Ethik - nur Pflicht der Unternehmer?
Zunächst ganz offen: Die Art, wie in Deutschland mit dem Thema Unternehmerethik umgegangen wird, verärgert. Hier wird dem Unternehmer gerne und publikumswirksam vorgeworfen, er handle nicht sozial verantwortlich und damit unethisch. Wenn das von Menschen kommt, die noch nie einen Arbeitsplatz geschaffen, noch nie eigenes Geld in die Ausbildung eines jungen Menschen gesteckt und noch nie selbst Löhne oder Gehälter verantwortet haben, ist das besonders irritierend. Das Wirtschaftssystem selbst sorgt schließlich dafür, dass der Unternehmer soziale Verantwortung übernimmt. Bereits das Schaffen eines Arbeitsplatzes ist ein ethischer Akt, da die Finanzierung von Krankheit, Rente und Arbeitslosigkeit an den Löhnen hängt. Und selbst wenn der Arbeitende für das Unternehmen nicht wertschöpfend tätig ist, durch Krankheit oder Urlaub, sorgt der Arbeitgeber dafür, dass er keine finanziellen Einbußen hat. Das ist sehr sozial und darf in der Diskussion nicht übersehen werden.
Studien zeigen, dass sich gerade mittelständische Unternehmer darüber hinaus sozial engagieren. Auf der lokalen Ebene unterstützen sie Sportvereine, Kindergärten, Schulen, Obdachlosenhilfen, kulturelle Initiativen et cetera finanziell und personell. Bisher verbuchten die meisten Unternehmer dies weder unter der Überschrift Corporate Citizenship noch unter der Kategorie der Unternehmerethik. Für den Unternehmer als gestaltenden Bürger war es schlicht selbstverständlich, sich für das Gemeinwohl einzusetzen. Langsam lernen die Eigentümer der kleineren und mittleren Unternehmen dazu: „Tue Gutes und rede darüber“, lautet die neue Devise – benutze dabei allerdings die richtigen Begriffe. Die Manager der großen Unternehmen machen es den Kleinen vor: Da werden Broschüren über das soziale Engagement gedruckt, Pressekonferenzen abgehalten und Podiumsdiskussionen organisiert. So gut verkaufen können die kleinen und mittleren Unternehmen ihre Corporate Citizenship noch nicht, obwohl sich mehr als vier Fünftel von ihnen für wohltätige Zwecke engagieren.
Was Franz Müntefering angestoßen hat
Angesichts dessen haben es diese Unternehmer verdient, wesentlich differenzierter und herzlicher zu einer öffentlichen Diskussion eingeladen zu werden, wie sie jüngst durch die verunglückten Bemerkungen von Franz Müntefering angestoßen wurde und hoffentlich durch den Wahlkampf nicht schon wieder abgebrochen wird: eine Diskussion um Werte und Pflichten in unserer Gesellschaft.
Welches sind bestimmende Werte in unserer Gesellschaft? Ist alles nur auf Ertragsoptimierung, Rationalisierung und Spaßmaximierung ausgerichtet, oder gibt es noch andere Prinzipien, nach denen unsere Gesellschaft funktioniert? Gibt es überhaupt Einigkeit darüber, an welchen Werten man sich orientieren sollte, oder hat in dieser oder jener Richtung jeder so seine eigenen Koordinaten?
Der amerikanische Zukunftsforscher John Naisbitt hat einmal gesagt: „Unsere Antwort auf die Hochtechnologie um uns herum war die Entwicklung eines hohen persönlichen Wertesystems, um gegen die unpersönliche Natur der Technologie anzugehen.“ Werte wie Verantwortungsbewusstsein, Respekt, Toleranz und Fairness – Humanismus – bestimmen schon seit Jahrhunderten das Handeln vieler Menschen, müssen aber in unserer heutigen Welt wieder größeren Stellenwert und Achtung erfahren. Der Gewinner darf nicht derjenige sein, der sich egoistisch und unsolidarisch verhält. Nur wertorientiertes Handeln jedes Einzelnen gestaltet eine freiheitliche, selbstbewusste und verantwortungsvolle Gesellschaft.
Neben der Grundorientierung des Humanismus hat in den vergangenen Jahrzehnten ein Wertewandel in Richtung Selbstentfaltung, Selbständigkeit, Individualität und Mündigkeit stattgefunden. Diese zwei Richtungen müssen als zwei Seiten einer Medaille anerkannt und sinnvoll miteinander verknüpft werden. Die Menschen in unserer Gesellschaft sind bereit, Verantwortung zu übernehmen – für sich, für andere und für das respektvolle Miteinander. Die überregulierte Eingriffsverwaltung durch den Staat steht dazu in einem krassen Widerspruch. Das Bild des Menschen und Bürgers, auf das unser staatliches System aufbaut, hat ausgedient. Es muss nicht alles geregelt werden. Das Zusammenleben der Bürger muss von diesen selbst bestimmt und vereinbart werden. Der staatliche Eingriff darf nur gerechtfertigte Ausnahme sein.
Was alles nicht geregelt werden muss
Auch deshalb stehen viele Unternehmer für eine konsequente Deregulierung. Dabei sollte die Fragestellung nicht lauten: Wie viel Verwaltung haben wir, und worauf können wir verzichten? Die Aufgabe lautet vielmehr: Was muss überhaupt geregelt sein, welche Regelungen dürfen wir als Ausnahmen zulassen? Viele staatliche Aktivitäten können privatwirtschaftlich besser, schneller und kostengünstiger gelöst werden. Private Initiativen dürfen nicht mit staatlichen konkurrieren müssen. Ihnen gilt der absolute Vorrang.
Gemeinschaftliches Engagement im Ehrenamt entsteht, wenn Menschen darin einen individuellen Sinn erkennen. Dafür müssen Freiräume eröffnet werden, so dass freiwilliges Engagement sowohl für die Gesellschaft als auch für den Einzelnen einen Nutzen generiert. Dieser kann zum Beispiel darin liegen, dass Qualifikationen erworben und verfestigt werden, dass Talente erkannt und entwickelt oder gemeinschaftliche Erfolge erlebbar werden. Auf einem Gefühl der bloßen Pflichterfüllung oder Disziplin oder auf staatlichen Druck darf sich dies jedoch nicht gründen.
Unmündige Mitarbeiter, fiese Unternehmer?
Unternehmen können nur mit und durch Mitarbeiter erfolgreich sein, die qualifiziert sind, sich persönlich mit ihrer Arbeit identifizieren, sich kreativ und aktiv in die betrieblichen Prozesse einbringen. Diese Mitarbeiter sind mündig und überzeugend, können ihre Bedürfnisse artikulieren und sich mit ihrem Arbeitgeber auseinandersetzen. Unter diesem Aspekt scheint das Betriebsverfassungsgesetz ein Relikt aus einer anderen Zeit zu sein. Es ist nicht dazu geeignet, zukunftsfähige Unternehmen – und diese bestehen nicht nur aus Arbeitgebern, sondern auch aus den Arbeitnehmern – zu fördern, sondern schadet allen Seiten. Das Menschenbild, das ihm zugrunde liegt, ist einerseits das des unmündigen Mitarbeiters, der nur mit Hilfe staatlicher Regelungen die Kommunikation mit seinem betrieblichen Umfeld aufrechterhalten kann. Andererseits ist es das Bild eines gewissenlosen Unternehmers, der sich nicht einmal seiner Verantwortung für die wertvollste Ressource seines Unternehmens bewusst ist. In der modernen Arbeitswelt spielen aber neben den Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital die Faktoren Engagement und Kooperation eine zentrale und weiter zunehmende Rolle.
Flexible Arbeitszeiten und Beschäftigungsformen sind Ausdruck einer Kultur der Selbständigkeit, die durch den zunehmenden Individualismus der Menschen zusätzlich gefördert wird. Die Zukunft wird Arbeitsbiografien nicht mehr kennen, die sich ein Leben lang auf ein und denselben Arbeitgeber beziehen. Die Menschen stehen vor immer neuen Herausforderungen. Komplett neue Branchen oder Arbeitsfelder ermöglichen und erfordern sogar Berufswechsel. Immer häufiger finden sich Spezialisten zur Lösung spezifischer Aufgaben in immer neuen Projektteams zusammen, sie werden zu selbständigen, flexiblen Unternehmern ihrer eigenen Arbeitskraft. Mobilität, Initiative und Risikofreude werden zu selbstverständlichen Bestandteilen dieser neuen Arbeitswelt. Zwangsläufig wird sich dadurch die Selbständigenquote in Deutschland erhöhen, denn die selbständigen Mitarbeiter werden sich zeitlich begrenzt und projektbezogen unter dem Dach eines Unternehmens engagieren.
Globalisierung entsteht durch Wissensdurst
Deshalb müssen Schule und Ausbildung praxisorientiert und erlebbar sein. Neben der Vermittlung von Allgemeinwissen und Schlüsselqualifikationen kommt auch hier der Werteorientierung eine zunehmende Bedeutung zu. Der natürliche Wissensdurst muss individuell gestillt, der Spaß an und die Lust zur Leistung müssen gefördert werden. Daneben muss der Erwerb sozialer Kompetenz (Respekt, Vertrauen, Interesse, Fürsorge) verstärkt werden, das Thema „Selbstverwirklichung, Berufsfindung und Selbständigkeit“ größeren Raum finden.
Wir müssen klar machen: Das Miteinander funktioniert nur auf der Grundlage gelebter Werte. Und durch die voranschreitende Globalisierung wird dieses Miteinander immer konkreter für jeden Menschen auf dieser Welt. Denn die Globalisierung lässt sich weder aufhalten noch mit den überkommenen staatlichen Systemen regulieren. Sie ist nämlich nicht die Folge von Entscheidungen einflussreicher Menschen in Politik und Wirtschaft. Globalisierung ist die Konsequenz des menschlichen Strebens nach Erkenntnis, nach wissenschaftlich-technischem Fortschritt, aber auch unseres Wettbewerbstriebes und der uns eigenen Nutzenorientierung. Das Zusammenleben mündiger und eigenverantwortlicher Menschen muss durch Werte bestimmt werden. Verantwortung für sich selbst und für andere, Respekt und Toleranz, Wissen und Kreativität, Achtung und Anerkennung, Anteilnahme und Hilfsbereitschaft, Glaubwürdigkeit, Vertrauen und Offenheit, Mündigkeit, Würde, Gerechtigkeit und Solidarität machen eine Gesellschaft reich.
Das schaffen wir nicht durch Vorhaltungen und Beschuldigungen, durch den Kampf der Politik gegen die Wirtschaft oder der Arbeitnehmer gegen die Arbeitgeber. Denn wenn die Debatte nach diesem Muster verläuft und der Vorwurf der fehlenden Unternehmerethik durchdiskutiert ist, werden wir uns auf das Fehlen ethischen und nachhaltigen Handelns in der Politik oder bei den Gewerkschaften stürzen. So kommen wir nicht weiter. Vielmehr sollte die Diskussion in eine Grundorientierung für das Handeln derjenigen münden, die in Verantwortung stehen: in eine Verantwortungsethik, bei der jeder für die Konsequenzen seines Handelns verantwortlich ist und Eigenverantwortung und Solidarität gleichbedeutend nebeneinander stehen. Werteordnung und Ethik sind unteilbar und gelten deshalb für alle Entscheidungsträger in Wirtschaft und Gesellschaft, unabhängig vom Ausmaß ihres Verantwortungsbereichs.
Zuletzt ganz offen: Wenn die Diskussionen zu Wertebewusstsein und Erkenntisgewinn führen würden, wäre ich Franz Müntefering für seine Provokation dankbar.