Erst kam der Brexit, jetzt folgt das Debakel

Bei den britischen Unterhauswahlen am 8. Juni werden die Konservativen unter Führung von Theresa May einen satten Sieg erzielen, während es für die Labour Party eine krachende Niederlage setzen dürfte. Für Labour kann es erst wieder bergauf gehen, wenn Parteichef Jeremy Corbyn seine Chance vergeben hat

Die Briten haben am 29. März 2017 offiziell den Austritt aus der EU beantragt. Endlich, so möchte man fast sagen, nachdem der Brexit monatelang die Treffen der Staats- und Regierungschefs überschattete. Nun herrscht Klarheit, zumindest hinsichtlich der Konditionen, zu denen Großbritannien die EU verlassen möchte. Geht es nach der britischen Regierung, dann trennen sich ab Sommer 2019 die Wege. Für Großbritannien heißt das: Austritt aus dem gemeinsamen Binnenmarkt und der Zollunion, ein Ende der Freizügigkeit und vor allem die Wiederherstellung der uneingeschränkten Parlamentssouveränität. So würde dann eine ökonomische Zwangsehe enden, die geprägt war von andauernden Problemen, Stolpersteinen und einseitigen Zugeständnissen.

Keine drei Wochen nach dem Auslösen von Artikel 50 stimmte das britische Unterhaus auf Initiative von Theresa May für vorgezogene Neuwahlen. Angesichts der schwierigen Verhandlungen mit der EU brauche das Land eine starke Regierung, so die Regierungschefin. Die Gefahr, dass Brexit-Gegner den Austrittsprozess verzögern oder behindern könnten, sei zu groß. Es war ein wohl überlegter Coup der Premierministerin, mit dem sie sogar ihr eigenes Kabinett überraschte.

Für die Labour Party könnte die Wahl am 8. Juni in einer Katastrophe enden, denn die Partei droht auch im Norden Englands von der politischen Landkarte zu verschwinden und somit in der politischen Bedeutungslosigkeit zu versinken. Sie muss daher schnellstmöglich ihre eigene Identität wiederfinden, die sie aufgrund der Debatten um den Brexit und der unüberbrückbaren Differenzen zwischen Parteichef Jeremy Corbyn und zahlreichen Labour-Abgeordneten momentan vermissen lässt. Doch auch für Europa ist die Wahl heikel. Denn eine noch schwächere Opposition im britischen Unterhaus würde die Brexit-Hardliner in der Regierungspartei stärken und die Wahrscheinlichkeit eines ungeregelten Austritts Großbritanniens aus der EU erhöhen.

Die Ausgangslage für Labour ist keinesfalls einfach: Innenpolitisch ist der Brexit zum Diktat geworden. Dabei zeigt gerade diese Entscheidung, wo die Gefahren eines Regierens mit Referenden liegen, bei denen die Bürger über die Folgen weitestgehend im Unklaren gelassen werden. Zwar war es klar, dass ein Leave den Austritt aus der EU oder zumindest eine grundlegende Neudefinition der Beziehungen nach sich ziehen werde. Dass das Land am Ende aber kompromisslos auf einen „harten Brexit“ mit unabwägbaren wirtschaftlichen, rechtlichen und politischen Konsequenzen zusteuern könnte, das hatte den Wählern vorher niemand kommuniziert.

Wie der Brexit die Labour Party zerreißt


Die Interpretation des Referendums fällt nahezu vollkommen dem von Brexit-Hardlinern dominierten Kabinett von Regierungschefin Theresa May zu. Mit seiner Auslegung des Brexits als „Wille des Volkes“ zwingt es sowohl der öffentlichen Meinung als auch den politischen Gegnern eine absolute Konformität auf. Brexit bedeutet demzufolge einen „harten Brexit“, und genau den habe der Souverän gewollt. In der zentral gelenkten britischen Mehrheitsdemokratie mit ihren schwach ausgeprägten checks and balances bleiben dabei die Interessen der pro-europäischen 48 Prozent, die für den Verbleib in der EU gestimmt hatten, auf der Strecke.

Das Diktat des Brexits hat erheblich dazu beigetragen, dass die oppositionelle Labour Party nur noch ein Schatten ihrer selbst ist und die Konservativen in Umfragen mit 50 Prozent nahezu uneinholbar führen. Labours größtes Problem ist der Riss, den der Brexit quer durch das Land und das eigene politische Lager gezogen hat. Drei der sechs Wahlkreise in denen die Zustimmung für den Brexit am höchsten ausfiel, werden im Unterhaus von Labour-Abgeordneten repräsentiert, die anderen drei von Abgeordneten der Tories. In England und Wales haben die Bürger mehrheitlich gegen den Verbleib in der EU gestimmt, in Nordirland und Schottland mehrheitlich dafür. Und auch die Labour Party selbst ist über den Brexit so gespalten wie das Land. Um sich im Wahlkampf von den Tories abzugrenzen, müsste die Partei in der Europapolitik auf Angriff gehen. Doch die EU und die Europaskepsis der Wähler im Norden lassen einen politischen Mittelweg für Labour nicht zu. Ein weiteres EU-Referendum hat Jeremy Corbyn bereits ausgeschlossen.

Zwar haben Norwegen und die Schweiz alternative Wege der Kooperation mit der EU beschritten, aber die grundsätzlichen Spielregeln gelten auch für sie. Die Teilnahme am gemeinsamen Binnenmarkt verlangt die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Davor, so die gängige politische Leseart, fürchteten sich jedoch vor allem die Wähler in den verbliebenen Labour-Hochburgen im Norden Englands. Dort leben die von der Globalisierung Abgehängten – geringqualifiziert, geringverdienend oder arbeitslos –, für die Labour gerne noch den alleinigen Hoheitsanspruch reklamiert.

Corbyn beugt sich dem Brexit-Mandat

Aus Angst ihre Sitze zu verlieren, werden sich daher viele der Labour-Abgeordneten nicht gegen den Brexit positionieren. Dies trifft vor allem auf jene zu, die in EU-skeptischen Wahlkreisen kandidieren – und das sind nicht wenige. In 148 der derzeit 232 Labour-Wahlbezirke haben die Wähler mehrheitlich für einen Austritt aus der EU gestimmt. Dass ein Großteil der Fraktion ihrem Vorsitzenden zudem nicht zutraut, gegen Theresa May auch nur einen Blumentopf zu gewinnen, verschärft die Sorgen der Abgeordneten. Bei der Abstimmung zum Auslösen des Artikels 50 im Februar versuchte Jeremy Corbyn mit aller Härte, die Abgeordneten auf Regierungslinie zu bringen. Das gelang ihm aber nur bedingt. 52 Labour-Abgeordnete stimmten gegen den Austritt aus der EU, Clive Lewis trat noch am gleichen Tag aus dem Schattenkabinett zurück. Dabei lässt sich nicht abstreiten, dass bei diesen Abgeordneten eher ein strategisches Kalkül und weniger der europäische Einheitsgedanke im Vordergrund stand. Bedenklich ist jedoch, dass sich Labour unter Corbyn dem Brexit-Mandat beugt und Abgeordnete als Delegierte und nicht Repräsentanten ihrer Wahlkreise handeln.

Die New-Labour-Wähler wandern ab

Zudem haben die Konservativen im Kampf um die Wählergunst all jener Bürger, die „gerade so zurechtkommen“ – den so genannten JAMs (just about managing) – und der Mittelschicht den Druck auf Labour in den vergangenen Monaten erhöht. So haben sich die Tories nicht nur Tony Blairs Rhetorik des „Dritten Wegs“ zu eigen gemacht, sondern behaupten mittlerweile auch noch selbstbewusst, die Interessen der arbeitenden Bevölkerung und der New-Labour-Wähler zu vertreten. Sie stehen für ein Großbritannien, das „für alle“ da sei und nicht nur für die Privilegierten.

Das wurde bereits in der Antrittsrede von Theresa May deutlich und zieht sich wie ein roter Faden durch die Regierungsankündigungen. Dass dabei viel Rhetorik und wenig Substanz im Spiel ist, zeigte indes schon das Zurückrudern von Schatzkanzler Philipp Hammond bei der Erhöhung der Beitragssätze zur Sozialversicherung für Selbständige im März. Sein Vorschlag, die Beiträge um zwei Prozent anzuheben, wurde innerhalb von Stunden wieder kassiert, weil sich rund um Premierministerin May großer Widerstand formierte. Der Grund: Die Reform hätte vor allem Besserverdiener und damit die Stammwähler der Tories getroffen, das zeigen zahlreiche Analysen, etwa des Institute for Fiscal Studies oder der Resolution Foundation. Eine Beitragserhöhung stehe nicht im Einklang mit dem konservativen Wahlprogramm, wurde Hammond knapp beschieden.

Auch die anderen Parteien schwächeln


Auch für die anderen Parteien stehen die Chancen bei den Wahlen schlecht, was die Aussicht auf ein starkes Widerlager gegen die Konservativen minimiert. Allein die Liberaldemokraten können mit einem gewissen Zugewinn an Mandaten rechnen. Als einzige Partei in England haben sie sich klar gegen den Brexit positioniert. In aktuellen Umfragen liegen sie bei 10 Prozent. Die schottische SNP hat im Gegensatz zu den anderen Parteien im Brexit-Poker ein Druckmittel in der Hand – ein weiteres Unabhängigkeitsreferendum.

Die Schotten hatten mit 62 Prozent für den Verbleib in der EU gestimmt, und SNP-Chefin Nicola Sturgeon hat angekündigt, dass sie Schottland in der EU halten möchte. Allerdings schwächt die politische Gesamtlage derzeit die Verhandlungsposition der SNP und die schottischen Konservativen scheinen deutlich Boden gutzumachen. In den Umfragen liegen die Befürworter eines unabhängigen Schottlands derzeit hinten, der schottische Haushalt weist ein klaffendes Defizit von 9,5 Prozent für das Jahr 2016 auf, und die Einnahmen aus dem Verkauf des Nordsee-Öls sind minimal.

Damit spricht am Ende viel für einen deutlichen Sieg der Konservativen. Es ist wahrscheinlich, dass die Liberaldemokraten und UKIP jeweils einen geringen Anteil von pro- und anti-europäischen Wähler von Labour an sich binden können, die Konservativen hingegen einen großen Teil der UKIP-Wähler. Das dürfte für eine satte Mehrheit der Tories im Unterhaus reichen. Doch eine große Unbekannte bleibt bei dieser dritten Wahl in weniger als drei Jahren: die Politikmüdigkeit der Bürger. Sie könnte dazu führen, dass viele gar erst nicht wählen gehen. Vielleicht erleben wir daher doch wieder eine Überraschung. Für Labour kann es jedoch erst wieder bergauf gehen, wenn Jeremy Corbyn seine Chance vergeben hat.

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