Europas Fass ohne Boden
Wir vertreten die These, dass beide Interessen legitim sind: Sowohl das serbische Beharren auf das Kosovo als auch die kosovo-albanische Forderung nach Unabhängigkeit. Durch die Internationalisierung des Jugoslawienkonflikts und die damit verbundene „universelle“ Menschenrechtspolitik wurde die EU zu einem Akteur auf dem Balkan, ohne darauf wirklich vorbereitet gewesen zu sein. Fehleinschätzungen, etwa in der Politik gegenüber dem geschrumpften Serbien, sind die Folge. Die europäische „Realpolitik“ der vergangenen Jahre ließ keine Alternativen zur Eigenstaatlichkeit Kosovos mehr zu.
„Kosovo je Srbija!“ („Kosovo ist Serbien“) skandierten am 21. Februar 2008 in Belgrad 300.000 Demonstranten. Eine nationale Einheitsfront zur Rettung des Kosovo schien entstanden zu sein, unterstützt von Staatspräsident Boris Tadic, Ministerpräsident Vojislav Kostunica und hochrangigen Kirchen- und Parteienvertretern. Doch die Erwartungen wurden enttäuscht. Obwohl die Schulen und Behörden geschlossen blieben, Massenverkehrsmittel gratis zur Verfügung standen und Prominente aus Kultur und Sport auftraten, blieben die Kundgebungen schlecht besucht. Trotz der großen Empörung über die völkerrechtlich umstrittene Anerkennungspolitik des Westens haben viele Serben das Kosovo längst abgeschrieben.
Opfermythos und verlorene Kriege
Die nächtliche Zerstörungsorgie militanter Hooligans in Belgrad, die sich unter anderem gegen die Botschaft der Vereinigten Staaten richtete, oder die gewalttätigen Ausschreitungen in der geteilten Stadt Mitrovica im Norden des Kosovo sind Zeugnis einer verbreiteten Frustration, die die serbische Gesellschaft seit den achtziger Jahren erfasst hat. Nationalistische Parolen haben nicht mehr die Wirkung wie in der Vergangenheit. Mehr denn je dienen sie als Frustrationskompensation, als Kollektivventil für Aggressionen. Der serbische Opfermythos, die ewige Quelle von Krieg und Gewalt auf dem westlichen Balkan, hat sich selbst ad absurdum geführt. Vier verlorene Kriege, Wirtschaftskrise und -embargo, das Versagen der Politiker und die Folgen internationaler Machtpolitik haben dem serbischen Nationalismus die Zähne gezogen.
Andererseits gibt es in Serbien noch immer eine tendenziell nationalistisch geprägte politische Kultur. Auch die bis vor kurzem mitregierende Demokratische Partei des im Jahr 2003 ermordeten Ministerpräsidenten Zoran Djindjic bedient sich in der Kosovofrage nationaler Metaphern – beschwört jedoch gleichzeitig einen pro-europäischen Kurs. Insgesamt sieht es so aus, als ob das anti-europäische Lager durch den Verlust Kosovos gestärkt wurde und die antiwestliche Stimmung in Serbien zugenommen hat. Bei den Parlamentswahlen am 11. Mai könnte erstmals die oppositionelle Serbische Radikale Partei des in Den Haag angeklagten Kriegsverbrechers Vojislav Seselj die Regierung übernehmen, die vehement fordert, Kosovo zu reintegrieren.
Böses Erwachen für Europa
Im Zentrum der serbischen Nationalidentität steht die im Jahr 1389 verlorene Schlacht auf dem Amselfeld, die in der Nähe des heutigen Pristina stattfand. Der serbische Fürst Lazar unterlag mit seinen ethnisch gemischten Kontingenten gegen das expandierende Osmanische Reich. Es folgten dreieinhalb Jahrhunderte osmanischer Regentschaft, die in der serbischen Öffentlichkeit als „Fremdherrschaft“ oder „türkisches Joch“ angesehen werden. Für den Amselfeldmythos ist zudem die Tatsache bedeutsam, dass sich im Kosovo auch das Zentrum der serbisch-orthodoxen Kirche befand: Das kirchliche Oberhaupt hatte seinen Sitz in Pec im West-Kosovo. Dort stehen auch noch die ältesten Klöster, von denen einige im März 2004 von kosovo-albanischen Hooligans gebrandschatzt wurden. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn serbische Herrscher und Literaten immer wieder im Fundus der historischen Halbwahrheiten rund um das Amselfeld wühlen, um die nationale Einheit zu beschwören und ihre politische Macht zu stärken. Dies tat auch Slobodan Milosevic, als er 1989 die 600-Jahr-Feier der Kosovo-Schlacht zelebrieren ließ. Danach raubte er dem Kosovo seine weitgehenden Autonomierechte und trug wesentlich zur Eskalation des Konfliktes zwischen Serben und Kosovo-Albanern bei.
Das anti-albanische Ressentiment prägt bis heute die politische Kultur Serbiens. Wie in vielen postkommunistischen Transformationsgesellschaften dient die nationale Verklärung der eigenen Geschichte auch in diesem Fall als Mittel zur Identitätsstiftung und -bewahrung. Den vermeintlich schiefen Blick des Westens auf die ost- oder südosteuropäische Geschichte empfinden selbst liberale Serben wie etwa Aleksa Djilas (dessen Vater neben Tito zu den Gründungsfiguren der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien zählte) als Provokation.
Während der jugoslawischen Sezessionskriege zwischen 1991 und 1995 schlitterte die EU in eine Legitimationskrise. Überrascht von den ethnischen Säuberungen und Massakern erwachte Europa aus seinen Träumen von einer „Friedensdividende“ nach dem gewonnen Kalten Krieg. Die Kriege in Kroatien und speziell in Bosnien-Herzegowina kosteten Zehntausende Menschen das Leben, Flüchtlingsströme in die Staaten der EU machten den Krieg auch auf lokaler Ebene sichtbar. Europa erwies sich als militärisch zu schwach und politisch zu heterogen, um einzugreifen. Eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik stand damals nicht auf der politischen Tagesordnung.
Parallelwelten ohne Berührungspunkte
Neben den Serben kämpfen auch die zwei Millionen Kosovoalbaner um das historische Erstgeburtsrecht und damit für den territorialen Besitzstand. Für sie hat Serbien jegliche Mitspracherechte im Kosovo verwirkt, nachdem die Belgrader Zentralregierung dort ein in Europa beispielloses Repressionsregime etablierte, das zehn Jahre lang 90 Prozent der Bevölkerung tyrannisierte. Beide Seiten richteten sich in ihren Nischen ein. Die Parallelwelten hatten kaum Berührungspunkte – mit Ausnahme der ständigen Personen- und Autokontrollen, Hausdurchsuchungen, Beschlagnahmungen seitens der serbischen Miliz und Polizei.
Auf Druck von Milosevic wurde das Kosovoproblem bei den Friedensverhandlungen von Dayton im Jahr 1995 ausgeklammert. Die Beendigung des Krieges in Bosnien-Herzegowina schien diesen Preis wert zu sein. Mit der Gründung der UCK, der „Befreiungsarmee“ für ein unabhängiges Kosovo, setzte dann ein Wendepunkt ein: Auf der einen Seite verschärfte sich die Situation. Die bewaffneten Konflikte eskalierten, so dass der internationale Druck auf das Belgrader Regime wuchs. Auf der anderen Seite hatten sich auch die politischen Rahmenbedingungen verändert. Die westlichen Demokratien reagierten diesmal entschiedener.
Serbiens Isolation und Europas Verantwortung
Angeführt von der Regierung Clinton drängte der Westen auf serbische Zugeständnisse, vor allem Gebiets- und Souveränitätsverzichte, die im umstrittenen Rambouillet-Abkommen vom Februar 1999 niedergelegt sind. Die serbische Regierung weigerte sich jedoch, dieses „Diktat“ zu unterzeichnen – und verkannte dabei, dass die Brutalität der jugoslawischen Zerfallskriege in den westlichen Demokratien den Blickwinkel auf das Völkerrecht und die nationalstaatliche Souveränität verändert hatte. Humanitäre, notfalls auch militärische Interventionen zugunsten der leidenden Bevölkerung waren nunmehr populär – auch aufgrund der intensiven Medienberichterstattung. Von diesem Paradigmenwechsel profitierte die UCK, deren kriminelle Energie und Kriegsverbrechen von der westlichen Berichterstattung teilweise ausgeblendet wurden.
Sowohl die EU als auch ihre Mitgliedsstaaten haben gegenüber dem Gesamtkontinent eine wertepolitische Verantwortung. Die EU-Verträge enthalten die Grundsätze der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte sowie der Rechtsstaatlichkeit. Über diese wertegeleiteten Ziele hinaus lassen sich auf dem gesamten Westbalkan sicherheits- und wirtschaftspolitische Interessen der EU und ihrer Mitgliedsstaaten ausmachen. Wegen ihrer möglichen grenzüberschreitenden Auswirkungen gehört die Verhinderung gewaltsamer ethnischer Konflikte zu den gesamteuropäischen Sicherheitsinteressen. So könnte zum Beispiel im Falle verschärfter Repression der ungarischen Minderheit in der serbischen Provinz Vojvodina das EU- und Nato-Mitglied Ungarn in den Konflikt hineingezogen werden.
Grundsätzlich gilt: Solange sich die Serben weiter weigern, im Kosovo gemeinsame staatliche Strukturen aufzubauen, lässt sich die Region nicht wirklich befrieden. Serbiens Isolation und die anhaltende Demütigung begünstigt indes die serbisch-russische Zusammenarbeit, wie sie sich etwa auf dem Energiesektor anbahnt. Die Dauerblockade Russlands im UN-Sicherheitsrat in der Kosovofrage kann nicht im Interesse des Westens liegen. Darüber hinaus hat der Kosovo-Konflikt das Potenzial, Gewaltausbrüche separatistischer Serben in der Republika Srspka auszulösen und damit „die Büchse der Pandora“ (Hans-Joachim Witthauer) zu öffnen. Genährt werden diese Ängste von Aussagen des serbischen Ministerpräsidenten Kostunica, der nach der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo auch den benachbarten Serben in der Srspska das Recht zur Abspaltung von der Bosnischen Föderation zugestand.
Endlich auf dem Weg nach Westen?
Mittels regionaler Kooperation, Aufbauhilfe und euro-atlantischer Integration hat die EU im Rahmen des Stabilitätspakts für Südosteuropa (und seit Februar 2008 mit dem Regional Cooperation Council) viele Projekte zum Wiederaufbau auf den Weg gebracht. Sie waren und sind zum Nutzen der jeweiligen geförderten Staaten, gleichzeitig jedoch auch im wirtschaftpolitischen Interesse der EU.
Bislang mussten sich die Länder des Westbalkans mit dem Instrument der Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen (SAA) als Vorsstufe zur EU-Integration zufrieden geben. Den internationalen Pariastaat Serbien lockt die EU mit einer SAA-Perspektive sowie mit Visa- und Studienerleichterungen. Die Unterzeichnung des Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommens am 29. April 2008 am Rande eines EU-Außenministertreffens in Luxemburg war eine weitere symbolische Geste gegenüber Serbien. Damit soll die „Kröte“ Kosovo geschluckt und eine europafreundliche Politik gefördert werden. Im Grunde wird die Parlamentswahl am 11. Mai zu einem Referendum über eine EU-Beitrittskandidatur Serbiens.
Was die USA von Europa erwarten
Ethnisch geprägte Konflikte in Südosteuropa müssen vordringlich als europäisches Problem aufgefasst werden. Und in der Tat hat die EU inzwischen die maßgebliche Rolle beim zivilen Wiederaufbau der Region sowie bei der militärischen Sicherung des Kosovo und in Bosnien-Herzegowina übernommen, nachdem während der südosteuropäischen Konflikte in den neunziger Jahren die Vereinigten Staaten die militärische und oft auch die politische Regie geführt hatten.
Zwar sind auf dem Balkan keine nationalen Interessen der Vereinigten Staaten direkt bedroht, doch festigt Amerika über seine militärische Präsenz etwa im Kosovo (hier existiert mit „Bondsteel“ die größte amerikanische Militärbasis in Europa) sowie durch finanzielles Engagement langfristig seine Rolle in Europa. Da auf der außenpolitischen Prioritätenliste zahlreiche weitere Interessensphären stehen, muss Washington mit seinen begrenzten Ressourcen haushalten. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass die Vereinigten Staaten gegenüber den Europäern immer wieder auf Lastenteilung bestehen, ohne zeitgleich ihren politischen Einfluss aufzugeben.
Zurück zum Ausgangspunkt: Die Internationalisierung der jugoslawischen Zerfallskriege hat die EU zum außen-, sicherheits- und wirtschaftspolitischen Akteur in Südosteuropa gemacht. Begünstigt wurde dies unter anderem durch das Ende des Ost-West-Konflikts, als sich die Rechtsauffassung durchsetzte, Staaten könnten das Recht über einen Teil ihres Territoriums und die dort lebende Bevölkerungsgruppen verwirken, wenn diese von Völkermord bedroht sind. Hieraus war der am 24. März 1999 begonnene Nato-Luftkrieg gegen Serbien und Montenegro eine logische Konsequenz. Rund 10.000 kosovo-albanische Zivilisten wurden getötet, knapp 1,5 Millionen Kosovo-Albaner vertrieben. Mehr als 200.000 serbische Zivilisten und Zehntausende Sinti und Roma verließen das Kosovo. Nur wenige sind bisher zurückgekehrt. Immerhin wurde Milosevic gestürzt. Allerdings wurde das Völkerrecht durch die „Selbstmandatierung“ der Nato unter Umgehung des UN-Sicherheitsrates beschädigt. Die UN-Resolution 1244 stellte Kosovo unter UN-Verwaltung. Zusammen mit der KFOR sicherte die Nato den Friedens- und Wiederaufbauprozess. Kosovo blieb integraler Bestandteil Serbiens, für die Kosovo-Albaner gab es jedoch zu einer Unabhängigkeit keine Alternative. Ihr Drängen und das Beharren Serbiens auf dem völkerrechtlichten Status quo führten in eine Zwickmühle.
Warum der Ahtisaari-Plan rechtswidrig war
Den Gordischen Knoten versuchten die Vereinigten Staaten und die EU im UN-Sicherheitsrat mit dem so genannten Ahtisaari-Plan zu durchbrechen, der eine konditionierte Unabhängigkeit Kosovos in Aussicht stellte. Die weiteren Verhandlungen über den zukünftigen Kosovo-Status scheiterten. Ende 2007 wurden bei einem Treffen der EU-Außenminister Stimmen laut, welche die Unabhängigkeit des Kosovo – auch im Falle eines russischen Vetos im UN-Sicherheitsrat – für unausweichlich hielten. Erwogen wurde eine Neuinterpretation der UN-Resolution 1244. Die Anerkennung eines unabhängigen, souveränen Kosovo durch einige EU-Staaten und die Vereinigten Staaten, rückte somit Anfang 2008 in den Bereich des Möglichen.
Leider trägt bereits der Ahtisaari-Plan trotz vieler fortschrittlicher Bezugspunkte auf Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Minderheitenrechte völkerrechtswidrige Züge. Ferner blendet er historisch-kulturelle Argumente aus, die für die serbische Seite sprechen. Völlig inkonsequent wird den bosnischen Serben – sollten sie sich die kosovo-albanische Argumentation aneignen, die zur Eigenstaatlichkeit führte – die Möglichkeit vorenthalten, sich von Bosnien-Herzegowina abzuspalten, um sich dem heutigen Restserbien anzuschließen. Diese inkonsistente Politik führt auf Dauer zu weiteren Spannungen und zu einem fundamentalen Glaubwürdigkeitsverlust.
Wird Kosovo zum failed state?
Der Weg vom internationalen Protektorat unter UNMIK-Verwaltung zu einem unabhängigen Kosovo hat für Europa seinen Preis. Fest steht, dass die Vereinigten Staaten, die Nato und die Vereinten Nationen ihr Engagement zurückfahren. Die EU ist aufgefordert, die sicherheitspolitischen, polizeilichen, juristischen, verwaltungstechnischen und infrastrukturellen Lücken zu schließen. Serbien und Kosovo werden – wie Bosnien-Herzegowina – zu einem Testfall. Es geht um die Handlungsfähigkeit der EU, um eine eigenständige Außen-, Sicherheits-, Demokratisierungspolitik Europas – und damit letztlich und grundlegend um seine Integrationspolitik.
Fest steht, dass sich die EU entschieden hat, im Kosovo ihre Rechtsstaatsmission EULEX einzurichten, die sie in direkte Konfrontation mit der organisierten Kriminalität und den staatlichen Strukturen bringen wird. Letztlich haben sich die EU und die Vereinigten Staaten aus der Not heraus für ein unabhängiges Kosovo entschieden, auch deshalb, weil das Kosovo als Kristallisationspunkt transnationaler organisierter Kriminalität gilt. Als failed state in sozioökonomischer Rückständigkeit verharrend wäre es ein Fass ohne Boden. Nicht zuletzt die unverblümten Gewaltandrohungen radikaler Kosovo-Albaner – und damit verbunden die sich in den vergangenen Monaten auch unter westlichen Diplomaten ausbreitende Furcht vor bewaffneten Ausschreitungen – haben einen nachdrücklichen Beitrag zur staatlichen Souveränität Kosovos geleistet.