Energie europäisch denken
Erst im zweiten Jahr ihrer praktischen Umsetzung wird die deutsche Energiewende allmählich auch in ihrer europäischen Dimension gesehen. Das liegt weniger daran, dass die Hinweise auf die faktische Einbettung nationaler Energie- und Klimapolitik in einen EU-Rahmen inzwischen sehr viel stärker verfangen würden. Dafür bleiben die Zusammenhänge aus Sicht der Adressaten meist zu abstrakt; ganz gleich, ob es um europäische Entscheidungskompetenzen im Klimaschutz, um das Zusammenwachsen der nationalen Strom- und Gasmärkte oder um uneinheitliche Standards bei der Sicherheit von Atomkraftwerken geht.
Sehr viel wirkmächtiger sind die unmittelbaren praktischen Auswirkungen, die sich aus dem grenzüberschreitenden Charakter der Energiewende ergeben. Wenn etwa Polen und Tschechien damit drohen, den Transit von nordostdeutschem Windstrom nach Süddeutschland mit technischen Vorrichtungen – so genannten Phasenschiebern – zu blockieren, weil sie ihre Netzsicherheit bedroht sehen, dann verliert ein Begriff wie „europäische Dimension“ schnell den Beigeschmack bloß schöngeistiger Reflexionen. Es geht dann ganz pragmatisch um klassische Fragen des politischen Tagesgeschäfts: „Dürfen die das? Können die das? Trauen die sich das? Was wären die Folgen für Deutschland? Was sind die Motive? Wie können wir sie davon abbringen – oder zumindest Zeit gewinnen?“
Wenn die Franzosen nicht mehr liefern
Solcherlei europäisierte Konstellationen werden in der deutschen Energiewende-Politik zukünftig häufiger auftreten, auch wenn sie sich im Einzelfall nicht wirklich vorhersagen lassen. Sie werden auch nicht immer unter negativen Vorzeichen stehen. Doch werden die konfliktreichsten Sachverhalte auch am stärksten wahrgenommen. Möglicherweise wird es schon bald zu einem Politikum, dass der deutsche Stromkonsument mittels der EEG-Umlage zwar den massiven Ausbau der Erneuerbaren subventioniert, jedoch die dadurch ausgelösten Preisdämpfungseffekte im Stromgroßhandel (verursacht etwa durch das Solarstrom-Angebot zur Mittagszeit) auch Frankreich und den Benelux-Ländern zugutekommen, da deren Strommärkte mit dem deutschen eng verkoppelt sind. Werden wir eines Tages erleben, dass die Bürger in der Schweiz oder in Norwegen doch andere Prioritäten haben, als mit dem Ausbau heimischer Wasserkraftspeicher und Leitungen die Schwankungen im deutschen Stromnetz auszugleichen? Was, wenn die neue französische Regierung ihre Ankündigung wahr macht, den Atomstromanteil um ein Drittel zu reduzieren, dies aber zu Versorgungsengpässen in angrenzenden Regionen Deutschlands führt? Und welche energiepolitischen Konsequenzen zöge Deutschland bei einem massiven Störfall in einem AKW eines Nachbarlands?
Ganz gleich, wie die konkreten Antworten jeweils lauten würden: Dem Politikbetrieb, den Medien und breiten Bevölkerungsschichten würde schlagartig klar werden, dass die deutsche Energiewende kein Projekt ist, das sich allein mit nationalen Maßnahmen erfolgreich verwirklichen lässt. In den vergangenen Monaten haben wir in Bezug auf das Bund-Länder-Verhältnis gelernt, dass eine Mehrebenen-Koordinierung der energiepolitischen Entscheidungen unabdingbar ist. In naher Zukunft werden wir lernen, dass die ständig beteuerte Aufgeschlossenheit der handelnden Akteure nicht zwingend auch zu einer Auflösung von Verhandlungsblockaden führen muss. Beide Erkenntnisse gelten auch im Verhältnis Deutschlands zur EU.
Deutschland steht ein mehrjähriger Verhandlungsprozess bevor, bei dem der eigene energiepolitische Zukunftspfad mit einem gesamteuropäischen in Einklang gebracht werden muss. Zur Mitte der laufenden Dekade müssen die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten einstimmig neue energie- und klimapolitische Ziele für die EU beschließen. Die bislang gültigen, im Jahr 2007 unter deutscher Ratspräsidentschaft vereinbarten Zielmarken reichen nur bis ins Jahr 2020 – gemessen an den langen Investitionszyklen der Energiewirtschaft also quasi nur bis übermorgen. Zwar adressiert die europäische Energiestrategie die drei Herausforderungen Versorgungssicherheit, Wettbewerbsfähigkeit und Nachhaltigkeit der Energieversorgung formell als gleichrangig. Die reale Politik orientiert sich seit 2007 aber primär am Nachhaltigkeitsparadigma. Dies zeigt schon ein Blick auf die damals für das Jahr 2020 als rechtlich verbindlich vereinbarten Ziele: 20 Prozent Treibhausgasreduktion (gegenüber 1990) und ein 20-Prozent-Anteil an Erneuerbaren am Energieverbrauch.
Es ist sehr wahrscheinlich, dass die mittel- und osteuropäischen Mitgliedsstaaten in den Verhandlungen eine deutliche Kurskorrektur durchsetzen werden. Die drei Roadmaps 2050 der EU-Kommission zu Klima, Energie und Transport entsprachen dem bislang dominanten Paradigma der Nachhaltigkeit, haben sich aber im Ministerrat als nicht konsensfähig erwiesen – vor allem aufgrund der Blockadehaltung der polnischen Regierung. Die Mittel- und Osteuropäer wollen einseitige klimapolitische Vorleistungen der EU tunlichst verhindern, auch stehen sie dem forcierten Ausbau der Erneuerbaren überwiegend skeptisch gegenüber. Wesentlich wichtiger sind ihnen hohe Versorgungssicherheit und niedrige Energiekosten. Die europäischen Verhandlungen werden deshalb äußerst konfliktreich verlaufen. Dieser Prozess könnte die Schere zwischen der deutschen Energie(wende)politik und der europäischen Energie- und Klimapolitik weiter öffnen – oder Deutschland zu einer Kurskorrektur nötigen.
Bislang orientieren sich fast alle nationalen Energiestrategien an einem langfristigen Emissionsminderungsziel von 80 bis 95 Prozent im Jahr 2050; viele auch an dem Ziel einer fast vollständigen Dekarbonisierung des Stromsektors bis zur Jahrhundertmitte – ganz gleich, ob diese primär durch den massiven Ausbau der Erneuerbaren, einen sehr hohen Anteil von Atomstrom, oder durch die Ausrüstung fossiler Kraftwerke mit CCS („Carbon Capture and Storage“) erreicht werden soll. Die Festlegung entsprechend ehrgeiziger Zwischenziele auf EU-Ebene für das Jahr 2030 stößt jedoch auf breiten Widerstand.
Was tun, wenn die Nachbarn bremsen?
Für künftige Bundesregierungen wäre eine Abkehr der EU-Energiepolitik vom Nachhaltigkeitsparadigma vor allem deshalb problematisch, weil die sehr anspruchsvollen Energiewendeziele (sowie der daraus abgeleiteten Instrumente und Regulierungsansätze) ein weiteres Mal begründungspflichtig würden. Nationale Alleingänge in einem stetig stärker integrierten Energiebinnenmarkt werden künftig immer fragwürdiger. Für jede Bundesregierung, gleich welcher politischen Couleur, wird es schon im Vorfeld europäischer Entscheidungen sehr schwer sein, eine kompromissfähige Verhandlungsposition zu entwickeln und gegenüber der deutschen Öffentlichkeit zu vertreten.
Spätestens nach einer Einigung wird sich eine erneute Grundsatzdebatte über die Richtung und das Tempo der Energiewende kaum vermeiden lassen. Wenn die EU ihren Ehrgeiz bremst und weniger anspruchsvolle energie- und klimapolitische Ziele verabschiedet, sollte Deutschland sich dieser Entwicklung dann weitgehend anpassen? Oder sollte man – umgekehrt – gerade in diesem Fall Kurs halten und eine selbstbewusste Vorreiterstrategie verfolgen, selbst wenn damit zu rechnen ist, dass Nachbarstaaten kaum noch dazu bereit sind, die Folgelasten deutscher Alleingänge mitzutragen oder bei nationalen Entscheidungen auf deutsche Befindlichkeiten Rücksicht zu nehmen?
Abschied von der Steuerungsillusion
Unabhängig davon, welchen Weg man für den besseren hält: Die von der Implementierung der Energiewende fast völlig absorbierte deutsche Energiepolitik muss sich frühzeitig mit der europäischen Perspektive auseinandersetzen. Die EU wird in den kommenden Jahren eine Kurskorrektur einleiten, die Deutschland in ihrem Ausmaß allenfalls begrenzen kann. Die Debatte darüber wird spätestens dann beginnen, wenn die Kommission – vermutlich Ende 2013 – ihren Vorschlag für eine „Post-2020-Zielarchitektur“ veröffentlicht.
Die europäische Dimension der Energiewende ernst zu nehmen, bedeutet allerdings nicht nur, sich mit den Positionen anderer Mitgliedsstaaten frühzeitig auseinanderzusetzen und eine eigene Verhandlungsstrategie zu entwickeln. Es bedeutet auch, die Begrenztheit der eigenen Handlungsspielräume zu akzeptieren. Jede Bundesregierung wird die europäische Energiepolitik nur mitgestalten können. Niemand kann garantieren, dass alle zukünftigen Kompromisse „energiewendekonform“ ausfallen. Deutschland wird sich deshalb zuallererst von der Steuerungsillusion verabschieden müssen, der nationalen Energiepolitik mangele es primär an Planungssicherheit, etwa an langfristig rechtsverbindlichen Zielen. In einem fluiden europapolitischen Umfeld wird vielmehr vor allem eines gefragt sein: Flexibilität, um auf neue Entwicklungen angemessen reagieren zu können.