Europa gestalten - oder nur zugucken?
Ende 2012 präsentierte der damalige Präsident des Europäischen Rates, Herman van Rompuy, die in Zusammenarbeit mit dem Präsidenten der Europäischen Kommission, der Eurogruppe und der Europäischen Zentralbank (EZB) erarbeiteten Reformmaßnahmen für eine „echte“ Wirtschafts- und Währungsunion. Nahezu zeitgleich legten die Kommission und das Europäische Parlament jeweils eigene Pläne für die Zukunft der Eurozone vor. Auch wenn alle drei Berichte sich hinsichtlich der Tiefe der vorgeschlagenen Integrationsschritte unterscheiden, erkannten sie als Krisenursache unisono an, dass die mit dem Vertrag von Maastricht geschmiedete Wirtschafts- und Währungsunion zahlreiche Defizite aufweist, die zur heutigen Krise führten. So wird etwa die Glaubwürdigkeit haushaltsorientierter Regelwerke wie im Fall des Stabilitäts- und Wachstumspakts diskutiert. Sowohl die Europäische Kommission als auch das EU-Parlament begrüßen daher in ihren Berichten ausdrücklich die Reforminitiativen zur nachhaltigeren Koordinierung haushaltspolitischer Regeln: Six- und Two-Pack, Fiskalpakt und Euro-Plus-Pakt.
»Keine Eurobonds, solange ich lebe«
Doch bleiben die Forderungen nicht bei einer Verschärfung budgetpolitischer Instrumente stehen, wie sie all jene empfehlen, die in der jetzigen Krise nicht mehr als eine reine Staatsschuldenkrise erkennen. Korrekt ist, dass eine geld- und währungspolitische Integration ohne eine gemeinsame Fiskalpolitik krisenanfällig bleiben muss – die Eurokrise ist Resultat dieses Mangels. Die Annahme der neunziger Jahre, mit einem einheitlichen Nominalzins würde sich die fiskalische und politische Integration automatisch vollziehen, war reines politisches Wunschdenken. Abseits des tatsächlichen Austeritätskurses liefern die Autoren der Berichte Vorschläge für eine gemeinsame Fiskalunion: verschiedene Formen der Gemeinschaftshaftung, eine Fiskalkapazität zum Ausgleich asymmetrischer Schocks, bessere Steuerkoordinierung und neue Formen der demokratischen Legitimation. Die Bankenunion und die Idee eines europäischen Sozialpaktes sind ebenfalls Teil der Überlegungen.
Die Debatte über eine Fiskalunion wurde jedoch von der damaligen schwarz-gelben Bundesregierung umgehend im Keim erstickt. Gemeinschaftsanleihen werden seit Angela Merkels grimmiger Ankündigung „Keine Eurobonds, solange ich lebe“ tabuisiert, die Fiskalkapazität wurde auf ein anspruchsloses „Solidaritätsinstrument“ reduziert und bessere demokratische Kontrolle als „national ownership“ für Reformempfehlungen verbrämt. Von der Bankenunion einmal abgesehen, bei der ein Zurück zum Status quo ante nicht mehr möglich war, wurden auf Grundlage der Berichte aus dem Jahr 2012 keine konkreten Beschlüsse über einen Umbau der Währungsunion gefasst. Zu unversöhnlich standen und stehen sich die Anhänger einer Stabilitätsunion und die Befürworter einer Fiskalunion gegenüber.
Wo bleibt die Handschrift der SPD?
Seit die Risikoaufschläge auf Staatsanleihen durch die freimütige Euro-Bestandsgarantie von EZB-Chef Mario Draghi gesunken sind, hat zudem der politische Druck, grundlegende Reformen in die Wege zu leiten, spürbar abgenommen. Reformen wurden stattdessen stets aufs Neue verschoben. Ähnlich verhielt es sich bei den Verhandlungen über die Bankenunion – mit der Konsequenz, dass bei strittigen Punkten Kompromissentscheidungen getroffen wurden, die meist erst in ferner Zukunft greifen. So wird der Abwicklungsfonds für marode Finanzinstitute erst 2024 vollständig einsatzbereit sein. Erst nach zwei verzagten Jahren, in denen die maßgeblich von CDU/CSU und FDP entwickelte EU-Kürzungspolitik von der Troika in den Krisenländern weiter durchgesetzt wurde, kam die Reform der Währungsunion im Jahr 2014 wieder auf die Agenda des Europäischen Rates. Der neue Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hatte im Wahlkampf versprochen, die von ihm mitverfassten Reformpläne wieder aufgreifen zu wollen. Zugleich blieb die erhoffte Erholung von der Krise aus – im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten war die Eurozone auch 2014 noch meilenweit vom Vorkrisenniveau entfernt.
Doch so offen wie einst scheint der Prozess zur Reform der Eurozone nicht mehr zu sein. Im Gegenteil: Einige Mitgliedsstaaten haben aus dem Schock der unkonventionellen Vorschläge von 2012, die sie nur mit Mühe unter den Teppich kehren konnten, gelernt – und möchten nun am weiteren Prozess beteiligt sein. Angela Merkel und Wolfgang Schäuble störten sich damals vor allem an der kaum mehr vermeidbaren gemeinsamen Haftung bei der Abwicklung von Banken, weil sie fürchteten, deutsche Interessen würden gefährdet.
Eine im Februar dieses Jahres von der Europäischen Kommission im Europäischen Rat vorgestellte Analytical Note zu den Hintergründen der Eurokrise stellt trotz dieses sich abzeichnenden Umschwungs einen Punktsieg für die Anhänger der Stabilitätsunion dar. Entgegen der ausgewogenen Analyse der Krisenursachen von 2012 wird hier nun im Stile Merkels und Schäubles suggeriert, eine Niedriglohnstrategie, geringe Staatsausgaben, flexible Arbeitsmärkte und andere Strukturreformen hätten die Krise verhindern können – als ob die Fehler der Eurozone primär in den nationalen Politiken der einzelnen Staaten zu suchen seien, und nicht etwa in der Architektur der Wirtschafts- und Währungsunion.
Doch wo bleibt die Handschrift der SPD? In ihrem Grundsatzprogramm hat sie bereits vor Beginn der Eurokrise auf die Notwendigkeit einer koordinierten Wirtschaftspolitik, einer politischen und sozialen Union hingewiesen. Im letzten Bundestagswahlkampf forderten die Sozialdemokraten die Abkehr von Merkels einseitigem Krisennarrativ und ihres unheilvollen Reparaturmodus zugunsten einer umfassenden Neugestaltung der Eurozone. Gemeinsam mit seinem französischen Amtskollegen Emmanuel Macron präsentierte Vizekanzler und Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel Anfang Juni in einem Namensbeitrag notwendige Integrationsschritte für die Wirtschafts- und Währungsunion: darunter eine Fiskalkapazität, die ein eigenes Budget für die Eurozone erlaubt sowie die Einrichtung eines europäischen Währungsfonds. Aus Gabriels und Macrons Sicht ist ein einheitlicher währungspolitischer Integrationsraum nur mittels einer konjunkturstabilisierenden Wirtschaftspolitik sowie Kreditvergaben und Schuldenumstrukturierungen in Krisenzeiten möglich. Ebenso forderten sie, Steuerwettbewerb und Sozialdumping im Rahmen einer die Wirtschaftsunion ergänzenden Sozialunion zu begrenzen.
Deutsch-französische Kleinmütigkeit
Diesen progressiven Vorschlägen scheinen die Sherpas der deutschen und französischen Regierung schnell die Zähne gezogen zu haben. Dem Ende Juni erschienenen Bericht von Kommissionspräsident Juncker fehlt es an Biss, der notwendige Diskurs über einen progressiven Umbau der Eurozone bleibt aus. Pikantes Detail: Etwa zeitgleich zu Gabriels und Macrons Vorstoß ging bei der Kommission ein deutsch-französisches Regierungspapier als Beitrag zum Reformprozess ein, das genau in die gegensätzliche Richtung weist: Auf drei Seiten werden die alten Rezepte von Haushaltskonsolidierung, Strukturreformen und Employability präsentiert. Im Wesentlichen fasst das Dokument die Argumente der Anhänger einer Stabilitätsunion zusammen; in allgemeiner Form durfte die französische Regierung noch Hinweise auf die Wichtigkeit langfristiger Investitionen und die soziale Basis der Währungsunion einbringen. Die von Gabriel und Macron vorgebrachten Ansätze wurden von den Regierungen Deutschlands und Frankreichs dagegen nicht offiziell berücksichtigt. Lapidar heißt es zum Ende des gemeinsamen Papiers, der „zukünftige Bedarf der Eurozone“ müsse erst untersucht werden.
Junckers Bericht Die Wirtschafts- und Währungsunion vollenden fällt durch die deutsch-französische Kleinmütigkeit weit hinter die Forderungen der vor drei Jahren vorgelegten Umbaupläne zurück. Zwar soll die Bankenunion vollendet und das Europäische Parlament endlich in das Europäische Semester eingebunden werden – darüber hinaus sollen die Wettbewerbsfähigkeit des Euroraums und strukturpolitische Maßnahmen durch eine straffere wirtschaftspolitische Koordinierung gewährleistet werden. Ein noch einzurichtender europäischer Fiskalausschuss soll die Budgetpolitiken der Mitgliedsstaaten überwachen und die bessere Integration der Anleihe- und Kreditmärkte ökonomische Schocks über private Risikoteilung abfedern. Anders als 2012 sind ein gemeinsames Schuldenmanagement oder ein Versicherungsmechanismus gegen konjunkturelle Schocks nicht Gegenstand der Reformpläne. Nebulös bleibt auch die soziale Dimension, wenn von einem „Mindestsockel“ sozialer Schutzrechte und einem „sozialen AAA-Rating“ die Rede ist. Und die von Gabriel und Macron befürwortete Fiskalkapazität soll erst am Ende eines langen Konvergenzprozesses eingeführt werden.
Die Anhänger einer Stabilitätsunion konnten sich somit weitgehend durchsetzen. Das Ziel, in der Wirtschafts- und Währungsunion mehr sozioökonomische Konvergenz zu schaffen, mag auf den ersten Blick zwar im Einklang mit sozialdemokratischen Forderungen liegen, doch dieser Eindruck trügt. Denn die unterschiedlich hohen Inflationsraten und Lohnstückkosten in den Mitgliedsländern waren eine wesentliche Ursache für die Eurokrise. Hier ist mehr nominale Konvergenz gefordert. Der Juncker-Bericht spricht jedoch von realer Konvergenz, was auf eine Angleichung der Produktionsstrukturen hinausläuft. Bei 19 Mitgliedsstaaten ist das beim besten Willen nicht vorstellbar – und für die Funktionalität der Währungsunion wäre es auch unnötig: Jedes Land sollte auf Basis der nationalen Produktionsstrukturen und auf seinem Niveau glücklich werden, solange die Löhne mit der Produktivität Schritt halten und die Zielrate der Inflation berücksichtigt wird. Wer über gemeinsame Regeln hinaus reale Strukturen angleichen möchte, wird das Ziel entweder nicht erreichen: dann wird es auch keine Fiskalkapazität geben. Oder es kommt zu einer Spaltung Europas mit einem Kerneuropa weniger Staaten, die bereits ähnliche Wirtschaftsstrukturen aufweisen und eine Vorliebe für ordoliberale Haushaltspolitik teilen. Das unbedarfte Räsonieren über einen Ausschluss Griechenlands aus der Wirtschafts- und Währungsunion scheint die Präferenz des deutschen Finanzministers für die letztgenannte Option zu bestätigen.
Gabriel, lass Dir nicht den Schneid abkaufen!
Eine Stabilitätsunion und die Spaltung Europas stehen den SPD-Forderungen für eine Fiskalunion diametral entgegen. Sigmar Gabriel als versierter Machtpolitiker sollte sich in der Europapolitik von Wolfgang Schäuble nicht den Schneid abkaufen lassen. Eine Koalition ist immer ein Kompromiss – das muss auch für die von CDU/CSU bislang dominierte Europa- und Krisenpolitik gelten. Für den weiteren Reformprozess sollte die Regierung dringend die sozialdemokratischen Impulse aufnehmen, die in Parteiprogrammatik und Zeitungsartikeln aktuell ein Schattendasein fristen.