Form, Funktion, Inhalt

Können Netzwerke die SPD von einer "linken Volkspartei" zum "flexiblen Kanzlerwahlverein" verwandeln?

Wenn Willy Brandt zu Beginn seiner Reden in der Baracke die Gäste begrüßte, nutzte er oft die sympathische Formel "Ich begrüße alle Sozialdemokraten in und außerhalb der SPD."


Damit gab er allen zu verstehen, daß es nicht nur um die formale Mitgliedschaft in einer Partei, sondern um gemeinsame Grundüberzeugungen und einen verbindenden Wertehorizont ging.


Nicht nur in der Ära Brandt stand die so genannte "Vertrauensarbeit" im Zentrum sozialdemokratischer Basispolitik. Hunderte von Leitfäden und Broschüren hatten kein anderes Ziel, als den Aktiven klar zu machen, daß die Mit-wirkung in Vereinen und Verbänden, die Organisation von Straßen- und Kinderfesten, Sprechstunden und die ganz persönliche Bürgerhilfe das A und O erfolgreicher Parteiarbeit seien.


Die enge Verzahnung der SPD etwa mit den Jugendverbänden - organisiert über die jugendpolitische Kommission -, die Feinabstimmung mit Gewerkschaften, Arbeiterwohlfahrt oder den Mieterschutzvereinen gehörten zur Grundausstattung sozialdemokratischer Vetrauensbildung. Die gezielte Mandatsausstattung von Spitzenfunktionären aus dem sozialdemokratischen Umfeld gehörte jahrzehntelang zum guten Ton der sozialdemokratischen Familie.


Kaum ein Wahlkampf kam ohne ein fein gegliedertes System "sozialdemokratischer Wählerinitiativen" aus. Prominente Nichtmitglieder standen ganz oben auf den Unterschriftenlisten.


War die SPD also in ihrem Kern schon immer eine Netzwerkpartei? Worin besteht heute der qualitative Unterschiede zur Engholm-Scharping-Lafontaine-Partei? Gerhard Schröder nimmt sein Regierungsmotto "Erst das Land. Dann die Partei" zwar überaus wörtlich, aber diesen Kernsatz hätte wohl auch Willy Brandt unterschrieben.


Matthias Machnig reagiert nun mit seinem leise-revolutionären Konzept der Netzwerkpartei auf die Diktatur der Echtzeit und den Terror der Ökonomie. Um mit dem rasanten Tempo des "digitalen Kapitalismus" mitzuhalten und der Wirtschaft den Primat vor der Politik nicht kampflos zu überlassen, müsse die SPD mit flexiblen Netzwerken, erhöhter Dialogkompetenz und Moderationsfähigkeit ihr Überleben in einem fiebrigen Wählermarkt sichern. Ein ehrgeiziges Ziel, weil mit dem skizzierten Übergang von der linken Volkspartei zur Netzwerkpartei der Weg freigeschaufelt wird für eine "Partei neuen Typs". Es ist wohl nicht übertrieben, daß dieses Konzept enorme Sprengkraft in sich birgt. Würde es in aller Konsequenz umgesetzt, würde die SPD grundlegend renoviert, vom Kopf auf die Füße gestellt.


Das eigentlich bemerkenswerte an den Ausführungen des Bundesgeschäftsführers ist die schonungslose Abrechnung mit den Lebenslügen der Parteifunktionäre. In der Nachkriegsgeschichte der SPD hatte wohl noch kein anderer Spitzenmanager den Mut, die Verhältnisse der Partei so klar und schnörkellos zu benennen. Zwar werden Überalterung und Mitgliederschwund, Abschottung und Realitäts-Abkopplung, Selbstbezogenheit und programmatische Stagnation stets im diplomatischen Ton und homöopathischen Dosen in die neue Ideenlandschaft geträufelt. Aber Machnig hat den SPD-Apparat zwischen Paderborn und Pirna in den vergangenen Jahren intensiv genug kennengelernt, um zu wissen, daß mehr (zur Zeit) nicht möglich ist. Die andere SPD, die mit der neuen Zeit gehen will, wird vielen der 50- bis 6o-jährigen Funktionäre ein Gräuel sein. Sie prägen die Kultur und das Erscheinungsbild der Partei: Selbstzufrieden, eingefahren und an die traditionelle parlamentarische Politikvermittlung gewöhnt, lassen sie die Dinge treiben.


Erkannte Krisen können Aufbruchsignale für eine Neujustierung der politischen Arbeit sein.
Doch vieles bleibt bei Machnig und seinem Mitarbeiterstab noch im Konjunktiv, im Allgemeinen und Ungefähren. Dies ist nicht nur dem zu erwartenden Widerstand des Funktionärs-Mittelbaus und der Konfliktvermeider im Regierungsapparat geschuldet. Jede Neuausrichtung bringt Unruhe. Wie schwer es sein wird, die SPD zu einem großen Wissensvermittlungs- und Service-Netzwerk auszubauen, zeigt ein Blick in die jüngste Vergangenheit.


Vieles von dem, was heute unter dem Label Netzwerkpartei verkauft wird, stand schon im Abschlußbericht der Parteikommission "SPD 2000" unter Machnigs Vor-Vor-Vorgänger Karl-Heinz Blessing. Manche Ideen wurden auch schon von den Unternehmensberatern Zinsmeier und Lux im Auftrag der Parteiführung formuliert. Doch die große Leitidee der Öffnung, Verjüngung, Feminisierung blieb, wie bei zahllosen Kommissionen auf Länderebene, folgenlos. Erdacht, geschrieben und vergessen - ein fataler Kreislauf, der den geistigen Stoffwechsel der Parteiapparate beschreibt.


Trotz dieser Rahmenbedingungen wird das Netzwerk-Konzept nicht in den gewohnten Kreislauf geraten, weil zwei wesentliche Koordinaten die Situation heute von der Zeit der Übergangs-Vorsitzenden unterscheiden.


Erstens: Der Generalsekretär und der Geschäftsführer haben den Ernst der Lage erkannt, die Daten und Wählerströme ausgewertet und mit dem Wahlkampf 1998 bereits einen Vorgeschmack auf künftige "Medien-Wahlkämpfe" bekommen.


Zweitens: Franz Müntefering hat bereits im Mai einige wesentliche Punkte für die Neuorientierung der Partei durchgesetzt. Auch wenn es noch Widerstände gegen Vorwahlen von Wahlkreiskandidaten und die Platzierung von mindestens "10 Seiteneinsteigern" gibt, scheint doch klar zu sein, daß der Wille der Mandatsbesitzer und des Partei-Mittelbaus gebrochen wird. Die Auseinandersetzungen bei der Bildung eines schlagkräftigen Landesverbandes in Nordrhein-Westfalen zeigen außerdem, daß die (radikalen) Reformvorhaben mit einer gewissen Entschlossenheit vorangetrieben werden.


Mythos "lernende Organisation"


In der Wissensgesellschaft braucht man "lernende Organisationen", die schnell und unbürokratisch neue Tendenzen aufspüren, Trends aufnehmen und in eine moderne Konsenspolitik überführen. Die SPD muß ihre Dialogkompetenz erneuern, um durch Moderation von Konflikten und Diskursorientierung Unterstützung von möglichst vielen Bürgern zu bekommen. Doch das "atmende" Netzwerk, das das Lebensgefühl möglichst vieler heterogener, gesellschaftlicher Milieus aufnimmt, bleibt ein wünschenswertes möglicherweise zukunftsweisendes Konzept - archiviert noch am Reißbrett der
Wilhelmstraße.

Sieben wesentliche Einwände konturieren die Schwachstellen des Konzepts.


Erstens: Von inhaltlichen Festlegungen und Programm-Entwicklungen etwa um die traditionelle Trilogie "Freiheit - Gerechtigkeit - Solidarität" ist kaum die Rede. Organisation ist alles - der Inhalt ist nichts, könnte man zwischen den Zeilen lesen. Die indirekte Begründung für diese non-content-Strategie wird ebenfalls indirekt nachgeschoben: weil die Problemlagen so komplex, die globalisierten Wirtschaftsbeziehungen so nachhaltig und die Interessengegensätze im Wählermarkt so unüberschaubar seien,
müßten die inhaltlichen Leitplanken der SPD stets (von neuen Netzwerken) ausgehandelt werden. Gleichzeitig wird die seit Jahren registrierte Verunsicherung der Stammwähler mit diesem Kurs betont. Ihre Heimatlosigkeit aber bringt die SPD an den Rand der Regierungsfähigkeit in Bund, Ländern und Kommunen.


Nach der Episode rund um das Berliner Programm wird nun unter faktischem Ausschluss der (Partei-)Öffentlichkeit an einem neuen Grundsatzprogramm gearbeitet. Hier wird der Ball flach gehalten. Von Dialogkompetenz und Diskursfähigkeit kann keine Rede sein. Gäbe es ein besseres Feld, die Idee der Netzwerkpartei jetzt schon mit der öffentlichen Auseinandersetzung um die Grundwerte der Partei zu verknüpfen und das Interesse der Öffentlichkeit für sozialdemokratische Zukunftsideen zu wecken? Hier wäre die geeignete Baustelle, das Netzwerk-Konzept praktisch zu erproben. Selbstverständlich gilt Herbert Wehners Leitsatz "Organisation ist Politik" auch heute noch, dennoch muß die bewährte Er-kenntnis "Form follows function" in Erinnerung gerufen werden. Die inhaltliche Grundausstattung der SPD und das Austapezieren mit Leitideen scheint bewußt ausgeklammert zu werden. Um erst einmal den Turbo-Rückzug Lafontaines ganz und gar vergessen zu können?


Zweitens: Gerhard Schröder regiert die Berliner Republik wirtschaftsfreundlich, pragmatisch, auf nüchterne Effizienz bedacht, hat in zwei Jahren zahlreiche Projekte angepackt und umgesetzt. Manche Krise hat er geschickt gemeistert. Gleichwohl fehlt bis heute eine Überschrift, ein Leitmotiv, das seiner Politik den großen Rahmen gibt. Das Fehlen einer Dachmarke wirft aber gleichzeitig ein Schlaglicht auf das Fragmentarische der ersten beiden Jahre. Würde der Parteivorsitzende Gerhard Schröder das von seinem Bundesgeschäftsführer vorgelegte Netzwerk-Konzept protegieren wollen, könnte er dies mit seiner Skizze der Zivilgesellschaft unterfüttern. Dieses Rahmenkonzept für die Gesellschaft von morgen hätte den Vorteil, daß es auch im europäischen Kontext der Sozialdemokratie anschlußfähig wäre.


Schröders Modell der Zivilgesellschaft konkurriert allerdings mit seiner eigenen Dachmarke des "wirtschaftlichen Erfolgs und der guten Beziehungen zur Wirtschaft". Weil die Berliner Politik zwischen diesen beiden Polen hin und herpendelt, bleibt die inhaltliche Unterfütterung der avisierten Netzwerkpartei weiter offen.


Drittens: Die Nutzung von Elementen direkter Demokratie würde sich geschmeidig in ein Konzept der Bürgergesellschaft einfügen. Volksbegehren auf Bundesebene soll es wohl nach dem Willen der Parteiführung geben. Wie die genaue Ausgestaltung dieser neuen Mitwirkungsrechte aussehen soll, bleibt wolkig und soll einer Kommission unter Vorsitz der Justizministerin vorbehalten bleiben. Mehr Beteiligung für Bürger, mehr Mitsprache auch von Nicht-Mitgliedern in der Parteiarbeit. Das wären "planks" im Rahmenkonzept der Netzwerkpartei.


Viertens: Das gesamte Konzept rund um die künftige Netzwerkpartei SPD leidet unter mangelnder praktischer Durchdringung und entschlossener Implementierung bereits abgeklärter Positionen. Diese Defizit-Koordinaten sind aber entscheidend für dringend nötige Praxis-Erfolge, die die Beharrungskräfte, die jede Modernisierung und Öffnung der Partei blockieren wollen, überwinden können.


Das Ziel, im nächsten Bundestag dreißig Kandidaten unter 40 Jahren zu platzieren, ist zu bescheiden. Auch Kandidaten kurz vor dem vierten Lebensjahrzent spiegeln nicht die Lebensentwürfe der jungen Generation wieder. Der Ehrgeiz muß darin bestehen, das gesetzte Ziel mindestens zu verdoppeln, auch um der jetzt positionierten Funktionärsgeneration zu zeigen, daß das "alte Modell" des bequemen Berufspolitikers zu Ende ist. Die engagierten und qualifizierten Abgeordneten, die sich fachlich bewiesen haben, werden in diesem Konkurrenzkampf sicher nicht durchfallen. Ein strenger Wettbewerb bei der Kandidatenaufstellung wird auf mittlere Sicht die Partei beleben und beim Publikum der neuen Mitte die Ernsthaftigkeit des organisatorischen Neuanfangs glaubwürdig beweisen.


Fünftens: Die Professionalisierung der Mitarbeiter der Partei wird im Netzwerk-Konzept hervorgehoben. Ausgeblendet wird aber die dringend notwendige Aus- und Weiterbildung von Mandatsträgern auf allen Ebenen. Die dünn gesäten Talente in den Landtagsfraktionen, auch in der Bundestagsfraktion sind beredte Zeichen für längst überfälligen Handlungsbedarf. Viele Youngsters jenseits der ausgezehrten Parlamentarischen Linken und den überlebten Seeheimern, räumen ihre Überforderung im parlamentarischen Alltag ein. Eine systematische Schulung und ein kontinuierliches Coaching der talentierten Nachwuchskräfte müßte auch von der parteinahen Friedrich-Ebert Stiftung geleistet werden. Im Rahmen der "Politischen Akademie" wird hier für einen Teil der Zielgruppe von Kommunalpolitikern bereits Beachtliches geleistet. Wer künftig offen für Seiteneinsteiger sein möchte, muß aber das entsprechende Beratungsangebot bereithalten.


In der SPD vernachlässigt man den Nachwuchs nicht nur in Gestalt der in die Bedeutungslosigkeit versunkenen Jugendorganisation. Auch bei der Auswahl etwa von Ebert-Stipendiaten hätten längst die Alarmglocken klingeln müssen. Das gesellschaftliche Engagement der "künftigen Eliten" muß immer häufiger mit der Lupe gesucht werden. Mehr als ein Drittel der ausgewählten Kandidaten der SPD-Stiftung steht der wirtschaftliberalen FDP oder konservativen Parteien näher als der Sozialdemokratie.


Sechstens: Die Chancen des Internets werden von den Erfindern der Netzwerk-Partei zugleich über- und unterschätzt. Überschätzt weil durchklingt, man könne mit dem Internet den notwendigen Prozeß der gesellschaftlichen Verständigung über politische Problemlagen und notwendige Lösungsansätze quasi ersetzen. Der Netzaustausch von einzelnen mit einzelnen, ignoriert die Seele der Partei und die Bedeutung von Vergesellschaftungsprozessen. Der intellektuelle Austausch von Argumenten und Haltungen, der Wettbewerb von Ideen und Positionen läßt sich nicht allein über das Internet organisieren. Das Internet gehört zum Handwerkszeug jeder modernen Partei, kann den Informationsaustausch beschleunigen und die Informationsbeschaffung erleichtern. Eine Netzwerkpartei, die ihre Dialogkompetenz ausbauen und ihre Moderationsleitungen in den Vordergrund rücken möchte, kann aber auf lebendige Trainingsfelder und face-to-face-Kommunikation mitten im Leben nicht verzichten.


Unterschätzt werden die Chancen des Internets im Bereich der konzeptionellen Arbeit im internationalen Feld. Die Ausarbeitung von Lösungsvorschlägen, die Verdichtung politischer Positionen aus dem Wust unüberschaubarer Textfriedhöfe ist eine Aufgabe der Zukunft. Hier bietet das Internet noch große Potentiale für den unkomplizierten Austausch. Im übrigen zeigt die Tatsache, daß heute immer noch nicht jeder Ortsverein am Netz ist, den Modernisierungsbedarf. Gleichzeitig haben einzelne Landesverbände horrende Summen für ihren antiquierten Netzauftritt ausgegeben. Mit dünnem Serviceangebot, abgestandenen Pressetexten und wenigen interaktiven Angeboten. Eine Netzwerkpartei müßte wissen, daß die Pflege und die Aktualisierung von Portalen mit großem Aufwand verbunden ist. Wer hier nicht aktuell agiert, wird schnell vergessen ...


Siebtens: Zu Recht verweist Matthias Machnig auf die Bedeutung der Kommunikations-Kompetenz in der Mediengesellschaft. Auch wenn der Kanzler die damit verbundenen PR-Gesetze zweifellos beherrscht, gilt dies nicht gleichermaßen für die übrigen Akteure seiner Partei auf allen Ebenen. Hier besteht also ein riesiges Handlungsdefizit. Während die Konrad-Adenauer- und die Hans-Seidel-Stiftung bereits seit den achtziger Jahren professionelle Medienausbildung in großem Stil betreiben, beginnt die Friedrich-Ebert-Stiftung erst in diesem Jahr mit dem Aufbau einer Journalisten-Akademie in bescheidenem Umfang. Dieses Missverhältnis bei der Nutzung der vorhandenen Ressourcen illustriert das Handicap der Sozialdemokratie in diesem zentralen Feld. Die Gleichgültigkeit in der öffentlich-rechtlichen Gremienarbeit, die Achtlosigkeit bei den voranschreitenden Medien-Konzentrationsprozessen und die Behäbigkeit bei der Vermittlung politischer Inhalte spricht Bände.


Aber - wo Gefahr ist, wächst das Rettende. Diese Grundphilosophie prägt das anspruchsvolle Reformpaket der SPD, die "Netze für neue Allianzen" auswerfen möchte.

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