Fortschritt überall



Seit 1997 lebe ich in Peking. In dieser Zeit hat sich das Pro-Kopf-Einkommen der Chinesen nahezu verdreifacht. Aus einem Entwicklungsland ist ein Schwellenland geworden. Ich begegne dem Fortschritt täglich, überall. Meine chinesischen Nachbarn, die früher ihre Einkäufe zu Fuß oder mit dem Fahrrad machten, holen jetzt für alle kleinen Ausgänge ihr Auto aus der Tiefgarage. Stolz sind sie auf ihre vier Räder. Ständig stellen sie ihre neuen Limousinen im Parkverbot vor unserer Haustür ab, wo ich mit meinen Kindern deshalb nicht mehr Fußball spielen kann. Das ärgert mich. Meine Familie ist die einzige im siebenstöckigen Apartmenthaus, die kein Auto besitzt.

Aber die Nachbarn wollen ihr neues Auto vorführen, zumal wenn es ein Volkswagen ist, den sie ihrem deutschen Nachbarn zeigen können. Kann ich ihnen ihr lächerliches Gehabe übel nehmen, wenn sie für eine Tüte Äpfel vom Markt nebenan den 6-Zylinder-Motor anspringen lassen? Natürlich nicht. Ich vergesse meinen Ärger, lobe die Qualität von Volkswagen und versuche, mich mit ihnen an ihrem neu gewonnenen Wohlstandssymbol zu freuen.

Doch was sich für einen Deutschen in Peking von selbst versteht, ist daheim in Deutschland nicht allgemeine Sitte. Vor allem Deutschlands Meinungsführer lassen Großzügigkeit gegenüber China vermissen. Sie schelten die Chinesen als Aufsteiger und Angreifer. Sie missgönnen ihnen das bisschen erarbeiteten Wohlstand, denn sie glauben, dass China dem Westen die Zukunft verbaut. Sie fabulieren, dass chinesische Arbeiter deutschen Kollegen die Arbeitsplätze wegnehmen. Sie entwickeln Fantasien von China als einer dem Westen feindlich gegenüberstehenden Supermacht. Ausgerechnet die Philosophie des Mittelwegs, den Konfuzianismus, verwechseln sie mit einem neuen, fernöstlichen Fundamentalismus.

Natürlich denken nicht alle so. Es gibt in deutschen Umfragen immer wieder einen erstaunlich hohen Anteil von Leuten, die in China auch für sich und das eigene Land eine Chance sehen. Die glauben, dass Fortschritt in China auch Fortschritt zu Hause bedeuten kann. Als ich im Januar 2008 mit Helmut Schmidt über das China-Bild der Deutschen sprach, gab dieser sich überzeugt, dass es eher positiv als negativ sei. Das wäre schön. Doch ich kenne wenige in Deutschland, die über China denken wie Schmidt. Nach meinen Heimatbesuchen habe ich oft das Gefühl, dass er der Einzige ist, mit dem ich in der Beurteilung der chinesischen Entwicklung in jeder Hinsicht übereinstimme. Ihm nehme ich deshalb am allerwenigsten ab, dass die Deutschen in Sachen China seiner Meinung seien.

Wer glaubt in diesen harten Zeiten der Globalisierung schon wirklich daran, dass sich die deutsche und die chinesische Volkswirtschaft ergänzen, statt sich gegenseitig zu zerstören?

Ich sehe Winfried Vahland vor mir, den China-Chef von Volkswagen, wie er mir in seinen Pekinger Ausstellungsräumen erklärte, was alles an seinem neuen chinesischen Polo-Modell in Deutschland erdacht und produziert worden war. Alles Mögliche konnte Vahland vorweisen. Er hatte sogar aufpassen müssen, dass auch seine chinesischen Designer noch zum Zuge kamen, um den Wagen auf den chinesischen Kundengeschmack abzustimmen. Es war gerade in der Zeit, als in Deutschland die Thesen von der Abwanderung der deutschen Industrie nach China Konjunktur hatten, und Vahland setzte sich vehement gegen die Vorwürfe ein, VW betreibe den Ausverkauf deutscher Technologie in China.

Einer wie er mag für seine Kinder heute überlegen, ob es für sie nicht das Beste sei, wenn sie Chinesisch lernten. Aber Typen wie Vahland sehen die Dinge aus einer sehr privilegierten Situation. Sie kennen beide Seiten. Von Politik und Medien in Deutschland bekommen sie kaum Unterstützung.

Stattdessen schimpfen alle auf China: Politiker, Journalisten, Schriftsteller, Philosophen. Nicht einmal die Chefs von Volkswagen und Siemens in Deutschland, die Milliarden in China verdienen, wagen es, öffentlich das Wort für Peking zu ergreifen. Die wenigen Wirtschaftsbosse, die es trotzdem tun, wie BASF-Chef Jürgen Hambrecht, gelten als unbelehrbare Asienfreaks. „Lust auf die Zukunft mit China“, forderte Hambrecht kürzlich in einem Stern-Interview.

Der Konsens der deutschen China-Kritiker ist inzwischen so groß, dass ihre Argumente kaum noch auf dem Prüfstand stehen. Es fällt gar nicht auf, dass ihre China-Verwerfungen die Grundlage des westlichen Fortschrittsbegriffs ignorieren: nämlich die von Adam Smith und Karl Marx mit gegensätzlichen Argumenten, aber doch in seltener Übereinkunft geprägte Einsicht, dass materieller Fortschritt auch gesellschaftlichen Fortschritt hervorbringt. Smith erklärte zum ersten Mal, wie private Unternehmen immer auch gesellschaftlichen Wohlstand produzieren. Marx erkannte, wie die industrielle Produktion die materiellen und geistigen Bedürfnisse aller Menschen freisetzt.

Die Kommunisten haben 400 Millionen Menschen befreit

Nirgendwo sind diese Erkenntnisse heute so aufschlussreich zu beobachten wie in China. Die chinesische Wirtschaft wächst, und die Chinesen verändern sich. Sie werden selbstbewusster, gebildeter, offener. Sie lernen räsonieren, diskutieren und Kaffee trinken wie vor ihnen Japaner, Südkoreaner und Taiwaner und in ihrem Schlepptau die Vietnamesen. Doch selbstherrlich, arrogant und überheblich sind die Chinesen bisher in aller Regel nicht. Nur tun wir alles dafür, dass sie so werden, wenn wir sie in einer Zeit, in der sie sich mehr als je zuvor in ihrer Geschichte dem Westen anpassen, als antiwestlich zurückweisen.

Dass sich das Volkseinkommen verdreifacht hat und meine Nachbarn in Peking heute Auto fahren, bedeutet das Ende der Massenarmut und das Entstehen einer breiten Mittelschicht in China. Welchen ungeheuren Gewinn für die Menschenwürde in einer bis vor 30 Jahren von Hunger, Not und Existenzängsten geprägten Gesellschaft das bedeutet, ist für uns Wohlhabende offenbar nicht mehr vorstellbar. Wie sonst erklärt man sich die ständige, ohne jede Scham und jeden Vorbehalt vorgetragene Menschenrechtskritik des Westens an China?

Ich selbst bin der Letzte, der China nicht für seine andauernden Menschenrechtsverletzungen kritisieren würde. Ich habe das mit meiner Arbeit immer wieder getan. Viele von denen, deren pauschale Menschenrechtskritik an China ich verurteile, haben sich auf meine Recherchen und Interviews berufen können, um ihre Vorwürfe an Peking zu untermauern. Zuletzt führte ich die weltweit ersten Interviews mit Opfern der chinesischen Polizeipsychiatrie. Trotzdem kann ich die einseitigen, geschichts- und fantasielosen Vorwürfe an die Adresse der Pekinger Kommunisten nicht begreifen. Die Kommunisten haben in den letzten 30 Jahren weit über 400 Millionen ihrer Bürger vom Hunger und den täglichen Überlebensängsten befreit. Die KP hat damit mehr als jede andere politische Kraft der Weltgeschichte für die Verwirklichung des Artikels 3 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 getan. Dieser Artikel garantiert jedem Menschen das Recht auf Leben. Das ist für uns eine Bagatelle. Uns kommt es auf die politischen Freiheiten an, die heute in China nicht gewährt werden. Aber war es nicht auch in unserer Geschichte so? Stritten Heinrich Heine und Georg Büchner nicht zuallererst für das Recht auf Leben? Im 19. Jahrhundert ging auch in Europa die Existenzsicherung der untersten Schichten der Verwirklichung der Menschenrechte voraus. Erst musste sich die Arbeiterbewegung in Europa ihres Standes sicher sein, dann konnte sie entscheidend dazu beitragen, die allgemeinen politischen Freiheiten durchzusetzen. In China formiert sich in diesen Jahren die erste unabhängige Arbeiterbewegung des Landes. Sie musste auf das Entstehen einer dynamischen Privatwirtschaft warten, die es in der Volksrepublik erst seit Anbruch des Jahrhunderts gibt. Zügeln wir also unsere Ungeduld! Die gesellschaftlichen Voraussetzungen, die auch im Westen für die Durchsetzung der Menschenrechte erforderlich waren, werden in China gerade erst geschaffen. Die chinesischen Heines und Büchners schreiben heute als Dissidenten im Internet. Sie heißen Wang Xiaoshan und Xu Xing. Man muss sie nur lesen. Man muss die Augen öffnen und hinhören: Aufgeklärtheit, Bürgerlichkeit und Zivilität der chinesischen Bevölkerung haben sich in einem Maße entwickelt, wie es vor zehn Jahren nicht vorstellbar war.

Wo immer ich früher durch das Land reiste, waren die Blicke misstrauisch und unsicher. Heute weiß jeder Provinzbauer etwas mit dem ausländischen Journalisten anzufangen, der kritische Fragen stellt. Und die meisten antworten bereitwillig. Als ich im Februar 2006 über ein Bauerndorf in der Provinz Anhui berichtete, das sich gegen Schlägertrupps einer Bergwerksfirma wehrte, die ihr Land konfiszieren wollte, ging es in dem Dorf hoch her. Die Bauern erkannten in mir sofort einen Verbündeten, schleppten mich zu ihren Verwundeten ins Krankenhaus und ärgerten damit die lokalen Parteibeamten. Vor zehn Jahren wäre das nicht vorgekommen.

China war 1997 ein in sich gekehrtes, mit sich selbst beschäftigtes Land. Als ich damals in Peking eintraf, lag der kleine Steuermann Deng Xiaoping gerade im Sterben. Unter dem Eindruck der Asienkrise erschien auch die wirtschaftliche Zukunft getrübt. Eine große politische Verunsicherung lag über dem Land, die noch aus der blutigen Tragödie des Tiananmen-Massakers von 1989 herrührte. Wer wusste damals schon, wie es ohne Dengs historisch gewachsene Autorität weitergehen sollte? Deng war zugleich Mao Tsetungs Erbe, Urheber der Wirtschaftsreformen und Befehlsgeber des Massakers gewesen. Ohne einen starken Mann wie ihn an der Spitze, so glaubten damals die meisten Chinesen nicht weniger als der Rest der Welt, wäre das Land zu Instabilität und politischen Krisen verurteilt gewesen.

Inzwischen wird das Land seit einem Jahrzehnt von blassen Parteimandarinen regiert, die unter sich relativ transparente Nachfolge-Regeln vereinbart haben. Nach diesen Regeln vollzog sich 2002/03 der erste geordnete personelle Wechsel an der Regierungsspitze seit Gründung der Volksrepublik vor 60 Jahren. Doch wollen westliche Kritiker das nicht als Fortschritt gelten lassen. China sei ja immer noch keine Demokratie und die Kommunistische Partei weiterhin an der Macht. Dabei hat China seit Dengs Tod den historischen Schritt von einer willkürlichen Alleinherrschaft zu einer zunehmend verfassungsgemäß funktionierenden Einparteienherrschaft vollzogen. Das ist alles andere als ein kleiner Unterschied, nur ist er für Politik und Medien in Deutschland leider irrelevant. Sie unterscheiden nur zwischen Diktatur und Demokratie. Für sie bleiben in China die Bösewichte an der Macht.

Vor dem Anbruch des Mehrparteiensystems?

Ebenso wenig machen sich westliche Meinungsmacher die Mühe, die sich rasch verändernden Strukturen innerhalb der KP zu analysieren. Früher bekämpften sich die ideologischen Fraktionen der Partei auf Leben und Tod. Der designierte Mao-Nachfolger Lin Biao starb 1969 bei einem ungeklärten Flugzeugabsturz. Deng selbst wäre in der Kulturrevolution fast umgekommen. Später war er es, der Anfang der achtziger Jahre die Viererbande vor Gericht und Ende der Achtziger seinen Generalsekretär Zhao Ziyang unter Hausarrest stellte. Von den Fesseln solcher Königsdramen, die in der Tradition der Gewaltherrschaft Mao Tsetungs standen, hat sich die heutige KP erfolgreich befreit. Ihr 17. Parteitag im Herbst 2007 erbrachte den Beweis für das Mit- und Gegeneinander zweier Strömungen, die um Einfluss, Konzepte und Posten konkurrieren. Zwar findet ihr Machtstreit hinter verschlossenen Türen statt, doch ähneln die Interessen- und Meinungsgegensätze in der Partei immer mehr den Konflikten in einem repräsentativen politischen System. So vertritt die Strömung um den ehemaligen Parteichef Jiang Zemin tendenziell die Interessen der reichen Küstenregionen. Um Jiang scharen sich zugleich die Wirtschaftsliberalen und Interessenvertreter der Unternehmen. Dagegen vertritt die Strömung um den amtierenden Parteichef Hu Jintao eher die Interessen der ärmeren Hinterlandprovinzen. Anders als sein Vorgänger hat Hu die Sozial- und Bauernpolitik ins Zentrum seiner Regierungsarbeit gerückt. Damit sind die Möglichkeiten für demokratische Reformen im Inneren der Partei enorm gewachsen. Beide Strömungen könnten sich auf lange Sicht zu zwei offen konkurrierenden politischen Kräften entwickeln. Die KP ist also keine monolithische Kraft mehr, sondern ein von zahlreichen Denkschulen und Lobbys beeinflusster politischer Apparat. Ihre wichtigste Aufgabe ist es, die gegensätzlichen Interessen des Riesenlandes zu bündeln und auszugleichen. Das ist eine politische Herkulesaufgabe. Sie zu bewältigen – darin liegt seit 2500 Jahren die Kunst der chinesischen Mandarine. Und die Aufgabe ist im Laufe der Jahrhunderte nicht einfacher geworden. Schanghai ist heute Erste Welt, viele Hinterlandprovinzen aber sind immer noch Dritte Welt. Also organisiert die Zentralregierung die für die Republik überlebensnotwendige Umverteilung von den reichen zu den armen Provinzen: Zur Fahrt an den Nu-Fluss raste ich kürzlich über nagelneue Bergautobahnen durch die abgelegene Südwestprovinz Yunnan bis fast an die burmesische Grenze. Das Autobahnnetz aber ist für die armen Südprovinzen wie Yunnan ein ökonomischer Segen: Ihre exotischen Früchte erreichen jetzt per Lkw binnen zwei Tagen die reichen Küstenstädte und kommen dort frisch auf die Märkte. Genauso begann vor 30 Jahren die Einbindung Spaniens und Portugals in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft – mit einem Laster voller spanischer Apfelsinen.

Die KP muss 1,3 Milliarden Menschen erreichen – und es gelingt ihr

Anfang 2004 versprach die neu formierte KP-Regierung unter Premierminister Wen Jiabao, binnen eines Jahres 800.000 Bauern die Landsteuern zu erlassen. Nie zuvor in der langen Staatsgeschichte Chinas hatte die Obrigkeit den Bauern ihr Land umsonst überlassen. Immer musste die Landbevölkerung Abgaben an die Zentralregierung entrichten. Deshalb trauten zu Beginn auch nur wenige dem Versprechen Wens. Doch der hielt Wort. Seit 2005 stehen Chinas Felder ihren Bewirtschaftern steuerfrei zur Verfügung. Betroffen sind mehr Menschen, als in den westlichen Industrieländern leben. Auch hierin zeigt sich die Kunst der KP: Sie muss mit ihrer Politik 1,3 Milliarden Menschen erreichen, und es gelingt ihr.

Erstaunlich aber ist vor allem, wie es der kommunistischen Staatsgewalt gelingt, trotz der die sozialen Verhältnisse zerberstenden Wirtschaftsdynamik eine weitgehend gewaltfreie gesellschaftliche Entwicklung zu ermöglichen. Der Aufstand der Tibeter, im März 2008, war mit Abstand das blutigste politische Ereignis in der Volksrepublik seit dem Tiananmen-Massaker von 1989. Gleichwohl gibt es in diesem riesigen Land täglich wütende soziale Proteste. Viele verweisen auf ihre seit Jahren steigende Zahl und sehen darin eine potenzielle Bedrohung des KP-Regimes. Zuletzt meldeten die Sicherheitsbehörden 80.000 Proteste und Demonstrationen mit mehr als tausend Beteiligten für das Jahr 2006. Doch aus meiner Erfahrung zeigt diese Entwicklung eher, dass sich die Leute etwas zutrauen und bereit sind, ihre Interessen zu verteidigen. Die Proteste sind ein Indiz für die wachsende Meinungs- und Versammlungsfreiheit in China. Zwar kommt es dabei häufiger mal zu einer Prügelei, aber ganz selten sind Schwerverletzte oder gar Todesopfer zu beklagen.

Grund dafür ist die Kompetenz der lokalen Parteibehörden. Sie müssen derzeit als Sündenbock für all das herhalten, was die Zentralregierung verspricht, aber nicht einhält. Sie sind verantwortlich für die mangelnde Umsetzung der rigiden Pekinger Umweltgesetze, ihnen wird zur Last gelegt, zahlreichen Bauern ihr Land für dubiose Immobilien- und Fabrikprojekte zu stehlen. All diese Vorwürfe sind berechtigt. Aber man sollte nicht glauben, die KP sei auf den niedrigeren Ebenen ein Saustall korrupter Beamter. Bei meinen zahlreichen Begegnungen mit streikenden Arbeitern und protestierenden Bauern habe ich immer wieder erlebt, wie schnell und klug die Parteibehörden vor Ort reagierten. Sie waren auf Ausgleich und Konfliktbewältigung bedacht, sie führten Gespräche, vermittelten. Keine Protestbewegung wurde sich selbst überlassen. Als ich kürzlich eines der vergifteten Krebsdörfer in Zentralchina wieder besuchen wollte, von denen ich hinsichtlich des Sterbens der Bauern an industrieverseuchtem Grundwasser berichtet hatte, hielt mich ein lokaler Umweltschützer zurück. Ich solle bloß nicht kommen und das neue Einverständnis zwischen Bauern und KP-Behörden stören. Es sei wirklich viel passiert, der Protest der Bauern habe sich gelohnt, berichtete der verlässliche Kontaktmann.

Gerade wenn die westlichen Medien immer wieder zu Recht jedes Opfer politischer Unterdrückung in China herausstellen, muss man sich der Dimension der sozialen Umwälzungen im Land gewahr sein: 250 Millionen chinesische Wanderarbeiter haben im letzten Jahrzehnt ihre Dörfer verlassen und sind als Heimatlose über Tausende von Kilometern zu den Fabriken und Baustellen an der Küste gezogen. Das war und ist die größte Völkerwanderung aller Zeiten. Doch nirgendwo in der Volksrepublik herrscht Krieg, auch nicht in der autonomen Region Tibet! Nirgendwo werden Grenzzäune errichtet wie zwischen den USA und Mexiko, nirgendwo ist es zu Pogromen und längeren gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen gekommen. Die KP bändigt heute die strukturellen Gewalten eines explodierenden Kapitalismus, wie er sich in größerem Maßstab noch nie in der Geschichte entfalten konnte. Dabei greift sie immer wieder zu nicht rechtsstaatlichen Mitteln, die es – wie im Frühjahr 2008 in den tibetischen Gebieten – ohne Wenn und Aber zu verurteilen gilt. Dennoch steht die KP – gemessen an den Umbauleistungen der letzten 30 Jahre – für eine im historischen Vergleich einmalige friedliche Entwicklung.

Wir vergessen unsere eigene Erfahrung

Beispiel Markt: 1992 wurde in Chinas Städten die Gründung von Privatunternehmen erlaubt. Erst seither herrschen in China unternehmerische Freiheiten. Die Chinesen aber haben sie blitzschnell genutzt. Heute tragen Privatunternehmen in China zwei Drittel zum Sozialprodukt der inzwischen drittgrößten Volkswirtschaft der Welt bei. Dieses Resultat aber entspringt strukturell betrachtet weder einem alten despotischen System noch irgendeinem ganz neuen Gesellschaftsmodell. Es ist vielmehr das Ergebnis der bewährten kapitalistischen Freiheiten, die es in China vorher nie gab. Die KP macht’s möglich.

Beispiel Kleinfamilie: Ihr folgt in China heute die Frauenemanzipation auf dem Fuß. Gerade im Umgang der Frauen mit Familie, Erziehung und Arbeit hat das reflexive Denken als Merkmal der Moderne im chinesischen Alltag Einzug erhalten. Chinas Frauen nehmen längst von der eigenen Tradition Abstand und betrachten ihre Familiensituation auch aus der Perspektive westlicher Emanzipationsvorstellungen. Sie haben erkannt, wie viel mehr Freiheit und Unabhängigkeit ihnen der eigene Arbeitsplatz verleiht. Eine Diskussion wie bei uns, ob Kleinkinder nicht doch besser auf den Schoß der Mutter statt in den Kindergarten gehören, gibt es in China nicht. Das heute schon starke soziale Selbstbewusstsein der Frauen aber könnte in Zukunft noch entscheidend zum Gewinn weiterer politischer Freiheiten beitragen. Ausgelöst hat es die KP.

Doch von deutschen Politikern, Intellektuellen und Journalisten hört man kein gutes Wort über die KP. Die Partei gilt als allgegenwärtige Repressionsmaschine. Sie wird für alle denkbaren Sünden verantwortlich gemacht, von einer das Weltklima bedrohenden Umweltzerstörung bis zur Unterdrückung Tibets. Nur als Kraft für den Fortschritt wird die Partei nie erwähnt. In Wirklichkeit vergessen wir dabei unsere eigene Erfahrung: Die Marktwirtschaft hat auch bei uns Bürger und Regierung von Grund auf verändert. Von den Anfängen des Freihandels unter Johan de Witt im 17. Jahrhundert in Holland bis zu einer demokratisch-marktwirtschaftlichen Ordnung für den größten Teil Europas sind drei Jahrhunderte vergangen. China hat mit dem Freihandel erst vor dreißig Jahren begonnen. Dafür geht es in dem Land heute schon ungeheuer offen und freiheitlich zu. Dennoch ist es kein Zufall, dass wir die Entwicklung in China lieber beklagen als preisen. Viel Klügere als wir, sogar die großen Philosophen Friedrich Hegel und Max Weber, haben nichts anderes getan.

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