Gebt den neuesten Deutschen ein Zuhause
Im Jahr 2015 brauchen mehr Flüchtlinge denn je ein Dach über dem Kopf. Hunderttausende sind es – eine Situation, die vor allem die Kommunen herausfordert. Bislang konzentriert sich die Diskussion auf die Erstunterbringung. Doch was kommt danach?
Es wartet die nächste große Aufgabe: Diejenigen, denen Asyl oder das Aufenthaltsrecht gewährt wird, brauchen eine dauerhafte Wohnung und ein Umfeld, in dem sie ihren Platz in dieser Gesellschaft finden können. Es geht darum, bezahlbaren Wohnraum für alle zu schaffen, die ihn jetzt brauchen, auch um Neiddebatten abzufangen und einen gefährlichen Konkurrenzkampf um die Wohnungen im unteren Preissegment zu vermeiden. Und um zu verhindern, dass dabei neue soziale Brennpunkte oder die Ghettos von morgen entstehen. Wir müssen neue Wohnungen bauen, Leerstand sinnvoll nutzen und in die soziale Nachbarschaft investieren. Das wird Geld kosten – aber was wir dabei heute versäumen, könnte uns in Zukunft teuer zu stehen kommen.
Die gute Nachricht ist: Prinzipiell gibt es in Deutschland genug Wohnungen. 1,7 Millionen Wohnungen stehen leer, 1,1 Millionen im Westen und 600 000 im Osten, wie das Wirtschaftsberatungsinstitut Empirica erst in diesem Jahr wieder ermittelt hat. Die schlechte Nachricht: Die Wohnungen befinden sich nicht dort, wo sie gebraucht werden. In stark nachgefragten Regionen ist bezahlbarer Wohnraum knapp geworden, in vielen Städten steigen die Mieten und Preise weiter. Das war schon so, bevor es den aktuellen Zuzug von Flüchtlingen gab, die Situation wird durch die aktuelle Entwicklung aber verstärkt. In diesen Regionen müssten in den nächsten Jahren hunderttausende Wohnungen entstehen. Gleichzeitig gibt es vor allem im ländlichen Raum Leerstand, der in die Überlegungen zur Wohnraumversorgung mit einbezogen werden muss.
Für viele, die jetzt zu uns kommen, ist das Ziel die Stadt. Städte waren schon immer und sind bis heute die Zentren der Integration. Doch das muss kein Automatismus sein; Politik kann und muss Zuwanderung auch in ländliche Räume lenken. Welche möglichen Strategien dafür gibt es und welche Parameter sollten für den zu schaffenden Wohnraum gelten? Die Zeit drängt. Schnelle Lösungen müssen her.
Bis zum Jahr 2007 waren die Flüchtlingszahlen in Deutschland auf einen historischen Tiefstand gesunken, viele Flüchtlingsunterkünfte wurden geschlossen und die dazugehörige Infrastruktur abgebaut. Prognosen zur demografischen Entwicklung führten zusammen mit der Schuldenbremse dazu, dass die meisten Länder den sozialen Wohnungsbau eher stiefmütterlich behandeln. Viele Kommunen haben ihre Immobilien verkauft und sind heute kaum noch im Besitz günstigen Wohnraums. Das rächt sich jetzt. Das Ausmaß der Situation, in der wir uns gerade befinden, hat allerdings auch sein Gutes: An der Notwendigkeit des sozialen Wohnungsbaus zweifelt heute keiner mehr. Der Bund hat die Kompensationsmittel, die er seit dem Wegfall der Bundesfinanzhilfen für die soziale Wohnraumförderung an die Länder zahlt, bis 2019 um je 500 Millionen Euro pro Jahr erhöht und damit verdoppelt. Das sind zwei Milliarden Euro an zusätzlichen Bundesfinanzhilfen und vier Milliarden Euro für den sozialen Wohnungsbau insgesamt.
Anders als in der Vergangenheit haben sich die Länder zudem verpflichtet, das Geld zweckgebunden einzusetzen – für Neubau und den Erwerb neuer Belegungsbindungen. So können bis 2019 rund 120 000 Wohnungen entstehen. Das entlastet den Wohnungsmarkt für alle, ausreichen wird es jedoch nicht. Deshalb brauchen wir zusätzlich Anreize, um die Neubautätigkeit im privaten Sektor anzukurbeln. Die Bundesministerien für Bauen und Finanzen prüfen derzeit bewährte Instrumente wie die Sonderabschreibung (Sonder-Afa), die schnell und unkompliziert eingeführt werden könnten.
The time is now!
„Bauen!“ lautet also ein großer Teil der Lösung – viel, schnell und nicht teuer. Energieeffizient und ästhetisch. In Gänze wird dieser Anspruch nicht zu erfüllen sein, denn es geht in erster Linie darum, eine große Zahl an Menschen mit Wohnraum zu versorgen. Und zwar jetzt. Das macht es nicht unbedingt einfacher, denn gute Planung braucht normalerweise Zeit. Die jetzt entstehenden Wohnungen werden uns in ihrer Bausubstanz für die kommenden 80 Jahre erhalten bleiben. Bei den energetischen Standards sind deshalb nur für Erstaufnahmeeinrichtungen punktuelle Änderungen vorgesehen, eine generelle Aussetzung der Energieeinsparverordnung (EnEV) wird es in dieser Stufe nicht geben. Die jetzt beschlossenen Ausnahmevorschriften im Baugesetzbuch werden die Planung und Genehmigung von Neubauten extrem verkürzen. Doch damit einfacher und günstiger gebaut werden kann, müssen auch vorhandene Normen und Standards im Bauordnungsrecht der Länder reduziert werden. Typengenehmigungen und eine stärkere Nutzung serieller Bauweise können die Prozessdauer extrem verkürzen. Schleswig-Holstein etwa will sieben Wohnraum-Modelle entwerfen, die dann in den Kommunen gebaut werden können.
Werden die neuen Gebäude auch ästhetisch anspruchsvoll sein? Die oberste Maxime heißt Funktionalität. Was das Bauhaus begründet hat, kann auch im sozialen Wohnungsbau gelingen. Und hier hat es in den vergangenen Jahren durchaus Weiterentwicklungen gegeben, zum Beispiel modulares Bauen, das bereits im Modellprojekt für studentisches Wohnen Anwendung findet: Dabei entstehen Wohneinheiten, die veränderbar sind und später beispielsweise mit Balkonen nachgerüstet werden können. So planen manche Kommunen heute den Bau von Wohneinheiten für Flüchtlinge, die sie später als Seniorenwohnungen nutzen wollen.
Auf die soziale Infrastruktur kommt es an
Viele Kommunen haben die Erfahrung gemacht, dass das Anmieten von Wohnungen günstiger ist als die Unterbringung in Großunterkünften, wo Einwanderer unter sich bleiben, was Integration zusätzlich erschwert. Dezentrale Unterbringung lautet daher das prinzipiell richtige Schlagwort. Schon jetzt mieten Städte und Kommunen für Flüchtlinge jede Wohnung an, die sie kriegen können; selbst die Umnutzung leerstehender Büroflächen ist mancherorts eine Option. Das Bundesbauministerium hat einen neuen Baugebietstypus entwickelt, der in Innenstadt- und Gewerbegebieten Verdichtung ermöglicht. Geeignete Bundesliegenschaften gilt es zu nutzen, jede vorhandene Baulücke ebenfalls. Das Tempelhofer Feld völlig unbebaut zu lassen, wäre zum Beispiel ein Luxus, den wir uns angesichts des derzeitigen Wohnungsmangels in unseren Städten nicht mehr leisten können. Allerdings ist angesichts der hohen Zahl an Zuwanderern klar, dass wir für den jetzt benötigten Wohnraum auch in sozial benachteiligten Vierteln große Wohneinheiten bauen müssen. Umso wichtiger ist es, dafür zu sorgen, dass die entstehenden Großsiedlungen über die notwendige Infrastruktur verfügen und dass wir benachteiligte Quartiere bei den Aufgaben der Integration unterstützen.
In Berlin und Hamburg hat man sich dieser Aufgabe bereits gestellt. So will der Hamburger Senat bis Ende nächsten Jahres 5600 Wohnungen bauen, vor allem auf der grünen Wiese vor der Stadt, aber eben auch in sozial schwachen Stadtteilen. Auch in anderen Städten werden Menschen aus Syrien, Eritrea oder Somalia künftig in einer Umgebung leben, wo viele Kinder schon jetzt kaum Deutsch sprechen. Konzeptvergaben sind zwar gute Ansätze und auch die Wohnungsbaugesellschaften achten auf die Durchmischung der Bewohnerstruktur. Aber viele fragen sich trotzdem, ob das gut gehen kann. Klar ist: Integration ist kein Selbstläufer. In benachteiligten Quartieren kann und wird sie gelingen – wenn wir für eine gute Infrastruktur sorgen, in der sie stattfinden kann.
Das Programm „Soziale Stadt“ wird ausgebaut
Mit dem Programm „Soziale Stadt“ haben wir ein bewährtes Instrument, um Stadtviertel zu unterstützen, in denen -soziale und ökonomische Probleme sowie kulturelle Unterschiede aufeinandertreffen. Umso wichtiger ist es, dass wir nach Jahren der Kürzungen eine Erhöhung der Bundesmittel für die Städte-bauförderung um insgesamt 600 Millionen Euro erreicht haben. Das Bund-Länder-Programm „Soziale Stadt“ wird zu einem starken Leitprogramm der sozialen Integration ausgebaut; es beteiligt die Bewohner eines Viertels und bietet den Neuankömmlingen Möglichkeiten, sich bei der Gestaltung ihres Lebensumfelds einzubringen. Mit diesem Programm haben wir gezeigt, was Quartiersmanagement bewegen kann. Ergänzt man es um Sprach- und Beratungsangebote, kann es gute Rahmenbedingungen für die Integration der Menschen schaffen, die jetzt aus anderen Teilen der Welt zu uns kommen. Deshalb müssen solche Programme weiter ausgebaut werden.
Es ist aber auch klar, dass nicht jeder in Hamburg, Köln oder Berlin wohnen kann, soll und muss. In vielen ländlichen Regionen gibt es Leerstand; dort mangelt es an Fachkräften im Handwerk, in der Altenpflege und bei der ärztlichen Versorgung. In der Diskussion über die Wohnsituation von Flüchtlingen mehren sich deshalb die Vorschläge für eine Unterbringung auf dem Land. Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat sich für die Unterbringung in ländlichen Regionen Ostdeutschlands ausgesprochen, und die Deutsche Gesellschaft für Psychologie empfiehlt – ebenso wie Empirica – die dezentrale Unterbringung von traumatisierten Kriegsflüchtlingen in einer ländlichen Umgebung. Schon die Architekten und Planer im Nachkriegsdeutschland priesen die Wirksamkeit der heimischen Scholle. Wieso aber sollten Flüchtlinge dort leben wollen, wo viele Deutsche aus guten Gründen weggezogen sind? Das Hauptargument lautet: Hier gibt es Wohnraum, der nicht erst gebaut werden muss.
Für viele Flüchtlingsfamilien dürfte das Wohnen auf dem Land eine attraktive Option sein, weil sie hier die Chance auf schnell verfügbaren und qualitativ hochwertigen Wohnraum haben – sofern es dort auch Arbeit gibt. Für schrumpfende Städte und Gemeinden ist der Zuzug von Flüchtlingsfamilien eine Riesenchance: Alte Ortskerne in entleerten Regionen könnten neu belebt werden, von der Schließung bedrohte Schulen und Kitas weiterbestehen. Das Angebot des öffentlichen Nahverkehrs könnte erhalten bleiben, und Betriebe, die keine Auszubildenden finden, würden sich über neue Bewerber freuen. Doch damit aus der Zuwanderung Geflüchteter tatsächlich eine Win-win-Situation entstehen kann, müssen Landkreise, örtliche Wirtschaft und Kommunalpolitik zusammenwirken.
Die Politik muss hier Anreize setzen, Städte und Kommunen müssen kreativ sein, etwa in Form von Mietzuschüssen, der Unterstützung bei der Arbeitsvermittlung oder der Förderung von Renovierung und Erschließung in Eigenarbeit, schließlich kommen viele Flüchtlinge aus weniger arbeitsteilig entwickelten Gesellschaften und verfügen über gute handwerkliche Fähigkeiten. Dabei sollte man allerdings nicht in Sozialromantik verfallen. Denn ob es eine gute Idee ist, große Gruppen von Flüchtlingen in schrumpfenden Dörfern unterzubringen, wage ich zu bezweifeln. Integration kann dort nur innerhalb der oft engen sozialen Strukturen erfolgen und darf die Menschen nicht überfordern. Trotzdem sollte man darüber nachdenken, wie der Faktor Leerstand in die Verteilung der Flüchtlinge mit einbezogen werden kann, die über den Königsteiner Schlüssel bisher primär nach den Faktoren Einwohnerzahl und Steueraufkommen der Bundesländer erfolgt.
Was schon einmal gelang, muss wieder gelingen
Ob und wie uns die Integration der Flüchtlinge gelingt, hängt neben der Integration in Bildung und Arbeitsmarkt maßgeblich davon ab, ob wir sie in einer Umgebung mit Wohnraum versorgen können, in der Integration möglich ist. Schon einmal stand Deutschland vor der Herkulesaufgabe, eine große Zahl von Flüchtlingen möglichst schnell unterzubringen. Das war im Jahr 1945, als 12 Millionen Menschen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten in den Westen kamen. Ihr kultureller Hintergrund war zwar deutsch, dennoch gab es Differenzen, die die Zugezogenen von den Einheimischen trennten. Längst nicht überall waren die „deutschen Brüder und Schwestern“ willkommen. Dennoch hat man es damals geschafft, sie mit Wohnraum zu versorgen, wenngleich aus heutiger Sicht nicht immer alles zumutbar war. Was einem Land gelungen ist, das nach dem Krieg am Boden lag und zerstört war, sollte uns, dem wirtschaftlich stärksten Land der EU heute ebenfalls gelingen: dass integrationswillige Flüchtlinge hier ein Zuhause finden.