Europas Sicherheit - mit oder gegen Russland?

Ob konventionelle Waffen, Kosovo oder Raketenabwehr: Unter Wladimir Putin hat Moskau die Europäer vor die Alternative gestellt, Russland als Partner oder als Gegner zu betrachten. Die Antwort fällt bislang unentschieden aus. Putin darf zufrieden sein

Seit Monaten kritisiert Wladimir Putin die Sicherheitspolitik des Westens. Ob es um Washingtons Vorhaben geht, in Tschechien und Polen Teile des amerikanischen Raketenabwehrsystems aufzubauen, ob es um die Nato-Pläne geht, dem Kosovo eine überwachte Souveränität zu gewähren oder ob über die Zukunft des Vertrages über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) diskutiert wird – Moskau formuliert Widerspruch. Und Russland formuliert seinen Anspruch: Aus seiner Sicht ist die sicherheitspolitische Kooperation mit dem Westen unbefriedigend. Einseitige Entscheidungen des Westens verändern die sicherheitspolitische Lage in Europa. Moskau beklagt, nicht gefragt oder zumindest nicht ausreichend konsultiert worden zu sein und stellt eine alte Gretchenfrage: Will der Westen europäische Sicherheit künftig mit oder gegen Russland gestalten?

 

Die westlichen Staaten geben keine einheitliche Antwort auf die russischen Fragen. Einige sind bereit, Russland entgegenzukommen, andere sehen Moskau als potenziellen Risikofaktor und wollen daher keine Mitsprache gewähren. Wieder andere wollen keinen Streit mit Moskau oder Washington. Manche schweigen oder sehen einfach keine akute Handlungsnotwendigkeit. Doch beliebig lange aussitzen lassen sich die Moskauer Fragen nicht. Zu groß sind die damit verbundenen Weichenstellungen.

 

In seiner diesjährigen Rede an die Nation verkündete Wladimir Putin „ein Moratorium der russischen Umsetzung des KSE-Vertrages, bis alle Nato-Staaten ihn ratifizieren und beginnen, sich strikt daran zu halten – so wie es Russland bereits heute tut.“ Er schlug vor, das Thema im Nato-Russland-Rat zu diskutieren. Jedoch müsse man binnen eines Jahres eine Lösung finden. Sollten Verhandlungen nicht weiterführen, werde Moskau die „Möglichkeit prüfen, seine Verpflichtungen aus dem KSE-Vertrag zu beenden“.

 

Russland kritisiert den Westen seit Jahren

 

Ganz überraschend kam der russische Vorstoß nicht. Schon seit Jahren kritisiert Russland die westliche Politik in Sachen KSE. Der KSE-Vertrag aus dem Jahr 1990 legte für die Hauptwaffensysteme der Nato und des Warschauer Paktes gleiche Obergrenzen fest. Als Hauptwaffensysteme galten Panzer, gepanzerte Kampffahrzeuge, Artilleriegeschütze, Kampfhubschrauber und Kampfflugzeuge. Was über die vereinbarten Obergrenzen hinausging, musste zerstört oder abgezogen werden. In der Folge wurden über 60.000 Großwaffensysteme verschrottet. Im KSE-1a-Vertrag wurden 1992 zusätzlich nationale Obergrenzen für die Personalstärken der Streitkräfte der Länder des inzwischen aufgelösten Warschauer Paktes und der Nato vereinbart. Beide Abmachungen wurden von allen damals Beteiligten ratifiziert und zügig umgesetzt.

 

Als die Nato im Jahr 1997 erstmals nach Osten erweitert werden sollte, musste der KSE-Vertrag an die neue geografische Wirklichkeit angepasst werden. Die „Blockstruktur“ des Vertrages – hier der Warschauer Pakt und dort die Nato – war nicht mehr angemessen. Denn der Warschauer Pakt war längst Geschichte; mit Polen, Ungarn und der Tschechischen Republik traten sogar erstmals ehemalige Mitglieder des Warschauer Paktes der Nato bei. Um das Problem zu lösen und Russlands Bedenken gegen die Nato-Erweiterung politisch abzufedern, beschloss man, mit dem Nato-Russland-Rat ein Konsultationsgremium zu gründen und das Mandat für Verhandlungen über einen neuen KSE-Vertrag zu erteilen.

 

Verlegt die Nato Truppen nach Osten?

 

Anlässlich des OSZE-Gipfels 1999 in Istanbul war der Adaptierte KSE-Vertrag (AKSE) unterschriftsreif. Er enthielt nationale Obergrenzen für die Hauptwaffensysteme der einzelnen Vertragsmitglieder, die in der Summe etwas niedriger ausfielen als im alten KSE-Vertrag. Zugleich sah der neue Vertrag erstmals die Möglichkeit des Beitritts neuer Mitglieder aus dem Kreis aller OSZE-Mitglieder vor. Außerdem enthielt er besondere Flankenregeln für den Nord- und Südosten Russlands sowie Obergrenzen und Regeln für die Stationierung zusätzlicher Nato-Truppen in den neuen Mitgliedstaaten. Die Flankenregeln sollten sicherstellen, dass Moskau seine durch den Zerfall der Sowjetunion entstandenen kleinen Nachbarn wie die baltischen Staaten oder Georgien nicht unter Druck setzen würde. Die Verstärkungsregeln gingen auf russische Befürchtungen zurück, die Nato könne Truppen nach Osten verlegen. Alle KSE-Mitglieder unterzeichneten den AKSE-Vertrag 1999. Doch in Kraft getreten ist er bis heute nicht. Nur die großen Nachfolgestaaten der Sowjetunion – also Russland, Weißrussland, Kasachstan und die Ukraine – haben ihn ratifiziert. Kein Nato-Staat folgte diesem Beispiel.

 

Die zweite Osterweiterung der Nato im Jahr 2004 verschärfte das Problem aus russischer Sicht, denn eine erneute Anpassung des KSE-Vertrages ist noch nicht erfolgt. Slowenien und die baltischen Staaten gehören dem KSE-Regime nicht einmal an. Sie unterliegen damit keinerlei Begrenzungen für Personal, Hauptwaffensysteme oder Verstärkungen auf ihrem Territorium. Theoretisch kann die Nato in jedem dieser Länder so viele Truppen stationieren, wie sie will, ohne gegen den KSE-Vertrag zu verstoßen. Zugleich können die genannten neuen Nato-Mitglieder auch dem alten KSE-Vertrag nicht beitreten, da dieser keine Beitrittsklausel hat.

 

Schon anlässlich der Münchener Sicherheitskonferenz 2004 griff der russische Verteidigungsminister, Sergei Iwanow, das Thema auf: „Ist der KSE-Vertrag wirklich weiterhin ein Eckpfeiler der Europäischen Sicherheit? ... Oder wird er zu einem weiteren Relikt des Kalten Krieges, wie der ABM-Vertrag einmal genannt wurde?“, fragte er in Anspielung auf einen Ausspruch des damaligen US-Verteidigungsministers Donald Rumsfeld. Iwanow, heute ein aussichtsreicher Kandidat für die Nachfolge Putins, warnte damals wörtlich: „Im Ernst – eine Schwächung der Kontrollregime für konventionelle Waffen in Europa stimmt nicht mit den Interessen der russischen nationalen Sicherheit überein, aber sie ist auch kein irreparabler Verlust für Russlands Sicherheit, wie einige meinen könnten.“ Iwanow regte an, im Nato-Russland-Rat zügig das Mandat für erneute Verhandlungen über eine Anpassung des KSE-Regimes an die zweite Erweiterung der Nato zu erarbeiten. Er forderte, alle Nato-Staaten sollten dem KSE-Regime beitreten und den AKSE-Vertrag ratifizieren.

 

Bis 2007 passierte wieder nichts

 

Bis Anfang 2007 passierte wieder nichts. Die Nato-Staaten reagierten nicht. Sie argumentierten, zusammen mit dem AKSE-Abkommen aus dem Jahr 1999 seien die Istanbuler Verpflichtungen eingegangen worden. Damit habe sich Russland zum Rückzug seiner Truppen aus Moldawien und Georgien verpflicht, der noch nicht abgeschlossen sei. Erst dann sei eine Ratifizierung möglich. Die Istanbuler Verpflichtungen kennen ein solches zeitliches Junktim jedoch nicht. Es wurde erst sechs Monate nach Istanbul aufgestellt, als sich die Nato-Außenminister aus Protest gegen den zweiten Tschetschenienkrieg in Florenz darauf einigten, das AKSE-Abkommen erst zu ratifizieren, wenn der Abzug Russlands aus Georgien und Moldawien umgesetzt sei.

 

Russland akzeptierte diese Argumentation nie. Dem zeitlichen Junktim habe das Land nie zugestimmt. Russland habe den Abzug politisch, aber nicht rechtlich verbindlich zu einem bestimmten Termin zugesagt. Es habe seine Abzugsverpflichtungen mittlerweile zum größten Teil erfüllt. Mit Georgien habe man sich auf einen Stationierungsvertrag und den Abzug bis 2008 geeinigt und diesen auch großteils umgesetzt. In Moldawien gebe es nur noch wenige hundert Soldaten. Sie würden ein riesiges Munitions- und Waffendepot bewachen, das keinesfalls unbeaufsichtigt bleiben könne.

 

Washington zeigt wenig Interesse

 

Innerhalb der Nato gibt es unterschiedliche Auffassungen darüber, ob Russland genug getan hat, um mit der Ratifizierung des AKSE-Vertrages zu beginnen. Deutschland würde akzeptieren, dass eine zeitlich begrenzte, per Vertrag geregelte Anwesenheit russischer Truppen in Georgien und Moldawien kein Hindernis für die AKSE-Ratifizierung darstellt. Allerdings ist dies Berlin keinen Streit in der Nato wert. Aber die Vereinigten Staaten und andere Nato-Staaten machen einen vollständigen Abzug aller russischen Soldaten zur Voraussetzung für den Beginn der westlichen Ratifizierung. Washington zeigt darüber hinaus wenig Interesse an einer vertraglich vereinbarten Rüstungskontrolle.

 

Auch eine Sonderkonferenz der KSE-Vertragsstaaten im Juni 2007 brachte keinen Fortschritt. Zwar hatte Nato-Generalssekretär Jaap de Hoop Scheffer noch einmal die grundsätzliche Bereitschaft der Nato-Staaten betont, den AKSE-Vertrag zu ratifizieren. Aber auf eine gemeinsame Schlusserklärung und eine Selbstverpflichtung für das weitere Vorgehen konnte man sich mit Russland nicht einigen. Intern bewertet das Bundesverteidigungsministerium die Konferenz als gescheitert.

 

Mit der Ankündigung, das KSE-Vertragssystem notfalls ganz in Frage zu stellen, bringt Wladimir Putin die westlichen Staaten allerdings auch in Zugzwang. Sie müssen diskutieren, was ihnen dieser „Eckpfeiler europäischer Sicherheit“ und die vertraglich vereinbarte Rüstungskontrolle insgesamt künftig wert sind. Russland verlieh seiner Forderung bereits Nachdruck, indem es seine Informationspflichten über Truppenverlegungen aus dem AKSE-Vertrag aussetzte. Im Verteidigungsministerium wird nun befürchtet, dass nicht nur das KSE-Regime ein Opfer dieser Kontroverse werden könne, sondern auch weitere für Europa wichtige Vereinbarungen über gegenseitige Transparenz und vertrauensbildende Maßnahmen. Als Beispiel wird der „Vertrag über den offenen Himmel“ angeführt, der gegenseitige Verifikationsflüge ermöglicht.

 

Moskau verstärkt den Druck auf die Nato

 

Moskau signalisiert, Russland könne notfalls auch ohne das KSE-Regime leben – und verstärkt mit dieser Spiegelung der amerikanischen Haltung zur Zukunft der Rüstungskontrolle den Druck auf die europäischen Nato-Mitglieder. Vor allem sie haben ein Interesse daran, dass Russland weiterhin in das KSE-Regime eingebunden ist. Aus europäischer Sicht ist es vorteilhaft, dass jede Verlegung russischer Streitkräfte in den westlichen Teilen Russlands durch die Regeln des KSE-Regimes enge Grenzen hat. Die Spielregeln „gemeinsamer Sicherheit“ mit Russland und die multilaterale Rüstungskontrolle sind für Europa weiterhin attraktiv. Aber gilt das auch für Washington und die Garde derer, die Rüstungskontrollverträge vor allem als Beschränkung der eigenen Handlungsfreiheit betrachten? Und gilt es auch für jene neuen Mitglieder der Nato, die sich von ihrem bilateralen Verhältnis zu den Vereinigten Staaten eine stärkere Sicherheitsgarantie erhoffen als aus den Bündnisverpflichtungen im Rahmen der Nato?

 

Die alte Einkreisungsangst erwacht erneut

 

Washingtons Pläne, ab dem Jahr 2008 in Polen und Tschechien Teile des amerikanischen Raketenabwehrsystems aufzustellen, um Mittel- und Langstreckenraketen aus dem Iran abschießen zu können, haben zu einer weiteren scharfen Kontroverse geführt. Russland lehnt diese Pläne aus zwei Gründen ab.

 

Erstens bezweifelt Moskau, dass schon jetzt ein Raketenabwehrsystem gegen eine noch gar nicht existierende Bedrohung aus Iran stationiert werden muss. Die Russen befürchten, das System könnte auch einen Teil der schrumpfenden russischen Raketenstreitkräfte unschädlich machen. Deshalb wollen sie das Vorhaben blockieren und drohen mit Gegenmaßnahmen: Der INF-Vertrag, der Russland und den Vereinigten Staaten den Besitz von Mittelstreckenraketen mit Reichweiten von 500 bis 5.500 Kilometern untersagt, könnte gekündigt werden. Russland könnte derartige Raketen auf die neuen amerikanischen Basen in Polen und Tschechien richten. Es könnte zudem den START-1-Vertrag über strategische Nuklearwaffen, der im Jahr 2009 ausläuft, nicht verlängern. Auch an dieser Stelle stehen rüstungskontrollpolitische Vereinbarungen zur Debatte, die aus europäischer Sicht bedeutsam sind.

 

Zweitens lehnt Russland die Pläne der Vereinigten Staaten ab, weil sie alte Moskauer Einkreisungsängste zu neuem Leben erwecken. Für diese Ängste gibt es psychologische und reale Gründe, die sich aus der Erweiterung der Nato und dem gewachsenen Einfluss der USA in der Peripherie Russlands ergeben. Russland befürchtet, dass politisch, aber nicht rechtlich bindende Zusagen des Westens aufgekündigt werden könnten, die im Zuge der Erweiterungen der Nato gegeben wurden.

 

Putins Polemik zielt auf Wirkung in Europa

 

So erhielt Russland während der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen die Zusage, dass die deutsche Vereinigung nicht genutzt werde, um signifikante Militärpotenziale dauerhaft weiter östlich zu stationieren. Im Jahr 1997 versprachen die Vereinigten Staaten, dass sie keine Nuklearwaffen und keine Infrastruktur für die nukleare Abschreckung in den neuen Nato-Mitgliedstaaten stationieren würden. Washington betrachtet seine Raketenabwehr heute als Teil seines Abschreckungspotenzials, der so genannten Triade. Dieses Argument nimmt Russland auf. In den Stationierungsplänen sieht es den Versuch, Teile des amerikanischen Abschreckungspotenzials näher an den russischen Grenzen zu stationieren. Es sieht die Zusagen in Frage gestellt, die die Nato ihm 1997 gegeben hat. Zudem beklagt Moskau, von den Vereinigten Staaten lediglich informiert und nicht konsultiert worden zu sein.

 

Die heftige Polemik Moskaus gegen die Pläne der Vereinigten Staaten zielt auf Wirkung in Europa. Einige europäische Akteure – zum Beispiel das deutsche Außenministerium – zeigen Verständnis für Teile der russischen Argumente und wollen eine politische Entfremdung zwischen Moskau und Europa vermeiden. Andere legen vor allem Wert auf ihr Verhältnis zu den Vereinigten Staaten. Polen und Tschechen etwa hoffen durch ihre Bereitschaft, den Vereinigten Staaten die Stationierung zu erlauben, ein besonders enges Verhältnis zu Washington aufzubauen. In Polen hofft man unrealistischerweise sogar auf eine bilaterale vertragliche Sicherheitsgarantie Washingtons, die über die Zusagen im Rahmen der Nato hinausgeht.

 

Geschickt nutzte Wladimir Putin die widerstrebenden Interessen, um die russische Kompromissfähigkeit unter Beweis zu stellen. Er bot Russlands Beteiligung an dem geplanten Raketenabwehrsystem an. Ein modernisiertes russisches Frühwarnradar in Asserbeidschan könne das Radar in Tschechien ersetzen und Russlands Bedenken hinfällig machen, weil dann russische Raketen nicht mehr erfasst werden könnten. So sei für Russland auch eine Raketenabwehr im Rahmen der Nato vorstellbar. Zugleich würde verhindert, dass Europa in Zonen ungleicher Sicherheit zerfällt.

 

Sicherheit mit oder gegen Russland?

 

Washington akzeptiert die russische Offerte aber lediglich als Ergänzung seiner bisherigen Pläne. Mitspracherechte Dritter beim Einsatz der Abwehrraketen will es nicht akzeptieren. Die Informationen, die es den Europäern über die Technik des geplanten Systems gibt, lassen noch keine eindeutige Antwort auf die Frage zu, ob das System nur US-Territorium oder auch weite Teile Europas schützen könnte.

 

Damit bleiben die entscheidenden Probleme bestehen und die Europäer hinsichtlich ihrer Haltung in Sachen Raketenabwehr gespalten. Zugleich werden sie von Washington und Moskau gedrängt, sich möglichst bald eindeutig zu positionieren. Unter den derzeitigen Umständen impliziert dies jedoch eine Entscheidung darüber, ob Sicherheit in Europa mit oder gegen Russland und dessen Interessen gestaltet werden soll.

 

Dasselbe gilt mit Blick auf die Zukunft des Kosovo. Russland lehnt die westlichen Vorschläge für eine überwachte Souveränität des Kosovo ab und droht mit einem Veto gegen eine entsprechende Resolution des UN-Sicherheitsrates. Es fordert, dass Serben und Kosovaren so lange weiter verhandeln, bis eine Lösung gefunden ist, die beide Seiten akzeptieren. Westliche Staaten – darunter auch Deutschland – drängen hingegen auf eine baldige Umsetzung der Vorschläge, die das Kosovo mit der Perspektive auf volle Eigenstaatlichkeit weiter aus Serbien herauslösen würden. Man hofft, den Weg frei zu machen, damit die EU im Kosovo größere Verantwortung übernehmen kann.

 

Die Europäer spekulieren darauf, dass Russland letztlich mangels Alternative einknickt und einen eigenständigen Staat Kosovo akzeptiert. Dieser könnte zusammen mit den anderen Staaten des Westbalkans Mitglied der EU werden. Die Befürworter dieses Vorgehens argumentieren, Moskau gehe es darum, einen Präzedenzfall zu verhindern, weil es um seine Position in westlich orientierten kleineren Nachbarstaaten wie Georgien oder Moldawien fürchte.

 

Moskaus Bedenken sind grundsätzlicher: Russland fürchtet einen Präzedenzfall, bei dem Teile der internationalen Gemeinschaft die territoriale Integrität eines Staates aufheben und ihn gegen den Willen der Zentralregierung in die Unabhängigkeit entlassen. Dabei denkt Russland an Tschetschenien und andere autonome Subjekte und Republiken in der Russischen Föderation, die unter Berufung auf den Präzedenzfall Kosovo gegen den Willen Moskaus eine Desintegration Russlands vorantreiben könnten. Diese Bedenken hinsichtlich der Auswirkungen eines „Präzedenzfalles Kosovo“ teilen einige westeuropäische Staaten. Weder in der EU noch in der Nato gibt es darüber derzeit einen Konsens.

 

Riskiert Europa die Entfremdung Russlands?

 

Auf allen genannten Konfliktfeldern wirft Russland die Frage auf, ob der Westen wichtige Entscheidungen für die Zukunft der europäischen Sicherheit mit oder gegen Moskau treffen will. Ist Russland nur dann ein willkommener Partner, wenn es den Plänen und Vorhaben Washingtons und der Europäer zustimmt oder auch dann, wenn es eigene, abweichende Interessen vertritt? Riskiert Europa im Zweifel die Entfremdung Russlands, um Streit mit Washington zu vermeiden? Agiert es einheitlich oder sind die Interessen der Europäer so gegensätzlich, dass die Europäische Union in wichtigen Fragen nicht als eigenständiger Akteur europäischer Sicherheit auftreten kann? Ist die Spaltung Europas in eine „alte“ und eine „neue“ Nato zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung geworden? Hat die politische Zusage der Nato aus dem Jahr 2004, den Nato-Russland-Rat zu einem Gremium auszubauen, in dem wichtige Entscheidungen getroffen werden, noch eine Zukunft? Oder bleibt es dabei, dass mit Moskau nur über Themen geredet wird, wenn die Nato sich einstimmig auf eine westliche Position geeinigt hat, also jedes einzelne Nato-Mitglied die Zusammenarbeit mit Russland in die Geiselhaft seiner Vetodrohung nehmen kann?

 

Zur Debatte steht damit also nicht nur das Verhältnis des Westens zu Russland. Moskaus Kritik zielt auf die künftige Sicherheitsarchitektur Europas. Soll die Nato wieder ein Ort kollektiver sicherheitspolitischer Entscheidungen werden? Oder verliert sie weiter an Bedeutung, weil sie nur noch als Ort der Konsultation verstanden wird, an dem man Partner für Koalitionen der Willigen findet? Dann würde sie aus russischer Sicht zugleich ein Ort der Blockade für eine gesamteuropäische sicherheitspolitische Zusammenarbeit.

 

Zur Debatte steht darüber hinaus das Verhältnis der EU-Mitgliedstaaten zueinander und die Zukunftsperspektive der europäischen Integration in Sachen Außen- und Sicherheitspolitik. Letztere kann nicht konstruktiv weiterentwickelt werden, wenn ein Teil der EU-Mitglieder in Grundsatzfragen europäischer Sicherheit das bilaterale Verhältnis zu den Vereinigten Staaten priorisiert, damit die Konfrontation mit Russland riskiert und Fortschritte bei der Entwicklung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik blockiert.

 

Wie Wladimir Putin seine Chance ergriff

 

Für Wladimir Putin ist eine westliche Debatte über die von Russland aufgeworfenen Streitpunkte ein guter Indikator dafür, in welche Richtung die Entwicklung geht. Darüber hinaus bietet sie ihm eine persönliche Chance: Putin wird in die russischen Geschichtsbücher ziemlich sicher als jener Präsident eingehen, der den politischen und wirtschaftlichen Niedergang Russlands gestoppt und dem Land seine Würde wiedergegeben hat. Mit einer strategischen Debatte darüber, ob Europa und die Vereinigten Staaten die Sicherheit Europas mit oder gegen Russland erzielen wollen, kann er das Gleiche auch in der Außen- und Sicherheitspolitik erreichen. Putin demonstriert, dass Russland wieder eine Großmacht auf Augenhöhe ist. Die Entscheidung, ob Russland daraus auch Konsequenzen zieht und unilateral agiert, wenn der Westen auf die Moskauer Interessenlage nicht eingeht, muss sein Nachfolger fällen.

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