parlament und Präsidentschaft in diesem Jahr zeigen, worum es geht: Die meisten Ägypter waren mit dem März-Referendum über die Verfassungsänderungen überfordert. Viele haben die Änderungen nicht verstanden und konnten den Diskussionen der Politiker und Intellektuellen in den Medien nicht folgen. Die Geschwindigkeit des Umbruchs erklärt dieses Problem nur zum Teil. Die Bedeutung von Verfassung und Gewaltenteilung, die grundlegende Rolle eines frei gewählten Parlaments und die Idee der politischen Kontrolle und Machtbeschränkung auch des Präsidenten sind gesellschaftlich in keiner Weise verankert. Die Aufgabe von Parteien ist nicht klar. Es fehlt ein allgemeines Bewusstsein für die Demokratie. Und es fehlt die Urteilskraft in schwierigen Streitfragen, etwa wenn es um wirtschaftspolitische Grundorientierungen oder das Verhältnis von Religion und Staat geht. Diese politische Bildung ist eine große und langfristig anzulegende Aufgabe. Dabei ist niemandem geholfen, wenn von internationalen Theoretikern Lehrbuchweisheiten verbreitet werden, die keine Antwort auf die konkreten Probleme des Landes geben. Die Ägypter müssen die politische Bildung selbst leisten. Glaubwürdige Persönlichkeiten, Aktivisten der Demokratiebewegung oder Intellektuelle, die ihre Unbestechlichkeit unter Beweis gestellt haben, sollten diese Aufgabe übernehmen. Das Land braucht Demokratielehrer, denen die Menschen zuhören, weil sie etwas über ihren Alltag erfahren. Von überragender Bedeutung ist hierbei die Zivilgesellschaft. Politische Stiftungen und NGOs, auch die deutschen Stiftungen können jetzt ihre Arbeit ausweiten. Projekte der politischen Bildung brauchen finanzielle Hilfe. Expertise in Sachen Demokratie aber ist durchaus auch in Ägypten vorhanden. Die vielen mutigen Frauen und Männer der neuen politischen Generation sollten bei diesen Projekten eine maßgebliche Rolle spielen. Sie lehren uns nicht zuletzt an ihrem eigenen Beispiel, was Zivilcourage bedeutet.
Es mangelt an Ressourcen und Vernetzung
Ägypten hat ein Netzwerk funktionierender Nichtregierungsorganisationen (NGO), die sich ein liberales NGO-Gesetz wünschen. In den vergangenen Jahren haben sie unter massiven Schwierigkeiten gearbeitet. Der ägyptische Geheimdienst beobachtete ihre Aktivitäten ständig. Politische NGOs waren unerwünscht. Nun aber wird sich die ägyptische Zivilgesellschaft neu organisieren. Sie wird ihr Netzwerk in Ägypten und außerhalb neu bilden. Diese Organisationen werden auf der Suche nach internationalen Partnern sein. In Ägypten mangelt es nicht an Ideen oder intellektuellen Kapazitäten. Es mangelt an finanziellen Ressourcen und internationaler Vernetzung.
Politische Bildung sollte Hand in Hand gehen mit der Bekämpfung des Analphabetismus, den das Mubarak-Regime systematisch ignoriert hat. Die Verführbarkeit der Menschen durch radikale Prediger oder staatliche Propaganda hat nicht zuletzt mit ihrer Unfähigkeit zu tun, selbst zu lesen und sich in Ruhe ein Urteil zu bilden. Lesekompetenz ist ein Schlüssel zur demokratischen Meinungsbildung. Die Demokratie muss auch in den armen Vierteln und auf den Dörfern Einzug halten. Das ist die größte Herausforderung der politischen Bildung: nicht nur weitere Seminare für die Bildungselite der privaten Schulen und Universitäten, sondern mutige neue Projekte, die Grundsatzarbeit für breite Schichten leisten.
Ägypten braucht ein Aktionsprogramm zur Senkung der Analphabetenrate auf
20 Prozent in den nächsten fünf Jahren und auf 10 Prozent bis 2020. Jordanien hat seine Analphabetenrate binnen zwanzig Jahren von mehr als 30 auf heute rund 10 Prozent gesenkt. Ägypten muss diese Zielmarke mehr als doppelt so schnell erreichen. Das ist das Kernprojekt eines neuen Entwicklungsmodells. Niemand sollte diese Aufgabe unterschätzen. Sie zu bewältigen ist wahrscheinlich schwieriger, als es für die USA war, einen Mann auf den Mond zu bringen. Sie erfordert höchste Ambition, bei den ägyptischen Institutionen genauso wie bei den internationalen Partnern. Diesen möchte man sagen: Gebt uns weniger Waffen, aber mehr Schulen. Die Bekämpfung des Analphabetismus in Ägypten sollte eine verpflichtende Komponente eines jeden Projektes der Entwicklungszusammenarbeit sein, so wie die Gender-Dimension in fast jedes internationale Projektes integriert wird.
Ägypten braucht eine soziale Marktwirtschaft. Hier ist Deutschland ein Vorbild. Die Verwirklichung von Wirtschaftsreformen, die bei allen Schichten der Bevölkerung ankommen, ist die größte Herausforderung jeder künftigen Regierung. Die Gefahr besteht darin, dass die Menschen, vor allem die Jugendlichen die Geduld verlieren, wenn sich die wirtschaftliche Lage nicht in absehbarer Zeit verbessert.
Abschied vom Neoliberalismus
Ägypten sollte sich von der harten neoliberalen Wirtschaftspolitik verabschieden. Es ist eine Provokation, wenn Zeitungen wie Al Ahram voll sind mit Werbeanzeigen für Privatuniversitäten, Privatkliniken und Luxus-Siedlungen. Wie kann es sein, dass in einem so armen Land die Medien derart von den Lebensentwürfen der Oberen Zehntausend dominiert sind? Ägypten braucht eine neue Wertschätzung für die öffentliche Versorgung mit den grundlegenden Leistungen bei Bildung, Gesundheit und Wohnraum. Der Staat muss seine Aufgabe neu bestimmen. Er muss Investitionen mobilisieren, um das Niveau der Grundversorgung zu heben. Wenn er dabei mit Privaten kooperiert, muss er sicherstellen, dass die Leistungen für die breite Masse der Menschen zugänglich sind. Wer diese Ziele erreichen will, muss neu über die Steuerpolitik reden. Ägypten hat eine Flat Tax in Höhe von 20 Prozent auf Einkommen. Die effektive Steuerbelastung der Wohlhabenden ist für ein armes Land skandalös niedrig. Eine maßvolle neue Steuerpolitik, die progressive Elemente einführt und eine gerechtere Steuerlastverteilung verbindet mit einer neuen Konzentration staatlicher Ausgaben auf Bildung und Gesundheit, kann Signalcharakter haben: Die Gesellschaft findet neu zusammen und begreift ihre Zukunft als gemeinsame Aufgabe aller sozialen Schichten. Die Wohlhabenden isolieren sich nicht, sondern übernehmen Verantwortung für ihr Land.
Ägypten benötigt zudem ein Aktionsprogramm gegen Korruption. Dabei sollte es ganz bewusst auf fairen Wettbewerb setzen. Denn die Einführung der Marktwirtschaft in den siebziger Jahren hatte gute Seiten, die man jetzt nicht vergessen sollte. Durch sie wurden Versorgungsengpässe beseitigt und kleinen Unternehmern Spielräume gegeben. Man muss auch das vorbildliche Verhalten internationaler Investoren erwähnen. Es gibt deutsche Unternehmen, die einen strengen Corporate Governance Codex eingehalten und daher auf Staatsaufträge unter dem alten Regime verzichtet haben. Spektakuläre Korruptionsfälle, die von Großunternehmern begangen wurden, dürfen nicht zu einem unternehmerfeindlichen Klima führen. Im Gegenteil: Korruption und Klientelismus zu bekämpfen, kann ein neues Unternehmertum hervorbringen, das seine Verantwortung für fairen Wettbewerb, saubere Bilanzen und gute Arbeitsbedingungen wahrnimmt. Ägyptens Wirtschaftspolitik sollte sich in den nächsten Jahren auf die Unterstützung von klein- und mittelständischen Unternehmen (KMU) konzentrieren, die das Rückgrat einer gesunden Wirtschaft bilden. Die KMU haben zwar in den vergangenen Jahren von der liberalen Wirtschaftspolitik profitiert, jedoch standen Korruption und Bestechung immer wieder im Weg und haben die Unternehmer daran gehindert, mehr Wachstum und Beschäftigung zu erzielen. Die Beispiele dafür sind zahllos. Am Ende werden alle Wirtschaftsakteure des Landes von der Bekämpfung der Korruption und der Stärkung des Rechtssystems profitieren.
Ägypten muss bei den Rechten der Frauen weiter vorangehen. Auch weil Suzanne Mubarak, die Ex-First Lady, Frauenrechte zu ihrer Sache gemacht hatte, gab es in den vergangenen Jahren Fortschritte im Familienrecht. Scheidungen wurden erleichtert. Eine geschiedene Frau, die das Sorgerecht für ihre Kinder hat, darf heute die Schule für sie aussuchen. Früher gab es Tausende von Kindern, die wegen Streitigkeiten zwischen geschiedenen Eltern keine Schule fanden. Das reicht aber noch nicht. Zum Beispiel verliert eine geschiedene Frau, wenn sie wieder heiratet, das Sorgerecht für ihr Kind. Es gibt viele andere Probleme der Benachteiligung. Dazu gehört auch der geringe Anteil von Frauen in wichtigen Ämtern, im Justizwesen, aber auch in der Politik. Das gerade eingeführte Quotensystem für den Anteil weiblicher Abgeordneter im ägyptischen Parlament muss erhalten bleiben. Jetzt gibt es Kräfte, die alles wieder abschaffen wollen, was erreicht wurde. Dies muss verhindert werden.
Die nächsten Jahre werden kompliziert – aber der erste Schritt ist getan
Zu den sensiblen sozialen Fragen gehört vor allem das Zusammenleben von Muslimen und Kopten. Zehn Prozent der ägyptischen Bevölkerung sind koptische Christen; sie haben im Land eine große Tradition, zu der auch politische und intellektuelle Beiträge jenseits von religiösen Bekenntnissen gehören. Doch immer wieder haben in den vergangenen Jahren gewalttätige Zusammenstöße Schlagzeilen gemacht. Überfälle auf Kirchen, an die sich Straßenschlachten anschlossen, ließen Furcht und Misstrauen gedeihen. Sie sind eine Zerreißprobe für das Land. Während der Revolution gab es jetzt Zeichen der Hoffnung für das Wiederaufleben einer traditionell gewachsenen Harmonie zwischen den Muslimen und den Kopten. Diese Traditionen können Fundament des neuen Ägyptens sein. Es hat großes Aufsehen erregt, als in den entscheidenden Tagen der Revolution junge Kopten auf dem Tahrir-Platz eine Menschenkette bildeten, um die ebenfalls demonstrierenden Muslime, die sich zum Freitagsgebet niedergelassen hatten, vor der prügelnden Polizei zu schützen. Dies gehörte zu den unmittelbaren und nicht inszenierten Aktionen der Demokratiebewegung. Es spiegelt die Werte der ägyptischen Gesellschaft, die über Jahrzehnte das Land prägten. Ein Kopte, der seit vielen Jahren in Kanada lebt, sagte einer Freundin, als er diese Bilder sah: „Jetzt kann ich vielleicht nach Ägypten zurückkehren.“ Viele Ägypter haben in den vergangenen Wochen auf ihrem Facebook-Profil an die Stelle ihres Fotos ein Symbol eingestellt, das vor dem Hintergrund der ägyptischen Nationalfahne einen Halbmond und ein Kreuz zeigt. Dies war das Symbol der Revolution von 1919 gegen die britische Besatzung, angeführt von Saad Zaghoul, dem Vorsitzenden der liberalen Wafd, eine der ersten politischen Parteien Ägyptens. Im Sinne dieser guten Tradition müssen nun die Rechte aller Religionsgruppen in der neuen Verfassung des Landes verankert sein. Makram Ebeid, koptischer Generalsekretär der Wafd-Partei und Kommunikations- und Finanzminister in den zwanziger und dreißiger Jahren, sagte: „Die Religion gehört Gott, die Nation gehört allen Bürgern.“
Trotz aller Schwierigkeiten und Herausforderungen der jetzigen Phase herrscht in Ägypten ein lange vermisster Optimismus. Die Menschen sind befreit. Sie fühlen Stolz, denn sie haben ihre Würde zurückerobert. Alle sind sich einig, dass die nächsten Jahre kompliziert sein werden. Aber man sieht das Licht am Ende des Tunnels. Die Menschen haben die Angst abgeschüttelt, ihre Meinung zu äußern, zu protestieren und Forderungen zu stellen. Dies kann nicht mehr rückgängig gemacht werden. Der erste Schritt in eine demokratische Gesellschaft ist getan. «