Familienpolitik im europäischen Vergleich

Benchmarking und best practice

Europäischer Vergleich ist en vogue. Untersucht wird, wie ähnliche wirtschaftliche, soziale, technische Aufgaben unterschiedlich identifiziert, definiert und gelöst werden. Benchmarking bedeutet Kategorienbildung für Erfolgsfaktoren. Best practice ist ein praktischer Zugang zum Vergleich. Der Hinweis auf unterschiedliche Bedingungen entkräftet nicht den Ansatz. Man kann Äpfel mit Birnen vergleichen und dabei zu wertvollen Erkenntnissen kommen, die sowohl der Apfel- wie der Birnenverarbeitung nützen können.

Zu den politisch wichtigen Funktionen des internationalen Vergleichs gehört, erstens: Aufklärung, die Erkenntnis: Es ist auch anders möglich! Partikularität des uns Selbstverständlichen! Zweitens: Alternativen - welche verschiedenen Lösungen gibt es für ein soziales Problem? Wie lassen sich Reformen ins Werk setzen? Was können wir aus den Erfahrungen übernehmen?

In diesem Sinne werden hier zu den Kernbereichen Familienlastenausgleich und Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsleben europäische Vergleiche angestellt. Zu zeigen sind Gestaltungsmöglichkeiten und Innovationspotentiale.


Familienlastenausgleich

Der Familienlastenausgleich ist in Deutschland der am meisten diskutierte Teil der Familienpolitik. Auslöser hierfür ist die aktive Rolle des Bundesverfassungsgerichts. Meines Erachtens ist die wichtigste Frage nicht so sehr, ob die Entlastung der Familien den - stets sehr unterschiedlich berechneten - Kinderkosten nahekommt, sondern: Was ist die Bemessungslinie für einen erfolgreichen Lastenausgleich? Und welche Folgen hat diese Entlastung der Familien?

Hinsichtlich der Gestaltung des Familienlastenausgleichs lassen sich viele Gemeinsamkeiten in der EU erkennen. Alle leiden unter dem Anstieg der Sozialausgaben, vor allem bedingt durch Arbeitslosigkeit und Altern der Bevölkerung. Zudem üben die Maastricht-Kriterien (Begrenzung der Staatsverschuldung) einen zusätzlichen Druck auf die Senkung der Ausgaben aus. Auch deshalb ging das Niveau der monetären Sozialleistungen spätestens seit 1990 zurück.

In den skandinavischen Staaten ist der Sozialschutz durch das Prinzip der Staatsbürgerversorgung gekennzeichnet. Alle Bürger haben einen Anspruch auf Grundbeträge für bestimmte Risiken. Folglich werden von Kürzungen Familien genauso betroffen wie andere Gruppen. In Finnland und Schweden wurden tendenziell Dienst- und Geldleistungen reduziert, während es Dänemark gelungen ist, sogar weitere Verbesserungen zu realisieren.

In Großbritannien und Irland bietet das sogenannte Beveridge-System überwiegend steuerfinanzierte, tendenziell niedrige Leistungen ohne Voraussetzung der Beitragszahlung, aber mit Bedürftigkeitsprüfung. Deutlich war hier vor allem die Tendenz, im Rahmen niedriger Sozialleistungen Arbeitsanreize für Eltern zu schaffen. In den südeuropäischen Staaten ist der Aufbau familienpolitischer Fördersysteme noch lange nicht abgeschlossen und wurde seit 1990 auch nicht befördert. Die Staaten mit versicherungsbasierter Sicherung (Frankreich, Deutschland, Österreich, Benelux) haben die familienpolitischen Leistungen in der Regel vor Kürzungen bewahrt.

Das Thema Familienlastenausgleich war bereits Gegenstand intensiver europäisch-vergleichender Forschung. Nationale Experten berichten jährlich über die familienpolitischen Tendenzen ihrer Herkunftsländer. Die "Europäische Beobachtungsstelle für Familienangelegenheiten" macht daraus einen zusammenfassenden Bericht.

In allen Rankings zeichnete sich eine klare Spitzengruppe ab, bestehend aus Frankreich, Belgien, Dänemark und Luxemburg; bei keinem Indikator zur Leistungsfähigkeit erreichte ein anderer Staat das Niveau dieser vier Systeme.

In der Tabelle 1 wird der Wert eines "Kinderhilfepaketes", bestehend aus familienbezogenen Transfers, berechnet für 20 verschiedene Familientypen, kumuliert und als Abweichung vom europäischen Mittelwert (=0) dargestellt: Luxemburg, Frankreich, Belgien und Deutschland gehören zur Spitzengruppe mit den großzügigsten Kinderhilfepaketen. Aber im Sinne des Benchmarking ist auch zu fragen: Ist das nun ein Beweis für gelungene Familienpolitik? Das Beispiel Dänemark, das bei solchen Berechnungen eher ungünstig abschneidet, wirft Fragen auf. Welche Kriterien können denn die Familien- oder Kinderfreundlichkeit einer Gesellschaft belegen?

Traditionellerweise spielte die Geburtenzahl die größte Rolle bei der Beurteilung der Familienpolitik (Tabelle 2). Ein anderes Kriterium ist der Anteil von Familien, die sich für drei und mehr Kinder entschieden haben (Tabelle 2).

Der Blick auf diese Zahlen zeigt ein außergewöhnlich disparates Ergebnis. Zwar ist die Geburtenziffer tatsächlich in den Staaten mit wirksamem Familienlastenausgleich vergleichsweise
höher (Frankreich, Belgien, Luxemburg), aber ebenso in den skandinavischen Staaten mit umfangreichen sozialen Dienstleistungen (Dänemark, Schweden, Finnland). Auch die Geburtenraten in Großbritannien und Irland sind gleich hoch oder höher, obwohl es dort weder nennenswerten Familienlastenausgleich noch soziale Dienstleistungen in besonderem Umfang gibt. Der Anteil von Familien mit drei und mehr Kindern ist sogar in den angelsächsischen Ländern und den Niederlanden am höchsten.

Ein mögliches anderes Kriterium zur Bewertung der Leistungsfähigkeit familienpolitischer Systeme kann die Armut von Kindern sein. Es gibt - so die Europäische Beobachtungsstelle - eine Spitzengruppe von Ländern, in denen Familienarmut wirksam bekämpft wird: 1. Dänemark, 2. Frankreich, 3. Deutschland, 4. Belgien, 5. Niederlande.

Die hohe Frauenerwerbsquote in Dänemark ist hinsichtlich der Einkommensarmut deutlich wirksamer als ein noch so hoher Familienlastenausgleich, der - Beispiel Frankreich - nicht dazu geeignet scheint, das subjektive Erlebnis von Armut und Ausgrenzung zu verhindern.

Die Wirkung von Familienpolitik läßt sich nicht allein am Familienlastenausgleich bemessen. Sie muß im Wirkungszusammenhang des sozialen Sicherungssystems und der sozioökonomischen Lage beurteilt werden. Zu wenig diskutiert werden dabei Steuerungsmöglichkeiten des Familienlastenausgleichs. Er kann vertikal umverteilen und vordringlich die Armut bekämpfen (Beispiel Finnland, Schweden, Irland, Großbritannien). Er kann durch besondere Förderung zweiter und dritter Kinder auf die Geburtenrate einzuwirken versuchen (Frankreich). Er kann aber auch jedem einzelnen Kind unabhängig von der Lage der Eltern und der Zahl der Geschwister das gleiche Anrecht auf Transfers geben (Dänemark). Er kann auch vordringlich Steuergerechtigkeit realisieren (Luxemburg, vielleicht bald Deutschland).

Das Kinderleistungspaket steht in Konkurrenz zu anderen Einkommensquellen, insbesondere zum zweiten Haushaltseinkommen. Möglicherweise verstellt deshalb die in der Bundesrepublik vehement geführte Diskussion zum Familienlastenausgleich den Blick auf andere Bereiche der Familienpolitik.


Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsleben

Zu den klassischen Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsleben gehören Mutterschaftsurlaub, Vaterschaftsurlaub, Eltern- bzw. Erziehungsurlaub und die Freistellung aus familiären Gründen. Vergleicht man die Mitgliedstaaten der EU hinsichtlich der Dichte und Breite des Angebots, so ergibt sich ein sehr heterogenes Bild. Die Bundesrepublik ist ein guter Spiegel der Bandbreite mit ihrem Ost-West-Gegensatz von flächen- und bedarfsdeckender, ganztägiger Kinderbetreuung ab dem Krippenalter im Osten und dem ganz selektiv nur auf Kleinkinder von drei bis sechs Jahre ausgerichteten, häufig halbtägigen Betreuungsangebot im Westen.

Aus öffentlichen Mitteln finanzierte Kinderbetreuung

Wenn wir die Bundesrepublik, vor allem Westdeutschland, mit den "Leitnationen" Dänemark, Schweden und Frankreich vergleichen (Tabelle 3), so ergeben sich die Defizite vor allem in zwei Bereichen: bei der Betreuung der Unter-Dreijährigen und bei der Ganztagsbetreuung von Grundschulkindern.

Der politische Schwerpunkt wurde seit der Einführung des Erziehungsurlaubes 1986, ("familienpolitische Offensive" der CDU), auf die Förderung der Nichterwerbstätigkeit der Mütter von 0-3jährigen gelegt. 99 Prozent der Eltern nehmen Erziehungsurlaub, davon weniger als zwei Prozent Männer. 90 Prozent der Frauen nehmen die vollen drei Jahre. Haben wir es nur mit einem Entweder großzügiger Elternurlaub Oder großzügige Betreuung der Unter-Dreijährigen zu tun? Ein Blick auf die Staaten mit dem besten Betreuungsangebot für die Unter-Dreijährigen zeigt: Umfassende Kinderbetreuung korreliert häufig mit kürzerem Erziehungsurlaub. In einigen Ländern gibt es zusätzlich Regelungen, um die Väter am Erziehungsurlaub zu beteiligen. Ein bestimmter Anteil des Erziehungsurlaubs verfällt, wenn er nicht vom Vater genommen wird.

Lange Freistellungszeiten vermindern nicht nur den politischen Druck für mehr Kinderbetreuung, sie wirken sich auch negativ auf die Erwerbstätigkeit von Frauen aus und führen zu einem Anstieg der Erwerbslosigkeit insgesamt. Denn sie verursachen hohe Kosten für Arbeitgeber, bedeuten ein höheres Einstellungsrisiko für Frauen, und führen zur Dequalifizierung.

Vor diesem Hintergrund plädiere ich dafür, den Blick auf Alternativen im europäischen Ausland zu lenken, auf verbesserte Tagesbetreuung von Kindern. Je nach Deutung ist Kinderbetreuung ein Elternrecht, das auf die Kinder berufstätiger Eltern beschränkt ist. Dies ist zumeist die Praxis in deutschen Kommunen. Je nach Dauer der Abwesenheit beider Eltern wird festgelegt, auf wieviel Stunden Betreuung ein Kind "Anspruch" hat. Kinderbetreuung kann aber auch als Kinderrecht betrachtet werden. Sobald vorschulische Betreuung als Bildungseinrichtung begriffen wird, sollten alle Kinder unabhängig vom Erwerbsstatus der Eltern darauf ein Recht haben.

In Deutschland ist Tagesbetreuung von Kindern traditionell als Notlösung oder Serviceeinrichtung für Eltern angesehen worden, während die enge und ausschließliche Beziehung zwischen Mutter und Kleinkind glorifiziert wurde. In anderen europäischen Ländern finden wir auch Leitbilder für außerfamiliäre Erziehung. So ist heute in Großbritannien das Internat Symbol der vollendeten bürgerlichen und adligen Erziehung, in jüngster Zeit durch Harry Potters Hogwards auch deutschen Kindern wieder bekannt geworden.

Deutsche Kindergartenpädagogik folgt ganz überwiegend dem sogenannten situativen Ansatz. Aus der Situation und den spontanen Interessen der Kinder heraus werden Aktivitäten entwickelt. Dieser Ansatz versucht nichts anderes, als die pädagogisch ungezielte Atmosphäre der Familienerziehung nachzubilden. Dagegen hat die Blair-Regierung im Frühjahr 2000 eine Regelung erlassen, nach der die Alphabetisierung bereits in der Vorschule beginnen muß und den Vierjährigen Buchstaben und Zahlen obligatorisch vermittelt werden. Preschool ist ein Bildungsangebot, Bedenken gegen lange Schultage sind diesem Ansatz fremd. Auch das französische Ganztages-Schulsystem ist von einem gesellschaftlichen Konsens getragen.

Ein solcher Ansatz vorschulischer Betreuung als Bildungschance ist anschlußfähig an traditionelle sozialdemokratische Werte aus der Bildungsreform-Zeit der 70er Jahre und an die Idee kompensatorischer Erziehung, die Nachteile der unterschiedlichen Elternhäuser ausgleichen hilft. Dies ist um so wirksamer, je früher und je länger die Kinder betreut werden und je umfassender das Angebot ist. Wenn, wie in Schweden, jedem Kind in der Mittelschule das Angebot gemacht wird, kostenlos ein Instrument zu lernen, ist dies nicht länger ein Privileg der Mittelschichten. Wenn Zoo-, Kino- und Schwimmbadbesuch, Turnen, Tanzen und Gestalten in der Krippe stattfinden, wenn im Kindergarten Frühenglisch stattfindet, wenn der Hort Hausaufgabenunterstützung und Computerkurse bietet, dann verbessern sich die Chancen vor allem der Kinder, deren Eltern das Babyschwimmen, die Ballettschule, den Nachhilfelehrer und den Future Kids Kurs nicht bezahlen können oder wegen Erwerbstätigkeit nicht organisieren.

Qualität der Kinderbetreuung ist die größte Herausforderung. Die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit darf nicht auf Kosten der Kinder gefördert werden. Umgekehrt stellt eine Infrastruktur hervorragender Betreuungsmöglichkeiten ein wesentliches Element in der Förderung der Erwerbstätigkeit von Frauen dar. Es lastet dann kein schlechtes Gewissen auf den Eltern, sondern im Gegenteil kommen jene Eltern unter Erklärungsdruck, die ihren Kindern Chancen verweigern. Die Qualität der Kinderbetreuung spielt aber zum Beispiel im bisherigen Grundsatzprogramm der SPD keine Rolle.

Meine Schlußfolgerungen: 1. Harmonisierung von Familie und Beruf darf nicht auf Kosten der Kinder stattfinden. 2. Kinderbetreuung ist nicht nur Elternrecht, sondern auch Kinderrecht. 3. Hohe Qualität der Kinderbetreuung kann Rollenmuster auflösen helfen und ist damit ein Schritt zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf vor allem für Frauen. 4. Kinderbetreuung als Bildungschance kann ein Element eines neuen Familienleitbildes der SPD sein.

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