Fünfzig Jahre Traum und Trauma

Peter Kasza hat das "Wunder von Bern" auch aus ungarischer Sicht beschrieben

Nur Weniges wird Legende. Nur von wenigen Momenten kann jeder Jahrzehnte später noch präzise sagen, wo er war und wie er sich fühlte. Die Mondlandung ist so ein Moment, die Kubakrise, der 11. September, vielleicht der Fall der Mauer.

Die Legende der deutschen Nachkriegsgeschichte aber ist das sich im Juli 2004 zum 50. Mal jährende "Wunder von Bern" von 1954, dieser unerwartete und sofort als symbolisch verstandene WM-Finalsieg der westdeutschen Fußballnationalmannschaft gegen die hoch favorisierten Ungarn.

Und so schwappt seit einiger Zeit eine wohlig gefühlswarme "Dat erzähl ich meine Enkel"-Welle durch das nicht nur fußballerisch wunderlose Land, denn der Mythos ist grundsympathisch und die Er-zählungen enden gut: Keine Zeitzeugen-Autobiografie ohne rotwangigen Knirps vor dem Dorffernseher. Kein Feuilleton ohne "Bern"-Sinnierereien. Keine Talkshow ohne rüstigen ?Held von Bern". Sönke Wortmann dreht den "Bern"-Film. Und der Kanzler weint bei dessen Premiere. Darf ein Bundeskanzler das? Wegen eines Fußballspiels?

Natürlich. Denn "Bern" ist weit mehr als nur ein Sportmythos. Was ?Bern" soviel legendentauglicher als die WM-Siege von 1974 und 1990 macht, ist erstens die starke Geschichte vom moralisch, ökonomisch, physisch darniederliegenden Nachkriegsdeutschland, das unverhofft sein erstes kollektives Freudenerlebnis feiert, rauschhaft, kathartisch, und dabei ein Stück neuer Identität findet. Daran erinnert man sich gerne. Aber als wäre das nicht schon wirklich sehr viel - diesem Kollektivrausch wird dazu noch Wundertätiges angedichtet: Die schamhafte Lethargie der Nachkriegsdeutschen - hinweggeheilt durch ein Tor, einen Schrei, einen Rausch. "Bern" wird zur eigentlichen, zur volkstümlichen Geburtsstunde der Bundesrepublik. "Bern" zum Anfang des Wegs nach Westen. "Bern" zum Startschuss für das Wirtschaftswunder. Nach "Bern" sahen sie, Grundgesetz und Währungsreform sind gut.

Natürlich nicht. Aber je länger vergangen, desto strahlender, verklärter und unsportlicher wird ?Bern". Und dann - ausgerechnet - fällt das Jubiläum des Wundersiegs auch noch mitten in diese nölige, scheinbar so kleinteilig unheroische Gegenwart: Kein "Boss", "Chef", "Ruck", "Zuck", keine "Elf Freunde", keine Herbert Zimmermann-Ekstase weit und breit - nicht auf Portugals zerrumpelten Fußballfeldern und nicht an der Spree. Bleibt die Sehsucht nach dem Schuss aus dem Hintergrund: Das "Original DFB-Retro-Trikot Heim 1954" war bei den EM-Zuschauern auffällig oft zu sehen.

In erster Linie ging es um Politik

Peter Kasza hat mit Das Wunder von Bern zu diesem deutschen Mythos ein wirklich lesenswertes Buch geschrieben. Einerseits. Andererseits präsentiert er erstmals den Gegenmythos: Dass der Finalgegner 1954 Ungarn hieß und irgendwie Favorit war, weiß jeder, schließlich ist dieses David-gegen-Goliath der Kern der deutschen Erzählung. Was aber die ungarische Erzählung "Bern" ist, hat hierzulande nie so recht interessiert - zu schön ist die eigene. Ein Fehler: Der Vergleich dieses ungleich dramatischeren "Bern" und seines deutschen Pendants schafft ein faszinierendes Buch, das zudem weit mehr ist als ein Fußballbuch. Das Finale selbst und die Gemeingut gewordenen Anekdoten rund um Sepp Herberger und seine Musterschüler spielen nur eine Nebenrolle. Kasza, Autor und Producer für historische TV-Dokumentationen, geht weit über den Spielfeldrand hinaus. Ihn interessieren die zwei so ungleichen gesellschaftshistorischen Kontexte des Finalspiels.

Auf der einen Seite steht der internationale Paria Deutschland. Die Elf ist international unbekannt, hatte bis 1950 kein Länderspiel austragen dürfen, die WM-Qualifikation eine Qual, der Turniersieg undenkbar und nicht einmal eine Nationalhymne kann vor Spielen gesungen werden (in Köln sollen - schreibt Kasza - ersatzweise Karnevalslieder zum Einsatz gekommen sein). Und überhaupt: Die Deutschen sind mit anderen Dingen beschäftigt.

Eine politische Instrumentalisierung, gar eine versuchte Identitätsstiftung, fehlt. Im Gegenteil: Die mühsam um internationale Anerkennung ringende Politik fürchtet sich "zwanghaft" (Kasza) vor der Aufmerksamkeit, die fußballerische Erfolge im Ausland erregen könnten. Nach einem Sieg der Nationalelf, zitiert der Autor Konrad Adenauer, brauche man Monate "um dat wieder auszubügeln." Und auszubügeln hat er noch genug.

Auf der anderen Seite die ?Goldene Mannschaft" Ungarns - der Turnierfavorit: Seit vier Jahren und über 30 Spielen ungeschlagen, dabei ein Torverhältnis von 144:33, Olympiasieger in Helsinki, die erste Mannschaft überhaupt, die England in England besiegt hatte. Siegeshoffnung war längst Siegesgewissheit gewichen: Schon vor dem Finale hatte man in Budapest mit dem Bau von Spielerdenkmälern begonnen.

Diese "Goldene Mannschaft" ist das Lieblingskind der ungarischen Bevölkerung - und damit des Terrorregimes unter "Stalins bestem Schüler" Mátyás Rákosi. Die Mannschaft siegt und siegt, und die Propaganda siegt und siegt mit. Und diese ?Art nationaler Kitt" (Kasza) hat die KP dringend nötig. Ihre Popularität ist 1954 auf einem Nullpunkt angekommen: Massenverhaftungen, Investitionsruinen, Konsumverzicht. Gleichzeitig brodelt spätestens seit Stalins Tod 1953 der Machtkampf zwischen Hardlinern und Reformern. Das Machtmonopol des Regimes im Land ist längst geschwächt. So bemüht unpolitisch der Sport in Westdeutschland, so hochpolitisch ist er in Ungarn: "Für die Partei", so Kasza, "war der Fußball Mittel zum Zweck, denn in erster Linie ging es ja um Politik." Und zwar um nicht weniger als den "Kampf zwischen Kommunismus und Kapitalismus auf dem Fußballfeld", wie der KP-treue Nationalcoach Guztáv Sebes glaubte. Und dann schießt Rahn aus dem Hintergrund.

Für die Deutschen ist es das "Wunder von Bern". Trotz der Schattenseiten, dem internationalen Unbehagen, biographischer Talfahrten der Endspielhelden Helmut Rahn, Ottmar Walter und Werner Kohlmeyer und dergleichen mehr - bis heute ist die Erinnerung an die erstmals nationale Identität verheißende Kollektivkatharsis präsent. Bis heute ist sie ein bewegender Moment, bis heute darf ein Bundeskanzler wegen ihr öffentlich weinen.

Für die Ungarn aber ist es das "Trauma von Bern". Als habe er eine Krankheit sei er auf der Straße angesehen worden, klagte Kapitän Ferenc Puskás später. Bis heute plagten ihn Albträume, erzählte Torwart Gyula Grosics dem Autor. Und Trainer Sebes schließlich habe 1986 noch auf dem Sterbebett gestöhnt "Warum haben wir verloren?", berichtet ihm Endspielkommentator György Szepesi.

Vor allem aber ist es ein politisches Trauma: Unmittelbar nach Spielende kommt es in Budapest bereits zu wüsten Ausschreitungen. Der Mob plündert Spielerwohnungen und Zeitungsbüros, Zehntausende ziehen durch Budapests Straßen - und das im totalitären Polizeistaat Ungarn. Regime und Bevölkerung haben mit dem Schlusspfiff "den kleinsten gemeinsamen Nenner" (Kasza) verloren: Kein Finalsieg, kein Propagandasieg. Der ohnehin dünne "Kitt" ist mürbe. Und damit wird, zitiert Kasza den Publizisten Paul Lendvai, Ungarns "Bern" das "Vorspiel" zum Volksaufstand von 1956.

Trotz der gewaltigen Wirkungen in beiden Ländern: Keines der beiden ?Berns", so relativiert auch Kasza, war Ursache der jeweils folgenden geschichtlichen Entwicklungen. Weder machte ?Bern" die Bundesrepublik bei ihren Untertanen mit einem Mal populär, noch löste es 1956 aus. Weder hätte der erwartete Sieg der ?Goldenen Mannschaft" das Wirtschaftswunder verhindert (oder auch nur verzögert), noch Rákosis Regime gerettet.

Puzzlestücke mit Symbolkraft

Und doch zeigt Kasza, dass Fußball 1954 mehr war als ein Spiel, umso mehr als die Krise, in der sich beide Nationen befanden, das Spiel mit einer hohen Symbolkraft auflud - wenn auch in Deutschland erst nach dem Sieg: "Was gefehlt hätte, wären Stückchen im Gesamtpuzzle ... Im Fußball fanden sich immer schon ganze Nationen, sie verloren und gewannen zusammen." Kasza ist mit "Das Wunder von Bern" ein wirklich überfälliges, schön gemachtes, eingängig geschriebenes und mit vielen Zeitzeugen-Interviews garniertes Buch gelungen - kein wissenschaftliches, aber das muss natürlich auch nicht. Leider hat es (neben modrigen Begriffen wie "Jungens" und "Schlachtenbummler" und dem reißerischen Untertitel ?Fußball spielt Geschichte") nur einen einzigen, sehr überraschenden Makel. Sein nicht nur komplett uninspirierter, sondern sogar irreführender Titel unterschlägt schlicht die Pointe: "Bern" ist Wunder und Trauma.

Wie auch immer, am Ende beschert uns Kasza immerhin zwei Neo-Herbergianische Weisheiten allererster Qualität. Erstens: Zu einem Spiel gehören zwei Mannschaften. Zweitens: Fußball ist mehr als ein Spiel. Aber nicht viel mehr. Und das ist die gute Nachricht.


Peter Kasza, Das Wunder von Bern. Fußball spielt Geschichte, Berlin: be.bra Verlag 2004, 224 Seiten, 22 Euro

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