Europas deutsches Problem
Nach Jahren des Zitterns und Bangens hatten die europäischen Eliten in den vergangenen Monaten das Gefühl, das Schlimmste sei überstanden. Zumindest komme der Kollaps der Währungsunion nicht mehr als realistisches Szenario in Betracht. Zudem hatte Mario Draghi noch im vergangenen Jahr versichert, die Europäische Zentralbank (EZB) werde alles tun, um den Euro vor diesem Schicksal zu bewahren. Die Rettungsmaßnahmen der EZB, obgleich sie einen Bruch des Vertrages von Maastricht bedeuteten, wurden auch von Großbritannien begrüßt. Dort lässt sich mittlerweile allerdings kaum noch jemand auftreiben, der eingesteht, einst ein Fan der Währungsunion gewesen zu sein. Vielmehr sind heute eigentlich alle Briten heilfroh, dass sich ihr Land dem ehrgeizigsten aller europäischen Integrationsprojekte verweigerte.
Der Euro ist noch längst nicht gerettet
Die Zypernkrise hat die Regierungen der Eurozone unsanft daran erinnert, dass der Fortbestand des Euro noch längst nicht garantiert ist. Die dilettantische Rettungsaktion für den ökonomischen Winzling Zypern, die fünfte ihrer Art in der Eurozone binnen drei Jahren, hat die Gefahren beträchtlich erhöht. Die unbedachte Äußerung des holländischen Finanzministers Jeroen Dijsselbloem, der das Rettungspaket für Zypern als Modell für andere Länder empfahl, verschreckte die Sparer in den mediterranen Staaten. Denn es signalisierte Anlegern überall in Europa, dass ihre Bankguthaben nicht vor dem Zugriff ihrer allesamt hochverschuldeten Staaten sicher sind – was die Möglichkeit erheblich erhöht, dass es zu einer Bankenflucht kommen wird, sollten sich die Verhältnisse verschlechtern.
Der Inselstaat selbst geht düsteren Zeiten entgegen. Ganz egal ob Zypern in der Eurozone verbleibt, sie irgendwann verlässt oder herausgedrängt wird: Die Wirtschaft wird schrumpfen, und die Arbeitslosigkeit wird steigen. Ein Ausscheiden aus der Eurozone schließt Zyperns Präsident kategorisch aus. Damit beraubt er sein Land des Vorteils, den ein Exit nach sich zöge und den Island vorexerziert hat: Durch eine drastische Abwertung der nationalen Währung könnte Zypern den Tourismus beleben, die eigenen Exporte verbilligen und sich so langsam erholen. Innerhalb der Eurozone hingegen wird es für das Land weitaus schwieriger und langwieriger, sich zu regenerieren.
»Keinesfalls mit Italien«, sagte Schröder
Der Fall Zypern birgt weitere Lehren. Alle Europäer hat er an eine unbequeme, oft verdrängte Realität erinnert: Nicht allein der Süden ist bis über beide Ohren verschuldet, das Gleiche trifft auch auf die Mehrheit der Staaten im nördlichen und westlichen Europa zu. Gewiss stimmt, dass die existenzielle Krise des Euro auf den weltfremden, utopistischen Charakter des Gebildes einer Währungsunion zurückgeht. Gerhard Schröder hatte dieses Problem übrigens erkannt, weshalb er 1997 als damaliger Ministerpräsident Niedersachsens von dem Projekt abriet: „Lieber sehr viel später und keinesfalls unter Einschluss Italiens“, sagte er noch vor seiner Kanzlerschaft während eines Besuches in London. An Griechenland oder Spanien dachte zu dieser Zeit ohnehin noch niemand. Im kleinen Kreis stellte Schröder dann die Frage, wer denn, falls die Währungsunion Wirklichkeit werden sollte, für Italiens Schulden aufkommen werde. Wohlgemerkt lag zu diesem Zeitpunkt die Verschuldung Italiens bereits bei 120 Prozent seines Bruttosozialprodukts. Eineinhalb Jahre später konnte Schröder als Kanzler der rot-grünen Bundesregierung keinen Einfluss mehr auf die Entwicklung der Währungsunion nehmen, sie war beschlossene Sache.
Es kommt also erschwerend und verschärfend hinzu, dass Europa sowohl mit den Folgen eines unausgegorenen Projektes der Währungsunion als auch mit einer strukturellen Schuldenkrise zu kämpfen hat. Die riesigen nationalen Schulden und die Haushaltsdefizite abzubauen, die in den meisten Staaten bestehen und die den Schuldenstand weiter wachsen lassen, erweist sich als extrem schwierig, beinahe unmöglich. Im Euroraum ist es bislang einzig Irland gelungen, seine Staatsausgaben zwischen den Jahren 2011 und 2012 um real neun Prozent zu senken. Auch Deutschland, obgleich aufgrund seiner ökonomischen und finanziellen Stärke derzeit bewundert und noch mehr gefürchtet, wird erst nach der Einführung der so genannten Schuldenbremse aufhören, weitere Schulden anzuhäufen. Heute liegen sie bereits bei weit über der 80 Prozent des Bruttosozialprodukts und verschlingen alljährlich Zinszahlungen in Höhe von rund 80 Milliarden Euro.
Schlimmer steht es um die Finanzen in Großbritannien, das weit entfernt ist von einem ausgeglichenen Haushalt – und damit von der Fähigkeit, seinen Schuldenberg abzubauen. Das Budgetdefizit liegt immer noch bei über acht Prozent, die jährlichen Zinszahlungen für die Schulden betragen rund 44 Milliarden Pfund (rund 55 Milliarden Euro). Die Regierung von David Cameron hat eben nicht, wie die Labour-Opposition unablässig behauptet, einen gnadenlosen Kurs der unsozialen Kürzungen betrieben. (Nebenbei bemerkt: Die von Realisten der Partei als „Defizit-Leugnung“ gescholtene Labour-Strategie ist kurzsichtig und dürfte sich rächen, wenn die Partei, was durchaus wahrscheinlich ist, die nächste Wahl gewinnt und nach 2015 mit Defizit und Schulden konfrontiert wird. In Frankreich liefert dafür derzeit François Hollande aufschlussreichen Anschauungsunterricht.) Die Wahrheit ist, dass es der Koalition aus Konservativen und Liberaldemokraten in drei Regierungsjahren gerade so gelungen ist, den Anstieg der öffentlichen Ausgaben seit 2010 zu verringern. Die staatliche Verschuldung wird 2015, fünf Jahre nach Beginn des angeblichen Austeritätskurses, von über 1,1 Billionen Pfund auf 1,35 Billionen Pfund gestiegen sein.
Quer durch Europa werden auf viele Jahre hinaus alle Regierungen – ganz gleich welcher politischen Färbung – mit beißender Kritik und sozialen Protesten rechnen müssen, sobald sie sich an die Reduzierung der strukturellen Defizite machen. Genauso werden sie sich damit abfinden müssen, in diesem Fall nur eine kurze Lebensdauer zu haben und in aller Regel bei erster Gelegenheit wieder abgewählt zu werden.
Was den Umfang der Verschuldung betrifft, erlaubt die Zypernkrise einen frischen Blick auf das Arsenal, das Regierungen für den Abbau der Schulden zur Verfügung steht. Die Möglichkeiten, Steuern zu erhöhen oder die Ausgaben drastisch zu kürzen, stoßen ohnehin an enge Grenzen. Mit dem Abzug von 40 Prozent aller Guthaben über 100.000 Euro wurde der Einsatz einer weiteren Waffe vorgeführt. Die sozial gestaffelte Beschlagnahmung à la Zypern ist eine Option mehr, die nun gegebenenfalls zur Verfügung steht.
Deutschlands Sonderrolle in Europa
Die wirkungsvollste Waffe der westlichen Staaten aber ist die Inflation. Sie dürfte in Zukunft verstärkt genutzt werden. Gerade hat London der Bank of England, die bislang schon das so genannte quantitative easing betreibt und 300 Milliarden Pfund drucken durfte, grünes Licht für eine neue Runde der Inflationierung gegeben. Der bisherige Auftrag der britischen Zentralbank lautete, die Inflation bei zwei Prozent zu halten; ein Ziel, dass sie in den vergangen Jahren mit einer Preissteigerungsrate von knapp unter vier Prozent bezeichnenderweise verfehlte. Nun soll die Bank nebenbei vor allem für eines sorgen: für Wachstum. Die Entschuldung durch „kontrollierte Inflation“ wird den Regierenden in Zukunft einen Teil der unangenehmen Arbeit abnehmen.
Es bedurfte nicht der Zypernkrise, um Deutschlands Sonderstellung in Europa zu demonstrieren. Diese wurde jedoch durch die jüngsten Entwicklungen noch einmal nachhaltig unterstrichen. Ohne Deutschlands Zustimmung ist eben – ob in der Eurozone oder in der EU insgesamt – keine Maßnahme möglich. In Zyperns Fall ließ die Troika vorher jeden Plan von Berlin absegnen. „Deutsche Macht und wachsende antideutsche Ressentiments sind die wichtigsten Themen Europas“, schrieb Gideon Rachman, Kolumnist der Financial Times. Dabei übersah er nicht die Ironie dieser historischen Wendung. Schließlich war es ja gerade eines der wichtigsten Ziele des europäischen Projektes, das „deutsche Problem“, nämlich die überbordende Macht einer einzelnen Nation, endlich zu beheben. Die EU sollte dafür sorgen, dass Deutschland eben nicht, wie es einst Henry Kissinger feststellte, „zu groß ist für Europa und zu klein für die Welt“. Das Ziel wurde verfehlt. Jetzt wird überall in Europa – ob zornig, mit Sorge oder mit Gelassenheit – vom „deutschen Europa“ gesprochen.
Der linke, stets proeuropäisch eingestellte Guardian schmeichelte der durch viele garstige Karikaturen und Proteste verletzten deutschen Seele, als er kürzlich in einem Leitartikel befand, Deutschland sei auf mannigfaltige Weise „das Land, das sich jedes andere, Großbritannien eingeschlossen, wünscht sein zu können“. Die Liste des Lobes enthält „eine ausbalancierte Ökonomie, eine föderale Verfassung samt Mitbestimmung, einen fantastischen Exportsektor und wenig militärische Verpflichtungen“. Man vergaß zu erwähnen, dass es vor gut zehn Jahren noch ganz anders klang in der britischen Presse, dass Deutschland als der „kranke Mann Europas“ galt und dass der heutige Erfolg zu einem gerüttelten Maß den in Deutschlands linken Kreisen als „zu hart und unsozial“ verschrieenen Arbeitsmarktreformen der Regierung Schröder zu verdanken ist. Ebenso wie der Bereitschaft von Gewerkschaften und Arbeitnehmern, eine längere Durststrecke in Kauf zu nehmen und auf Lohnsteigerungen oberhalb der Inflationsrate zu verzichten.
Mit ihrem überdimensionierten Finanzsektor und ihrer militärischen Überforderung kann die stolze alte Demokratie Großbritannien nicht mit der neuen europäischen Vormacht Deutschland mithalten. Das meint jedenfalls der Guardian – und steht mit diesem Urteil nicht allein da.
Doch sollte man die Defizite der Bundesrepublik als Vormacht nicht übersehen, wobei diese Anmerkungen nicht mit einer parteipolitisch motivierten Kritik an Angela Merkels Europa- oder Sparkurs verwechselt werden dürfen.
Deutschland ist Europas „unwilliger Hegemon“. Weder historisch noch mental oder konstitutionell ist die Bundesrepublik in der Lage, die Rolle und die Aufgaben einer Vormacht zu erfüllen. Selbst dem Guardian scheint das zu dämmern, schließlich war der erwähnte Leitartikel überschrieben mit „Germany and Europe: on top, but not in charge“.
Die Aufgabe einer hegemonialen Macht ist es nicht, mit überlegener wirtschaftlicher, finanzieller oder militärischer Macht anderen Staaten den eigenen Willen aufzuzwingen. Vielmehr verlangt diese Rolle gleichermaßen Erfahrung, Weltgewandtheit und Übung. Sie erfordert, die vitalen Interessen anderer Nationen und ihre spezifischen Befindlichkeiten zu verstehen und zu berücksichtigen, zugleich aber das eigene nationale Interesse klar zu definieren. Mit anderen Worten: Ein Hegemon nutzt sein Gewicht, seinen Einfluss zum Wohle des Ganzen, der Staatengruppe oder der Konföderation, in welcher er agiert.
Geopolitik blieb den Deutschen fremd
Diese Fähigkeiten aufzuzählen, heißt, hinter Deutschlands Eignung für die Rolle einige Fragezeichen zu setzen. Deutschland ist gewiss eine stabile Demokratie, und die Ängste vor einer Rückkehr eines aggressiven deutschen Nationalismus in Europa sind unangebracht. Zugleich ist Deutschland absichtsvoll und vehement unmilitaristisch. Der Bundestag muss selbst zu operativen Einsätzen der Luftwaffe seine Zustimmung geben. Der Fall Libyen hat demonstriert, dass die kurze Phase unter Rot-Grün vergessen ist, in der Deutschland bereit war, im Kosovo durch die Teilnahme an einer militärischen Intervention aktiv Verantwortung zu übernehmen.
Nachkriegsdeutschland ist eigentümlich provinziell geblieben. Ein starkes Macht- und Entscheidungszentrum wurde von den Vätern der Verfassung bewusst vermieden. Geopolitik war nie die Stärke des „späten Nationalstaates“ gewesen, wie auch die exzessiven Überreaktionen der deutschen Geschichte zeigen. Dem neuen Deutschland, das aus einer moralischen Krise und Niederlage hervorging, ist Geopolitik fremd geblieben. Langfristiges Handeln richtet sich vornehmlich auf das Ökonomische.
In den ersten vier Jahrzehnten der Bundesrepublik war es das erklärte Ziel deutscher Außenpolitik, nicht den Eindruck zu vermitteln, man strebe nach Dominanz in Europa. Stattdessen wurde stets, von Adenauer über Brandt, von Schmidt bis Kohl, ein „europäisches Deutschland“ propagiert. Das ergänzte aufs Beste die französische Priorität, nach dem Zweiten Weltkrieg „ein europäisches Deutschland in einen französischen Europa“ zu schaffen – so jedenfalls die etwas polemisch gemeinte aber durchaus zutreffende Charakterisierung französischer Außenpolitik nach 1945. Das wurde für einen gewissen Zeitraum erreicht und bildete die Grundlage für die Dominanz der deutsch–französischen Achse in der EU. Angesichts des ungelenken und gehemmten Partners an seiner Seite konnte Frankreich in Europa als Primus inter Pares agieren.
Warum Europa Großbritannien braucht
Diese Zeit ist vorbei, wie Paris in den vergangenen Jahren oft schmerzlich erfahren musste. Es war bezeichnend, wie sich Angela Merkel Ende vergangenen Jahres im Streit um den Haushalt der EU auf die Seite der Briten schlug. Ausgerechnet auf die Seite der Nation der ewigen europapolitischen Nörgler also, die sich allen schönen Integrationsvisionen beharrlich verweigerte, nun allerdings im Lichte der Euro-Misere mit gewissem Recht sagen kann: „Told you so.“
Was folgt aus der begrenzten deutschen Fähigkeit als Hegemon und dem jetzigen Zustand der EU? Dieser lässt sich als Suche nach einer neuen Formel beschreiben, die gewiss mehr sein wird als nur die Kooperation zwischen Nationalstaaten, aber deutlich weniger Integration bringen dürfte, als sich einst viele glühende Europäer erhofften.
Eine neue europäische Architektur wird schemenhaft erkennbar, ihre Konturen beginnen sich bereits herauszubilden. Einzig Großbritannien und Frankreich sind fähig und willens, im Interesse Europas sicherheitspolitische und militärische Maßnahmen zu ergreifen; die Fälle Libyen und Mali demonstrieren dies. Es ist kein Zufall, dass sowohl Tony Blair als auch David Cameron die militärische Zusammenarbeit der beiden atomaren Mittelmächte vertraglich bekräftigten. Kooperation – wie etwa die gemeinsame Nutzung eines französischen Flugzeugträgers – ist angesichts der schwindenden Finanzkraft beider Nationen ein Gebot der Vernunft. Zusammen forderten sie die EU auf, das Veto gegen Waffenexporte nach Syrien aufzuheben – eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik wird so zwar immer mehr zur Schimäre. Das enthebt Großbritannien aber nicht der Pflicht, auf einem Kontinent, dessen ökonomische Kraft und politischer Einfluss dahinschwindet, die Notwendigkeit engerer Kooperation zu begreifen. Welche Rolle wiederum Deutschland im zukünftigen europäischen Gefüge spielen wird, entscheidet sich nicht zuletzt an seiner Bereitschaft und Fähigkeit, die mediterranen Länder vor selbstverschuldetem Bankrott und Euroexit zu bewahren.
Eines jedenfalls scheint klar: Utopische Konzepte der Eliten, denen wir den Euro verdanken, werden in Zukunft schlechte Chancen haben. Ganz gleich, wie viele hochfliegende Appelle für „mehr Europa“ Jürgen Habermas und andere Intellektuelle noch verbreiten mögen: Die Nationen werden sich „kosmopolitischen“ Entwürfen ebenso verweigern, wie es mit großen Mehrheiten bereits die Franzosen und Holländer taten, als sie vor acht Jahren „Nein“ zur europäischen Verfassung sagten. Europa wird wahrscheinlich eher abspecken, sich überbordender Regulierung, unsinniger bürokratischer Vorschriften, unverantwortlichen Finanzgebarens und schleichender Zentralisierung zulasten der Demokratie entledigen. Dann könnte ein schlankeres Europa entstehen, das neue Attraktivität entwickelt. Das könnte zugleich für viele Briten die Versuchung beenden, ihr eigenes Heil im Auszug aus der Europäischen Union zu suchen.
Zurzeit deuten einige Indizien auf eine mögliche Scheidung hin. Aber ein Europa ohne Großbritannien wäre ärmer und hätte weniger Einfluss in der Welt. Auf britischen Pragmatismus und britische Erfahrung kann die EU nicht verzichten, auch wenn den Kontinentaleuropäern Großbritannien dann und wann auf die Nerven geht. Das „deutsche Problem“, das die Briten so oft beschworen haben, bleibt Europa so oder so erhalten. Deutschland bleibe Angelpunkt bei der Suche nach einer neuen europäischen Architektur, bemerkte in ihren Erinnerungen Margaret Thatcher, auch wenn „wohlerzogene Politiker dies als zu heikles Thema betrachten, als dass sie darüber reden würden“.