Fußball ist ihr Leben
Fußball zieht Millionen Mernschen in seinen Bann, unabhängig von Alter, Geschlecht, Bildungsstand und sozialer Herkunft. Die Fanszene präsentiert sich entsprechend vielschichtig, bunt, ja widersprüchlich. Das Spektrum reicht vom kleinen Jungen bis zum graubärtigen Opa, vom jubelnden bis zum distanzierten Fan, vom friedfertigen Schlachtenbummler bis zum Hooligan, vom „Linken“ bis zum „Rechten“, vom Arbeitslosen bis zum Millionär. Die Fußballbegeisterung ist so alt wie die Sportart selbst, aber die Fankultur hat sich im Zuge der Kommerzialisierung und „Eventisierung“ des Fußballsports gewandelt und ausdifferenziert.
In den dreißiger Jahren bis weit in die fünfziger gab es noch keine großen Unterschiede innerhalb der Fußballfanszene. Die Anhänger bezeichnete man pauschal als „Schlachtenbummler“. Der Besuch von Fußballspielen wurde als Familienausflug zelebriert, zu dem man im schicken Anzug und mit Picknick-Korb „bummelte“, wobei „Schlachtgesänge“ angestimmt wurden. Zwischen Spielern und Zuschauern bestand eine enge soziale und kulturelle Beziehung. Nach dem Spiel blieben Sportler und Fans oft bis in den späten Abend hinein in geselliger Runde beisammen. Die Nähe der eigenen Wohnung zum Vereinslokal, zum Stadion oder zur Trainingsstätte begünstigte ein dichtes Netz zwischenmenschlicher Beziehungen, das ein wenig den Mythos erklärt, der vor allem die Vereine der ersten Stunde noch heute umgibt.
Mit der Entwicklung des modernen Fußballs wandelten sich auch die Beziehungen zwischen Spielern und Zuschauern und damit das Verhalten der Fans. Waren die Spieler früher noch vor Ort verwurzelte „greifbare Repräsentanten“, die ihren Anhängern sozial, kulturell und bezüglich ihrer Einkommensverhältnisse nahe standen, so entwickelte sich nun ein neuer Spielertyp: der wenigstens teilweise von den Medien geformte Star, der dem Verein nur über einen begrenzten Zeitraum die Treue hält. Das Verhältnis zwischen Spielern und Fans distanzierte sich, so dass sich neue Zuschauertypen entwickelten: Neben den zunehmend wählerischen „normalen“ Zuschauern und den fußballfixierten „Kuttenfans“ trat nun der distanzierte, coole Hooligan auf den Plan.
Mit den Fäusten für die Ehre
Kuttenfans gehen ins Stadion, um „ihre“ Mannschaft gewinnen zu sehen. Sie stehen leidenschaftlich und bedingungslos hinter „ihrem“ Verein und kämpfen für dessen Ehre. Die gegnerischen Spieler samt ihrer Anhängerschaft werden automatisch zu Gegnern, ja sogar zu Feinden, die es zu besiegen gilt. Indem sie am Erfolg der eigenen Mannschaft teilhaben, ertragen Kuttenfans nicht selten ihre eigene missliche Lebenslage leichter. Am Sieg der Mannschaft richten sie sich auf. Nicht selten wird die Mannschaft für diese Jugendlichen zum zentralen Lebensinhalt. Niederlagen können leicht zu gewaltförmigen Auseinandersetzungen führen, wenn Kuttenfans die Ehre des Vereins mit den Fäusten wieder herzustellen versuchen. Die totale Identifikation mit dem eigenen Verein stellen Kuttenfans auch durch ihre Kleidung zur Schau. Sie tragen Trikots, Fahnen, Schals und Mützen in den Vereinsfarben – und eben die mit Stickern bedeckte ursprüngliche Jeans-Kutte. Noch bis Mitte der siebziger Jahre repräsentierten die Kuttenfans weitgehend die Fanszene, von ihnen ging die Stimmung aus.
Auch viele Hooligans begannen ihre Fankarriere im Kutten-Fanblock. Als die Hooligan-Bewegung in den siebziger Jahren aus England herüberschwappte, war sie eine Kampfansage – der komplette Gegenentwurf zu der schmuddeligen Prollkultur der Kuttenfans. Hooligans tragen Chevignon-Jacken statt Jeanswesten und teure Turnschuhe statt Rockerstiefel. Ihnen geht es nicht mehr so sehr um Spielausgang und Fahnenschwenken wie um den Nervenkitzel der Gewalt. Vom Kuttenfan grenzen sie sich auch räumlich ab: Sie stehen nicht in der Kurve, sondern sitzen auf der Tribüne.
Selbstbehauptung und Abenteuer
Die Gewalt der Hooligans erfährt dabei eine gefährliche, vom Spielgeschehen unabhängige Eigendynamik. Eine Parallele besteht dabei zwischen neuen Spieler- und Zuschauertypen: Während aus dem treuen Spieler zum Anfassen der ungebundene und unnahbare Star wurde, wandelte sich der kumpelhafte Anhänger zunächst zum leidenschaftlichen Fan und schließlich zum coolen, distinguierten, adrenalinsüchtigen Hooligan.
Hooligans rekrutieren sich aus allen Sozialschichten. Man kann sie bezüglich ihrer Selbstkonzepte in zwei Gruppen unterteilen. Der einen (vornehmlich mit niedrigem Bildungsniveau) geht es um Selbstbehauptung. Diese „Hools“ finden in der Gewalt und in der Gruppe ihre Kraft, ihr Selbstwertgefühl, eine positive Identität. Die anderen (vornehmlich mit höherem Bildungsniveau) finden durch das Ausleben der Gewalt „authentische Erfahrungen“ von Spannung, Abenteuer und Lust, kurz: den ultimativen Kick. Die Mitglieder dieser Gruppe besitzen zwei Identitäten: eine bürgerliche Alltagsidentität und ihre sub- beziehungsweise jugendkulturelle Hooliganidentität.
Hooligans verkörpern in exakter Spiegelung die Werte und Verhaltensmodelle des Zeitgeistes: elitäre Abgrenzung, Wettbewerbs-, Risiko- und Statusorientierung, Kampfdisziplin, Coolness, Flexibilitäts- und Mobilitätsbereitschaft, Aktionismus, Aggressionslust und atmosphärischer Rausch. Dennoch sind sie aus mehreren Gründen zumindest in den westdeutschen Bundesländern ein Auslaufmodell. Zunehmende Repressionen von Polizei und Ordnungsdiensten haben die Gewalt aus den Stadien in das Stadionumfeld und schließlich in immer weiter entfernte Bereiche verdrängt. Hinzu kommt, dass der Hooliganismus der achtziger Jahre eine sehr elitäre Bewegung war. Da die „Szenemitglieder“ ständig darauf bedacht waren, sich von dem Rest der Fanszene abzugrenzen, hatte es der vermeintliche Nachwuchs schwer, sie ausfindig zu machen. Und die Hooligans der ersten Stunde sind mittlerweile Familienväter in festen Berufen, die nicht mehr bereit sind, für eine „Schlacht“ alles zu riskieren.
Wer sich in den achtziger Jahren nach seiner Kuttenfanzeit aus Abenteuerlust oder Langeweile den erlebnisorientierten Hooligans angeschlossen hätte, geht heute zu den optisch und akustisch auffälligeren Ultras – eine Fan-Bewegung, die Kuttenkultur und Hooliganismus miteinander zu vereinen scheint. Seit Ende der neunziger Jahre steigt die Zahl der Ultra-Gruppierungen in Deutschland rapide an. Die leidenschaftliche, südländische Kultur des Anfeuerns ist besonders bei jüngeren, überwiegend männlichen Fans im Alter zwischen 15 und 25 Jahren sehr beliebt.
Die Zuschauer feiern sich selbst
Die mit der Professionalisierung des Sports einsetzende, immer klarere Trennung zwischen Zuschauer und Sportler hat dazu geführt, dass die Zuschauer eine immer größere Sensibilität für ihre eigene Anwesenheit entwickelten. Die Stadionwelle, die kreativen Choreografien der Ultras zu Beginn des Spiels, die Capos und Vorsänger mit Megafon – dies alles sind Beispiele dafür, dass sich die Zuschauer heute immer mehr mit sich selbst befassen. Das Fußballstadion wird zu einem wichtigen Ort, an dem der Seelenhaushalt der Menschen moderner Industriegesellschaften nach Ausgleich sucht. Gleichzeitig versuchen die Ultras, die verloren gegangene Nähe zwischen Zuschauer und Spieler wieder herzustellen, indem sie sich als Sprachrohr der Fans verstehen und das Vereinsgeschehen sowie die Kommerzialisierung des Fußballs kritisch begleiten.
Das ist neu an dieser Fan-Bewegung: ihre sehr extrovertierte Art der Vereinsunterstützung, ihre Protest- und Demonstrationskultur sowie ihre Organisation. Dennoch: Die deutsche Ultraszene gibt es nicht. Vielmehr bezeichnet der Begriff unabhängige Gruppierungen in unterschiedlichen Größen und mit verschiedenen Schwerpunkten. Der gemeinsame Nenner ist der erlebnisorientierte Support-Wille, die Lust, den Verein neunzig Minuten lang im Dauereinsatz zu unterstützen, bereits in der Woche vor dem Spiel kreative Aktionen vorzubereiten und dabei immer kritisch gegenüber dem Verein zu sein. Ultra zu sein bedeutet für viele eine neue Lebenseinstellung. Es bedeutet „extrem“ zu sein, „durchzudrehen“, Spaß zu haben, Teil einer eigenständigen neuen Fußballfan- und Jugendkultur zu sein. Deshalb besitzen Ultras im Gegensatz zu den Hooligans nur eine (Ultra-)Identität, die sie auch unter der Woche haben. Alles andere – die Schule, der Beruf, die Freundin oder die Familie – muss sich dem Fußball unterordnen.
Für die Ultras zählen Stärke und Macht, Durchsetzungsvermögen und Männlichkeit. Ihr Härteideal demonstrieren sie gern, beispielsweise durch Zeigen des nackten Hinterteils in Richtung Gegner oder durch das Feiern im Stadion mit freiem Oberkörper besonders im Winter. Sexistische und homophobe Sprüche und Lieder gehören dabei schon zum Standardrepertoire. Die Ultras pflegen eine Machokultur.
Kommerzialisierung und Entfremdung
Aufgrund der Offenheit für neue Mitglieder und wegen wachsender Repression gibt es unter Ultras auch problematische Tendenzen. Einigen Ultras reicht die Unterstützung der Mannschaft als Abenteuer- und Spannungserlebnis nicht mehr aus. Sie suchen nach anderen erlebnisorientierten Ausdrucksformen und äußern ihren Unmut über die Entwicklung des modernen Fußballs und die zunehmende Repression. Dabei kommt es auch schon einmal zu Gewalt gegen Ordner, Polizisten oder andere Fans. Gefühle von Unzufriedenheit, Angst und Resignation unter den Ultras machen sich gerade im Hinblick auf die anstehende Weltmeisterschaft im eigenen Land breit.
Verschließen wir nicht die Augen davor, dass die Kommerzialisierung des Fußballsports und die damit verbundene Entfremdung der Fans von den Vereinen Gewaltpotenziale freisetzt, aber Jugendliche gleichzeitig aufgrund der gewaltbejahenden Strukturen in den Stadien das Freizeitangebot Fußball erst zu schätzen lernen. Kein anderer Mannschaftssport gewährt seinen Zuschauern ein räumlich größeres Handlungsfeld. Abweichende Handlungen lassen sich hier besonders publikumswirksam herausstellen.
Kein Wunder also, dass die Fanszene vielschichtig ist. Auf diese Heterogenität zu reagieren ist eine der großen Aufgaben von Verbänden, Vereinen, Sozialarbeit und Polizei. Der Schlüssel für einen angemessenen Umgang mit den hier beschriebenen Phänomenen scheint mir in dem Begriff „Raum“ zu liegen. Die gesellschaftlichen, sportpolitischen, sozialpolitischen Herausforderungen bestehen erstens darin, den Ultras und den übrigen Fans (Frei-)Räume zu verschaffen, in denen sie ihren Bedürfnissen nach Selbstinszenierung, Selbstpräsentation, Choreografie und Identifikation gerecht werden können; sie aber gleichzeitig auch in die Pflicht zu nehmen bezüglich des Einhaltens von Regeln, von allgemein gültigen Normen des Fairplay, der Abkehr von Gewalt und rechtem Gedankengut. Zweitens kommt es darauf an, die Räume der Hooligans und Ultras einzuengen, vor allem, wo sie entregelt werden. Und drittens sollten jungen Menschen wohngebietsnahe, stadtteilbezogene Räume für ihre Bewegungs-, Erlebnis- und Spannungsbedürfnisse eröffnet werden.
Ultras brauchen Räume
In Zukunft wird es sehr entscheidend sein, jenen überwiegenden Teil der Ultras zu stärken, der sich vorwiegend der Stimmungsmache und dem Herstellen einer fußballspezifischen Atmosphäre verschrieben hat. Ultras brauchen Räume für ihre (Selbst-)Inszenierung. Werden diese Räume weiter eingeengt, wird dem Fußball nicht nur seine atmosphärische Seele genommen. Auch könnten dann die Bedürfnisse nach Atmosphäre, Stimmung und Emotionalität weit gefährlicher ausgelebt werden. Schon im Jahr 1991 wurde im Gewaltgutachten der Bundesregierung darauf hingewiesen, man könne bei gewalttätigen Fanausschreitungen nicht zu rigoros vorgehen. In einer passiven Konsumgesellschaft biete die Fanszene eine Möglichkeit, Alltagsfrustrationen zu verarbeiten. „Wenn die Erwachsenenwelt dann nur mit Verbot und Bestrafung reagiert, kann sich das Gewaltpotenzial andere ‚Freiräume’ suchen, die noch schwerer zu beeinflussen sind. Insofern käme es darauf an, verstärkt über positive Wege der Kanalisierung von Aktivitätsbedürfnissen nachzudenken.“ Dem ist angesichts der Entwicklungen in der Ultraszene auch heute nichts hinzufügen.