Europa demokratisch machen



Politics is not the art of the possible. It consists of choosing between the disastrous and the unpalatable.
John Kenneth Galbraith (1909-2006)

Europa ist in der Krise – die Spatzen pfeifen es von den Dächern. Die Krise äußerte sich spektakulär in den negativen Referenden zum europäischen Verfassungsvertrag in Frankreich und in den Niederlanden, Anzeichen dafür findet man jedoch in allen Mitgliedsländern der EU. Die deutsche Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 bedeutet eine große Chance, die Weichen für einen Ausweg aus der Krise zu stellen. Verpasst Europa diese Gelegenheit, ist es wahrscheinlich, wenn nicht sogar mittelfristig unvermeidlich, dass sich die Europäische Union auflöst und in eine Vielzahl multilateraler Kooperationsvereinbarungen zerfällt.

Die europäische Integration ist ein in der Menschheitsgeschichte einzigartiges Unterfangen. Niemals zuvor haben autonome Staaten freiwillig, ohne Krieg und Eroberung, ihre Macht mit anderen geteilt. Nach zwei Weltkriegen, 50 Millionen Toten und unbeschreiblichem Leid, haben die Europäer Ideen wie Frieden, Aussöhnung, Zusammenarbeit und Toleranz an die Stelle der konservativ-reaktionären Ideologien des Nationalismus und der Fremdenfeindlichkeit gestellt. Für Jean Monnet war der Grundgedanke der europäischen Integration: „Wir koalieren nicht Staaten, wir vereinigen Menschen.“ Trotz der enormen Fortschritte stellt sich heute erneut die Frage, was die Menschen in Europa vereint. Was sind die Gründe für das neue europäische Unbehagen? Und welche Perspektiven für eine europäische Einigungsstrategie im 21. Jahrhundert lassen sich aufzeigen?

Das Unbehagen der Europäer äußert sich nicht zuletzt darin, dass immer mehr Europäer Populisten verfallen, die an das Gemeinschaftsgefühl und den Nationalismus appellieren. Nach dem Zweiten Weltkrieg war der Nationalismus in Europa ein halbes Jahrhundert lang diskreditiert, individuelle Freiheit und politische Gleichheit waren die allgemein akzeptierten demokratischen Grundnormen. Selbst der reaktionäre Konservativismus, der beiden Werten traditionell kritisch gegenüber steht, akzeptierte die Rolle eines Juniorpartners unter dem Mantel der Christdemokratie. Das wirtschaftspolitische Fundament dieser Allianz war die Soziale Marktwirtschaft und die Verbindung des ökonomischen Liberalismus mit einem klassischen Nationalismus.1

Nicht zufällig sahen die strikten Marktwirtschaftler von Ludwig Erhard bis Hans Tietmeyer die europäische Integration immer mit einem kritischen Auge. Die Sozialdemokraten haben dagegen seit über anderthalb Jahrhunderten verstanden, dass sich der soziale Schutz individueller Freiheit nur im internationalen Rahmen verwirklichen lässt. Für sie kann sich das Gleichheitspostulat nur in einer Marktwirtschaft voll entfalten, in der ein stetig wachsender Binnenkonsum durch einen stabilen weltwirtschaftlichen Rahmen abgesichert wird. Ihr Gegenentwurf zur Sozialen Marktwirtschaft war der Keynesianismus, für den in den sechziger und siebziger Jahren Karl Schiller und Helmut Schmidt standen. Der Staat war das Instrument, um das Gleichgewicht zwischen persönlicher Freiheit und sozialer Gleichheit im Inneren zu wahren und nach Außen den Frieden zu erhalten. Insofern ist moderne Sozialdemokratie immer liberal, sozial und international. Schon das Heidelberger Programm der SPD von 1925 forderte die Vereinigten Staaten von Europa. Und nicht zufällig war Helmut Schmidt einer der wichtigsten Gründungsväter des Euro.2

Seit dem Fall der Berliner Mauer scheinen moderne politische Philosophien jedoch zunehmend an Integrationskraft zu verlieren. Reaktionär-konservatives Denken ist wieder im Vormarsch, in vielen unterschiedlichen Facetten. Der klassische Nationalismus kommt zum Ausdruck, wenn Regierungen versuchen, ihre schwindende Popularität zu steigern, indem sie „nationale Werte und Interessen“ betonen. So ist der polnische Premierminister Lech Kaczynski ein überzeugter Anhänger des Nationalstaats. Die EU-Mitgliedschaft, glaubt er, könne dazu beitragen, diesen zu stärken. In Frankreich fordert Regierungschef Dominique de Villepin einen „Wirtschaftspatriotismus“ und boykottiert deutsch-französische Unternehmenszusammenschlüsse. Und in Deutschland ist der einstige Europa-Enthusiasmus einer Belagerungsmentalität gewichen, die dem dümmlichen wilhelminischen „Wir-haben-auch-unsere-Interessen“-Nationalismus die Hand reicht.

Weniger spektakulär, aber wahrscheinlich einflussreicher, ist das Erstarken eines neuen dezentralisierten Nationalismus (auch Kommunitarismus genannt). Diese Ideologie stellt die Zugehörigkeit zu einer Gruppe oder zu einer Gemeinschaft über individuelle Interessen. Sie manifestiert sich in regionalen Unabhängigkeitsbewegungen oder rein dezentralistischen Interpretationen des Subsidiaritätsprinzips, aber auch im religiösen, kulturellen und sexistischen Segregationismus. Während der klassische Nationalismus sich mit dem Staat identifiziert, stellt der dezentralisierte Nationalismus auf kulturelle Identifikation ab; häufig ergänzen sich beide. Ob britischer Euroskeptizismus, korsische „Befreiungsbewegung“, baskische oder katalonische Autonomie, flämische Eigenständigkeit oder bayerisches Wir-Gefühl – allen diesen Vorstellungen ist die Betonung von Identität, die romantische Verklärung des „Eigenen“, die Ablehnung des „Fremden“ und das Anknüpfen an vordemokratische und anti-aufklärerische Ideologien gemein.3

Seit zwei Jahrhunderten versuchen überzeugte Europäer genau diese konfliktgeladene und latent aggressive Ideologie des Nationalismus zu überwinden. Nie waren die Fortschritte so groß wie heute. Doch greift das Argument zu kurz, wir bräuchten Europa nicht mehr, weil der Frieden bereits gewährleistet sei. Denn Friedfertigkeit erfordert Respekt für die Individualität der Anderen. Politischer Frieden ist deshalb nur dauerhaft, wenn er von Institutionen getragen wird, die die Würde des Einzelnen und nicht die Würde von Gruppen, Kulturen und Nationen schützen.4 Der Frieden muss jeden Tag von Neuem erkämpft werden.

Warum wird der Nationalismus wieder populär?

Die Anhänger des neuen Nationalismus verstehen nicht, dass die Wohlfahrt der Bürger in Europa heute von lokalen, regionalen, nationalen und europäischen Interessen bestimmt wird, die sich nicht gegeneinander ausspielen lassen, sondern addiert werden müssen. Wohlfahrtsgewinne sind nicht national (oder lokal), sondern ergeben sich aus der Gesamtheit der Einzelinteressen der Bürger. Optimale Politik erfordert daher, dass die öffentlichen Güter, die die Bürger auf verschiedenen Ebenen nutzen, auch auf diesen Ebenen effizient verwaltet werden. Von diesem wohlverstandenen Subsidiaritätsprinzip sind wir in Europa noch weit entfernt. Institutionen zur Förderung der Bürgerwohlfahrt werden von dem neuen Nationalismus verhindert. Wenn wir also die europäische Einigung vorantreiben wollen, müssen wir verstehen, warum der Nationalismus wieder populär wird. Zwei Faktoren erklären das weltweite Wiedererstarken eines rückwärts gewandten, auf Identität, Tradition und Heimat gerichteten Konservativismus auf der Rechten wie (siehe französisches Referendum) der Linken: das neue geostrategische Umfeld nach dem Kalten Krieg und die wirtschaftliche Herausforderung der Globalisierung.

Die geostrategische Lage Europas hat sich fundamental verändert, seit die „sowjetische Bedrohung“ verschwunden ist – mit weitreichenden Konsequenzen für die politischen Ideologien. Im Kalten Krieg schien die Verteidigung nationaler Interessen sowie wirtschaftlicher und politischer Freiheiten nur im Verbund mit Anderen möglich. Internationale Kooperation war im Westen auch für Nationalisten eine Existenzgarantie. Deshalb gab es jahrzehntelang einen parteienübergreifenden „permissiven Konsens“ über das europäische Projekt.

Nach dem Ende des Kommunismus sind die Voraussetzungen für diesen ideologischen Grundkonsens in Europa entfallen. Der reaktionäre Konservativismus kann wieder ungeniert die vermeintliche Überlegenheit der eigenen Identität betonen und Intoleranz gegenüber anderen Gruppen entfalten; akzeptiert wird er von denen, die der Politik moderner liberal-demokratischer Parteien nichts mehr abgewinnen können, ohne um ihre existenzielle Sicherheit bangen zu müssen. Kurzum: Mit Ende des Kalten Krieges ist die bindende Kraft der Bedrohung verblichen. Paradoxerweise müssen sich die demokratischen Kräfte heute stärker als je zuvor für ihre politischen Ideale rechtfertigen und politische Integrationskraft entfalten. Die Europapolitik liegt an der kritischen Schnittstelle dieser Aufgabe.

Mindestens ebenso wichtig für die Wiederkehr des Nationalismus ist die neoliberale Wende, die Ende der siebziger Jahre von Ronald Reagan und Margret Thatcher eingeleitet wurde. Der Neoliberalismus war die Antwort auf die wirtschaftliche Stagnation der siebziger Jahre nach dem Ende des internationalen Währungssystems von Bretton Woods. Nun wurde vor allem die individuelle Freiheit als Wirtschaftsmotor angesehen, politische und soziale Gleichheit wurden entwertet und der öffentliche Sektor zurückgedrängt. Die antikeynesianische Revolution erhob die nationale Währungspolitik zum neuen Dogma.

Die neue Ideologie ebnete einer raschen und unkontrollierten Globalisierung den Weg. Mit Globalisierung ist hier die Öffnung von Märkten gemeint, die seit einigen Jahrzehnten vom technologischen Fortschritt und von der drastischen Senkung der Informations-, Transport- und Transaktionskosten befördert wird. Allerdings betrifft die Globalisierung nicht alle Märkte in gleicher Weise. Information, Kommunikation und Finanzen stehen an vorderster Stelle. Leicht transportierbare Güter, etwa Textilien, sind unmittelbar betroffen, so genannte nicht handelbare Güter allerdings nur indirekt. Dieser ungleiche Prozess der Globalisierung wird nur unzureichend verstanden. Er schafft Gewinner und Verlierer.

Die unbeabsichtigten Konsequenzen der Liberalisierung

So können Nationalisten die Globalisierung als Werk neoliberaler Ideologen interpretieren, die sich nicht um das Schicksal der Schwachen kümmerten. Während die europäische Integration lange mit wachsendem Wohlstand für die Bürger identifiziert wurde, erscheint sie heute vielen als ein Mittel, um neoliberale Politikinhalte gegen den Willen einer reformunfähigen Bevölkerung durchzusetzen. Doch diese Auffassungen sind so nicht haltbar. Deshalb bieten ihre Vertreter auch keine politischen Lösungen an.

Die ökonomische Logik der Globalisierung besteht darin, dass die Vorteile vieler neuer Technologien erst wirtschaftlich rentabel sind, wenn sie im großen Maßstab angewendet werden. Diese economies of scale erfordern den Abbau regulativer Handelsbeschränkungen. Wer sich dem versperrt, verdammt sein Land zu wirtschaftlicher Stagnation und Rückschritt. Die EU hat diese Logik erkannt und mit dem einheitlichen Binnenmarkt und dem Euro die richtigen Schlüsse daraus gezogen. Der Abbau nichttariflicher Handelsbeschränkungen hat die internationale Wettbewerbsfähigkeit Europas und damit Millionen von Arbeitsplätzen gesichert. Obwohl ökonomisch gerechtfertigt, hat die Liberalisierung der Wirtschaft allerdings unbeabsichtigte politische Konsequenzen. Während wenig umstritten ist, dass neoliberale Politik wachsende soziale Ungleichheit bewirke, wird die Gefährdung der Demokratie als Folge neoliberaler Politik gern übersehen.

Der Neoliberalismus verengt das Freiheitspostulat auf rein ökonomische Aspekte und schwächt das Gleichheitspostulat, das zu den Grundnormen aller modernen Gesellschaften gehört, zugunsten des reaktionären Konservativismus. Dadurch entsteht ein politisches Ungleichgewicht, das das Vertrauen in die Fairness und Gerechtigkeit moderner Demokratien erschüttert.

Ein wirtschaftlicher Mechanismus trägt zu dieser Entwicklung wesentlich bei: Wirtschaftsliberalisierung führt zu Produktivitätsgewinnen, die die Profitabilität von handelbaren Gütern fördert. Das ist notwendig und wünschenswert, um die europäische Wettbewerbsfähigkeit zu sichern. Die Kehrseite der Medaille: In den traditionellen Wirtschaftsektoren mit nicht handelbaren Gütern und geringeren Produktivitätsfortschritten geraten die Gewinnmargen unter Druck. Dazu kommt, dass die Zentralbank in einer modernen Marktwirtschaft das Geld knapp halten muss. Daher besteht ein systemischer Anreiz, dieses knappe Gut zu halten und mittels des Verkaufs von Gütern und Dienstleistungen zu vermehren. So akkumulieren Unternehmen mit starken Produktivitätsgewinnen Innovationsrenten, was den Gewinn in traditionellen Sektoren unter die Durchschnittsverzinsung des Kapitals drückt.

Dieser Druck auf kleine und mittlere Unternehmen, die oft nur lokal aktiv sind, ist eine der Hauptursachen des Populismus: In seiner rechtskonservativen Form wendet er sich gegen Staat und Steuerlast, es werden geringere Lohnkosten und Schutz gegen „fremde“ Konkurrenz gefordert. Linkspopulisten hingegen treten gegen die Senkung des Lohnniveaus ein (für die sie Einwanderer verantwortlich machen) und fordern eine lockerere Geldpolitik sowie Handelsprotektion. Beiden Spielarten des Populismus ist die nationalistische Überbetonung der Eigenidentität und eine latente Fremdenfeindlichkeit gemein – und sie blockieren damit Fortschritte der europäischen Integration. Dabei ist das eigentliche Problem nicht die Globalisierung oder die Öffnung der Märkte. Vielmehr fehlt eine gerechte Einkommenspolitik, die die Verlierer der Marktintegration aus den Gewinnen der anderen kompensiert.

Eine solche Politik kann allerdings nicht im nationalen Rahmen verwirklicht werden, in der Währungsunion setzt schließlich die Europäische Zentralbank die ökonomischen Rahmenbedingungen. Auch lässt sich mit der vorherrschenden EU-Regierungsmethode – freiwillige Kooperation zwischen Regierungen – kaum zwischen Gewinnern und Verlierern der Globalisierung vermitteln. Die Dominanz nationalstaatlicher Interessen verhindert die Verwirklichung der Gesamtinteressen der europäischen Bürger; Wirtschaftswissenschaftler nennen dies das collective action problem.5 Doch es gibt einen Weg aus diesem Dilemma: Europäische Politik muss von einer europäischen Regierung gemacht werden. Nationale Regierungen werden für nationale Politik gewählt.

Eine Regierung für Europa

Die Idee einer europäischen Regierung liegt in der Luft. Einige haben sie offen angesprochen, etwa der belgische Premierminister Guy Verhofstadt; für andere ergibt sie sich aus der Notwendigkeit, die Europäische Kommission zu reformieren. Dahinter steckt die Erkenntnis, dass sich die Lebenswelt der Europäer seit der Unterzeichnung der Römischen Verträge dramatisch verändert hat, die politischen Institutionen aber weitgehend die gleichen geblieben sind.

Europa ist tagtägliche Wirklichkeit aller seiner Bürger. Die Verbraucher profitieren vom Binnenmarkt und in der Tasche tragen sie den Euro. Zahlreiche Politikfelder sind europäisiert, da Entscheidungen einzelner Regierungen unmittelbar Konsequenzen für Bürger in anderen Ländern haben. Beispiele sind die technische Produktregulierung im Binnenmarkt (wie der Verbraucherschutz), die Prozessregulierung (wie soziale Mindeststandards), aber auch die Wettbewerbspolitik, der Außenhandel und die Landwirtschaftspolitik.

Für die Länder der Eurozone ist der gesamte Bereich der Stabilisierungspolitik, nämlich die Geld- und Budgetpolitik und deren Interaktion, ein öffentliches Gut geworden. So wird jeder Bürger der Eurozone, der einen Kredit aufnimmt oder ins Ausland reist, zu gleichen Bedingungen bedient. Folglich haben in diesem Bereich lokale Politikentscheidungen Auswirkungen auf alle, Einzelinteressen können das Gesamtinteresse stören. Erhöht beispielsweise ein Land sein Haushaltsdefizit, kann dies die Zinsen am Kapitalmarkt hochtreiben und dadurch das allgemeine Wachstum bremsen.

Aus diesem Grund insistiert die Föderalismustheorie seit langem darauf, dass bestimmte öffentliche Güter nur auf der Ebene des Zentralstaats effizient verwaltet werden können. Das gilt für die Stabilisierungspolitik ganz besonders, aber auch für die Bekämpfung grenzüberschreitender Kriminalität oder die Sicherheitspolitik. Diese Politikfelder müssen auf europäischer Ebene von einer einheitlichen Autorität bestimmt werden. In der Geldpolitik ist das mit der Schaffung der Europäischen Zentralbank erfolgt. Für Wettbewerbs- und Handelspolitik ist die Kommission zuständig. Es wäre sinnvoll, ihr auch in anderen Fällen das politische Initiativrecht zu geben.

Der Verfassungsvertrag muss gerettet werden – zumindest inhaltlich

An dieser Stelle stoßen wir allerdings an das Demokratieproblem: Wir können nicht mehr politische Kompetenzen nach Europa delegieren, ohne vorher die Legitimationsfrage zu lösen. Es ist das Grundprinzip aller Demokratien, dass Bürger per Wahlen ihre Regierungen mit derjenigen Gesetzgebung beauftragen, die anschließend auf sie selbst Anwendung findet. In der Europäischen Union ist das nicht der Fall. Die Bürger sind politisch in Nationalstaaten segregiert und wählen dort Regierungen, die für nationale und europäische öffentliche Güter zuständig sind. Diese Regierungen handeln in Brüssel gemäß ihren partiellen Interessen Kompromisse aus, maximieren aber nicht notwendigerweise das Gesamtinteresse aller europäischen Bürger. Europas gegenwärtiges Regierungssystem schafft somit weder politische Legitimität noch Effizienz. Deshalb müssen wir Europa demokratisieren. Die europäischen öffentlichen Güter sollte eine von den europäischen Bürgern gewählte Regierung verwalten. Als Etappenschritt muss deshalb der Verfassungsvertrag zumindest inhaltlich gerettet werden. Insgesamt gilt: Politische Entscheidungen müssen stärker politisiert werden.

Demokratie ist die institutionelle Form, in der sich das politische Gleichheitspostulat ausdrückt. Insofern ist Demokratie ein linkes Anliegen. Wenn aber politische Entscheidungen durch neoliberale Politik privatisiert werden, entfällt die demokratische Kontrolle, die jedem Bürger die gleiche Stimme und ein gleiches Recht gibt. Viele private Entscheidungen sind jedoch nicht isolierbar, sie haben unbeabsichtigte Auswirkungen auf Mitbürger, die an privaten oder dezentralen Entscheidungsprozessen nicht beteiligt waren. Diese so genannten Externalitäten brauchen einen Regulationsmechanismus, der klassischerweise vom Staat wahrgenommen wird. Der Kern des demokratischen Rechtsstaates besteht gerade darin, dass er jedem einzelnen Bürger über das allgemeine Wahlrecht die gleiche Möglichkeit zur Mitwirkung garantiert. Die Bürger sind der Souverän. Der Staat ist ihr Agent.

In dem Maße, wie Neoliberale den Staat abbauen, greifen sie auch das republikanisch-demokratische Mitbestimmungsrecht der Bürger an. Für eine demokratische Linke, die das Gleichheitspostulat ernst nimmt, bedeutet das den Verlust lang erkämpfter Rechte. Demokratie ist für sie ein Mittel, das neoliberale Ungleichgewicht zu korrigieren. Dennoch erkennen auch konservative Neoliberale, dass die Externalitäten privater Entscheidungen reguliert werden müssen. Für dieses Problem haben sie zwei Lösungen gefunden:

Die erste Lösung betrifft die Delegation spezifischer Regulationsaufgaben an unabhängige Behörden. Dadurch mag technokratische Effizienz maximiert werden, zugleich aber wird die Politik der demokratischen Kontrolle entzogen. In den vergangenen zwei Jahrzehnten ist die EU zunehmend zu diesen Zwecken missbraucht worden. Das System zwischenstaatlicher Kooperation in der EU ist die Inkarnation dieses Phänomens. Für die Bürger ist oft nur die Absurdität der Regelungsdichte erkennbar – etwa EU-Direktiven zum Krümmungswinkel von Bananen. Der technokratische Ausschluss demokratischer Bürgerkontrolle nährt die politische Frustration, die sich in Populismus, Euroskepsis und einem neuen Nationalismus niederschlägt.

Die zweite reaktionär-konservative Lösung des Externalitätenproblems ist die Rückkehr zu Moral, Sitte und konservativen Werten im Sinne einer Leitkultur. Anstatt über den demokratischen Staat ihre kollektiven Präferenzen zu verwirklichen, sollen sich die Bürger den traditionellen Werten der angeblich immer schon existierenden Kulturgemeinschaft unterwerfen. In Amerika führt dies zum christlichen Fundamentalismus der Republikaner, in Europa zum dezentralisierten Nationalismus der Euroskeptiker.

Allen Demokraten sollte klar sein: Öffentliche Güter, die alle europäischen Bürger gemeinsam betreffen, müssen von einer europäischen Regierung verwaltet werden, die ihren Bürgern nicht nur Rede und Antwort schuldig ist, sondern im Zweifelsfall auch von ihnen abberufen werden kann. Europas Bürger brauchen nicht nur eine Stimme – sie brauchen auch einen Stimmzettel.

War der Verfassungsvertrag ein Fehler?

Nationalisten wenden ein, ohne ein europäisches Volk könne es in Europa keine Demokratie geben. Außerdem würden europäische Kompromisse von demokratisch gewählten Regierungen ausgehandelt und seien somit hinreichend legitimiert.6 Dabei hat der konservativ-reaktionäre Begriff der Identitätsgemeinschaft mit demokratischer Interessenvertretung nichts zu tun. Wenn Europäer von politischen Maßnahmen auf europäischer Ebene betroffen sind, dann haben sie ein demokratisches Recht auf Selbstbestimmung. Das Repräsentationsargument greift ebenfalls zu kurz: Demokratische Willensbildung findet in öffentlichen Debatten statt, die sich besonders auf die Wahl von Regierungen konzentrieren. Der Europäische Rat, in dem die Regierungen der Mitgliedsstaaten vertreten sind, geht allerdings nicht aus allgemeinen Wahlen hervor. Er gleicht vielmehr einem ewigen Parlament, das sich allein durch Nachwahlen rekrutiert. Seine natürliche Rolle ist die Vertretung der Nationalstaatsinteressen, besonders im Fall von geteilten Zuständigkeiten.

Das natürliche Instrument der Volksvertretung ist das Europäische Parlament. Nur hat dieses Parlament nicht die Macht, eine europäische Regierung zu küren.7 Somit verhindert die nationalistische Argumentation vom fehlenden europäischen Volk sowohl eine effiziente Verwaltung der öffentlichen europäischen Güter, als auch eine demokratische Durchsetzung der europäischen Bürgerinteressen. Dieser fatale Mix aus nationalistischer Ideologie und unzeitgemäßen politischen Institutionen hat in den Referenden zum europäischen Verfassungsvertrag seine destruktive Explosivkraft entfaltet. Ohne eine moderne, demokratische Alternative wird die Europäische Union kaum überlebensfähig bleiben. War der Verfassungsvertrag also ein Fehler?

Meinungsumfragen zeigen sehr klar, dass die Wähler nicht „Europa“, sondern „diesen“ Vertrag abgelehnt haben (Eurobarometer 65, Juli 2006). Nur 36 Prozent der EU-Bürger finden, dass ihre Stimme in Europa zählt, aber 61 Prozent wünschen sich eine Verfassung, die Europa effizienter macht. In Frankreich war das wohl entscheidende Argument der linken Vertragsgegner, der Vertrag sei mit seinem nur einstimmig abänderbaren Teil III demokratisch nicht hinreichend kontrollierbar – und ein neoliberales Wirtschaftsmodell damit in Stein gemeißelt. Das eigentliche Problem des Vertrages ist somit weniger sein mutmaßlich unzureichender Sozialgehalt, sondern die ungelöste Demokratiefrage.

Europäische Demokratie verlangt, dass die Bürger in letzter Instanz als Souverän über die politische Orientierung der öffentlichen Güter entscheiden, die sie alle gemeinsam betreffen. Alle anderen politischen Entscheidungen bleiben gemäß dem Subsidiaritätsprinzip auf nationaler oder lokaler Ebene zu entscheiden. Hinter dieser Auffassung steht die moderne Idee, dass die einzelnen Bürger souveräne Eigentümer sowohl privater als auch öffentlicher Güter sind und dass sie Institutionen mit unterschiedlicher Reichweite beauftragen, diese Güter zu verwalten.

Was aber gehört genau zu den europäischen öffentlichen Gütern? Der vom europäischen Konvent erarbeitete Verfassungsentwurf hat eine klare Zuordnung von Kompetenzen in Europa erarbeitet. Als exklusive Zuständigkeit der europäischen Ebene hat er folgende Bereiche definiert: Zollunion, Wettbewerbspolitik im Binnenmarkt, Geldpolitik für die Eurozone, Erhaltung gewisser biologischer Meeresschätze, gemeinsame Handelspolitik, bestimmte internationale Verträge. Darüber hinaus teilen sich die Mitgliedsstaaten eine Anzahl von Zuständigkeiten mit der EU. Außerdem gibt es einen weiten Bereich alleiniger Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten, in dem sie im Eigen- und Gemeinschaftsinteresse miteinander kooperieren können.

Man mag sich über den Inhalt dieser Kompetenzliste streiten. So hat der belgische Premierminister Guy Verhofstadt vorgeschlagen, eine europäische Regierung solle die Bereiche Sicherheit und grenzüberschreitende Justiz, Technologiepolitik, Wirtschafts- und Sozialpolitik, Diplomatie und Armee übernehmen.8 Mittelfristig mag dies sinnvoll sein. Zunächst wäre es aber ausreichend, zumindest für die im Verfassungsvertrag vorgesehenen Kompetenzbereiche eine demokratische Legitimation institutionell zu verankern.

Die Bürger als Autoren der Gesetze

Die ausschließlichen Kompetenzen der Union sollten das Herzstück einer politischen Union sein, die von einer europäischen Regierung verwaltet wird. Diese Regierung muss gegenüber den Wählern für die allgemeine politische Orientierung verantwortlich sein und vom Europäischen Parlament gewählt und abberufen werden. Es liegt nahe, die Kommission mit dieser Regierungsaufgabe zu betreuen. Die europäischen Bürger hätten dann nicht nur das Gefühl, sondern auch die Macht, europäische Politik in ihrem Sinne zu beeinflussen. Wie in jeder modernen Demokratie wären die Bürger in letzter Instanz die Autoren der Gesetze, die auf sie Anwendung finden.

Dieser Gedanke stößt allerdings auf die Ablehnung der nationalstaatlichen Regierungen und ihrer Beamten, die sich für die souveränen Eigentümer der Staatsmacht halten – und somit eine vordemokratische Staatsauffassung vertreten. Für Sozialdemokraten und aufgeklärte Vertreter des bürgerlichen Lagers sollte es demgegenüber selbstverständlich sein, dass Europas Bürger die eigentlichen Eigentümer öffentlicher Güter sind und deshalb ein Entscheidungsrecht haben. Dies schließt selbstverständlich nicht aus, dass die Regierungen der Mitgliedsstaaten im Bereich der geteilten Zuständigkeiten weiterhin ein Mitspracherecht behalten.

Die deutsche EU-Präsidentschaft hat nun die letzte Gelegenheit zu retten, was an dem Vertrag zu retten ist. Um seine Substanz zu erhalten, wird über einen Teil des Vertrages neu zu verhandeln sein. Dabei muss der Vertrag Europa stärker für Demokratie und Mitbestimmung seiner Bürger öffnen. Das wird kein leichtes Unterfangen. Aber Sozialdemokraten könnten über die Sozialdemokratische Partei Europas Druck zugunsten von mehr Demokratie mobilisieren.

Europa zu demokratisieren bedeutet, es zu politisieren. Wenn die Bürger ein Entscheidungsrecht haben sollen, dann müssen sie zwischen Politikoptionen wählen können. Parteien als Anbieter politischer Programme und politischen Personals müssen miteinander um die Wählergunst konkurrieren. Die Parteienkonkurrenz ist jedoch nur möglich, wenn ein weitreichender Verfassungskonsens aller großen demokratischen Volksparteien besteht. Nicht von ungefähr lehrt die Rechtstheorie, dass gute Verfassungen wertneutral in Bezug auf konkrete Politiken sind, zugleich aber allgemeinen Prinzipien von Fairness und Gerechtigkeit folgen.

„Es gehört uns allen, dieses Europa“

Eine demokratische Verfassung braucht eine Gründungskoalition, die die allgemeinen Prinzipien der modernen Demokratie teilt, nämlich Freiheit, Gleichheit, Solidarität. Eine große europäische sozial-liberale Koalition, die den modernen Teil der Christdemokratie einschließt, muss sich zur Gründungsbewegung der europäischen Demokratie zusammenschließen und den neuen Nationalismus in seine Schranken verweisen. Auf der Grundlage einer Verfassung, nach der die Bürger eine europäische Regierung wählen, sollten die Parteien dann in der konkreten Tagespolitik um die relative Gewichtung von Freiheits- und Gleichheitsprinzipien ringen: Brauchen wir mehr wirtschaftliche Freiheit oder mehr soziale Gerechtigkeit?

In einem modernen und demokratischen Europa könnten die Bürger ihr Schicksal selbst bestimmen und ihre politischen Präferenzen mittels allgemeiner, gemeinsamer Wahlen in konkrete Politik umsetzen. Europa wäre dann institutionell bürgernah – eine „Europäische Republik“. Der Begriff mag als zu groß erscheinen. Aber sein Kerngedanke ist einfach. Willy Brandt hat ihn einmal so formuliert: „Es gehört uns allen, dieses Europa.“

Anmerkungen
1 Das Gedächtnis der öffentlichen Meinung ist kurz. Auch wenn sich heute Sozialdemokraten auf die Soziale Marktwirtschaft berufen, sollten sie nicht vergessen, dass dieses Konzept ursprünglich als ein politischer Kampfbegriff gegen sie gemünzt war. Wie Wolfgang Münchau (Das Ende der Sozialen Marktwirtschaft, München 2006) zeigt, ist die Soziale Markwirtschaft in Deutschland weder sozial noch eine Marktwirtschaft. Während Ludwig Ehrhard wenigstens noch von „Wohlstand für alle“ sprach, war Konrad Adenauer sehr viel zynischer: Er klebte das Etikett „sozial“ auf Erhards Marktwirtschaft, um seine CDU von der Versuchung des Marxismus zu befreien. Siehe A. J. Nicholls, Freedom with Responsibility: The Social Market Economy in Germany, 1918-1963, Oxford 2000.
2 Zur Rolle Helmut Schmidts bei der Schaffung des Euro, siehe Stefan Collignon und D. Schwarzer, Private Sector Involvement in The Euro: The Power of Ideas, London 2003.
3 In euroskeptischen Ländern sind selbst Pro-Europäer nicht immun gegen nationalistische Diskurse. So werben sie in Großbritannien oder Schweden mit dem Argument für Europa, durch ihre Mitgliedschaft werde die EU eher so werden, „wie es bei uns ist“.
4 Um Missverständnissen vorzubeugen: Respekt gegenüber einem einzelnen Mitglied einer Gruppe, etwa einem Anhänger des Islams, schließt den Respekt für die Religion aller anderen Mitglieder seiner Gruppe ein. Dagegen gewährleistet der Respekt gegenüber einer Kultur oder einer Nation in keiner Weise die Würde und Rechte einzelner Mitglieder dieser Gruppe.
5 Für eine ausführlichere Diskussion siehe Stefan Collignon, Is Europe going far enough? Reflections on the EU’s Economic Governance, in: Journal of European Public Policy 11 (2004) 5.
6 Leider hat sich sogar das Bundesverfassungsgericht in seinem Maastricht-Urteil von 1993 in diesen Streit eingemischt. Autor dieses unglücklichen, erzkonservativen Urteils war der seit dem vergangenen Bundestagswahlkampf weithin bekannte Paul Kirchhof.

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