Gegen den Strich gebürstet
Am kommenden Sonntag findet im Berliner Willy-Brandt-Haus der Zukunftskongress der SPD statt. „Wir schreiben Zukunft“. Deutschlands Zukunft. Das ist ein freundliches Motto. Mit Blick auf die Diskussionen im nächsten Jahr ist das verdienstvoll. Und auch spannend. Denn die Zukunft ist zwar immer eine Fortsetzung der Vergangenheit, aber sicher nicht einfach linear, sondern sie ist auch eine Einladung zur Veränderung.
Die SPD ist heute nicht mehr die „dritte Weltmacht“ hinter den Vereinigten Staaten und Russland beziehungsweise China, wie früher spöttisch mit Blick auf ihre Programmarbeit und Befindlichkeit gesagt wurde. Die Welt beschäftigt sich schon lange nicht mehr mit den Befindlichkeiten der SPD. Sie trägt zwar immer noch ihre Fackel durchs Gedränge, aber dieses Gedränge ist größer geworden, hat sich ausgedehnt, und unter denen, die sich da in der Menge voranschieben wollen, sind viele, die eine Fackel tragen.
Die SPD hat aber immer noch Feuer unter der Asche. Die Frage lautet freilich: Was wollen wir erwärmen? Wem wollen wir Wärme spenden?
Allen, die sich in der Gesellschaft eingefunden haben und die ihren Beschäftigungen nachgehen?
Allen, die ihre durchaus konträren Lebensentwürfe verfolgen und anpreisen?
Allen, die irgendetwas an der Realität auszusetzen haben und wollen, dass „ihr Problem“ erkennbar und deutlich gewürdigt wird, sozusagen ins „Allerheiligste“ gestellt wird, ins Sanktuarium der Parteien, im Besonderen in das der SPD?
Oder muss sich die SPD konzentrieren? Und auf was sollte sie sich konzentrieren? Ich will versuchen, einige vorsichtige Hinweise zu geben.
Der erste Hinweis bezieht sich auf das Erstarken der rechten Bewegungen in Europa: Wir wissen heute nicht, wie sich diese Bewegungen weiter entwickeln werden. Schaffen sie es, was durchaus vorstellbar ist, in einem Land der EU an die Spitze zu gelangen, könnten sie einen Aufschwung nehmen, der zum Alptraum wird. Diese Bewegungen trennen sich von anderen politischen Auffassungen ja nicht entlang von Milieu-Gräben, Einkommensgruppen oder Bildungsunterschieden. Motive und Beweggründe dieser rechten Bewegungen stecken ebenso in gewerkschaftlich orientierten Köpfen wie in den Köpfen von Polizisten, die das staatliche Gewaltmonopol zu vertreten haben; in den Köpfen von Professoren wie in denen von Arbeitslosen oder gutverdienenden Selbständigen. Die Trennungen laufen durch die Herzen eigentlich eng verbundener Familien und Freundschaftsgruppen. Was kommt da auf uns zu?
Die SPD muss gut darüber nachdenken, welche politische Konstellation am besten in der Lage wäre, dieser Entwicklung Paroli zu bieten. Ohne festes Einbinden eines sehr großen Teils der breiten bürgerlichen Mitte in Deutschland ist das jedoch nicht möglich. Denn die bürgerlich geprägten, funktionierenden städtischen Gesellschaften müssen dabei sein. Der Sport muss mitmachen, die Kirchen, die Sozialverbände und sozialen Gruppen. Dies erfordert mehr als ein Suchen nach parteipolitischen „Optionen“.
Mein zweiter Hinweis ist auf der Ebene der Vorbilder und der Orientierung mit dem ersten verbunden: Das „Salz der Erde“, der „Kitt“, der uns zusammenhält, das sind die Hunderttausende, die tagtäglich, die Woche für Woche fünf, zehn oder mehr Stunden damit zubringen, als Ehrenamtliche die Infrastruktur sozialer Einrichtungen überhaupt zusammenzuhalten. In den Sozialverbänden, in den Kirchen, in den Sportvereinen. Ohne sie fiele die nachmittägliche Beaufsichtigung von Millionen Schulkindern weg; ohne sie gäbe es keine offenen Büchereien neben denen der Kommunen; keine Stunde Training und Spaß für Millionen Kinder, die Fußball, Handball, Volleyball, laufen, springen, werfen im Verein einüben möchten; kein Alten-Café, keine Begegnungsstätte ohne die regelmäßig zur Verfügung stehenden Ehrenamtlichen. Auch das sind „Fackelträger“ in unserer so individualisierten Gesellschaft.
Was erwarten diese Menschen von der SPD und was tut die SPD für sie? Warum aktivieren wir in diesem Bereich nicht die Idee des Grundeinkommens; eines Grundeinkommens für Ehrenamtliche? Das wäre übrigens kein leistungsloses Grundeinkommen, sondern die Anerkennung einer Arbeit, ohne die unsere Gesellschaft zusammenbrechen müsste. Wenn es darum geht, den Zusammenhalt in der Gesellschaft zu stärken, dann steht das an erster Stelle.
Der dritte Hinweis ist ein wenig komplizierter: Vielen Bürgerinnen und Bürgern tritt der Staat als fordernd entgegen. Das muss der Staat tun. Er muss Gebühren kassieren, Steuern eintreiben, darauf pochen, dass Regeln und Gesetze eingehalten werden. Der Staat lässt sich mittlerweile jede Dienstleistung bezahlen. Können wir uns überhaupt noch einen Staat vorstellen, der mehr tut?
Mir fiel auf, dass in meiner Heimatstadt Bonn von den einstmals gut erreichbaren Niederlassungen der Bank für Gemeinwirtschaft, die über verschiedene Stationen zur Bank Santander mutierte, eine einzige Niederlassung übrig geblieben ist, obwohl es immer noch eine beträchtliche Zahl früherer BfG-Kunden gibt. Eine Niederlassung. Eine einzige in einer Stadt mit mehr als 300 000 Einwohnern. Andere Banken haben sich ebenfalls geschrumpft; und auch die Zahl der Postbank-Stellen wurde verringert. Dort könnten all jene, die eine Rente oder Pension beziehen, ihr Geld erhalten. Aber: Viele Banken legen keinen Wert mehr auf die so genannten „kleinen Kunden“, weil die lästige Kostenverursacher seien. Da entwickelt sich ein dickes Problem.
Doch warum übernimmt eigentlich nicht der Staat die Bereitstellung und Auszahlung der Millionen Renten und Pensionen? Ist diese Vorstellung so falsch, weil sie antiquiert klingt? Ich kann mir das anschwellende Getöse vorstellen, das nun ausbricht. Aber wo steht geschrieben, dass die Rente Teil des Bankengeschäfts sein muss? Es wurde Teil des Bankengeschäfts, weil früher ein dichtes, flächendeckendes Netz von Zweigstellen die Versorgung sicherte. Zerreißt dieses Netz, müssen wir über Alternativen nachdenken. Die Bürger würden der SPD für eine Alternative danken.
Von ähnlicher Qualität ist mein vierter Hinweis: Die Auseinandersetzung über den Verkauf von Kaiser´s Tengelmann hat ein wenig in den Hintergrund gerückt, dass zwischen fünf und sieben Millionen Menschen, ganz überwiegend alte Menschen und körperlich Gehandikapte ihren täglichen Lebensbedarf nicht mehr oder nur noch sehr eingeschränkt decken können, weil die dazu erforderlichen Geschäfte außerhalb der Städte entweder längst weg sind oder nach und nach schließen. So wiesen bei einer Untersuchung von vier Landkreisen im Jahr 2015 nur noch 30 von 211 Einzelgemeinden mit weniger als 1500 Einwohnern ein Lebensmittelgeschäft mit Vollsortiment auf. In weiteren 50 Gemeinden gab es mobile Verkaufsstellen, Bäckereien oder Direkteinkauf beim Bauern. 131 Gemeinden waren komplett vom Handel abgekoppelt. Wenn das Essen für Millionen Bürger nur noch aus der Dose kommt wie bei Hund und Katze, läuft etwas grundlegend schief.
Warum wird die Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen so auf die leichte Schulter genommen? Diesen Zustand zu ändern – wäre das keine Aufgabe für die SPD?
Als ich dieses Problem im Bekanntenkreis diskutierte, lautete ein Gegenargument, dann müssten dort eben Tafeln organisiert werden. Ein Blick auf die Verteilung der Tafeln in Deutschland zeigt, dass die meisten in den Städten existieren. Auf dem Land herrscht vielfach Leere.
Gesetzgeber und Verwaltungen haben in den vergangenen Jahren durch einen Kraftakt sondergleichen die flächendeckende Versorgung mit Krabbelgruppen, Kindertagesstätten und offenen Ganztagsschulen gepuscht. Das war eine gewaltige Leistung, wenngleich es immer noch Lücken gibt. Warum gelingen solche Kraftanstrengungen nicht, wenn es um die Alten geht? Oder glaubt man, die Alten trieben sich ja mehrheitlich sowieso in der Welt umher, von Mallorca nach Kitzbühel, von dort nach Antalya und anschließend auf die Malediven? Und für ihre Probleme sei sowieso die „Apotheken-Umschau“ zuständig. Das wäre ganz schön daneben.
Unser Zusammenhalt würde exponentiell wachsen, wenn Millionen Kinder und Enkel sich wegen der Versorgung ihrer Eltern und Großeltern keine Sorgen mehr machen müssten. Oder ist diese Sichtweise naiv?
Der fünfte und letzte Hinweis: In 14 Jahren wird nach den Schätzungen der Fachleute die Zahl der Pflegebedürftigen um rund eine Million auf 3,5 bis 3,6 Millionen Menschen angestiegen sein. Manche werden daheim gepflegt werden, manche in Wohngemeinschaften für Alte. Aber für die Mehrheit werden moderne, gut ausgestattete Pflegeheime zur Verfügung stehen müssen. Doch ich sehe nicht, dass diese riesige Aufgabe mit notwendigen Investitionen im dreistelligen Milliarden- Bereich jetzt in Angriff genommen würde. Worauf warten wir hier eigentlich?
Die Bürger, schrieb Elmar Wiesendahl jüngst in der Berliner Republik, hätten längst begonnen, „taktisch“ zu wählen. Ich kann also annehmen, dass sie von der SPD nicht erwarten, dass die Partei „dritte Weltmacht“ spielt. Vielmehr wählen sie das, was vorankommt. Gerechtigkeit als eine Art Bewegungsmuster. Keine schlechte Voraussetzung für eine Partei wie die SPD mit ihren Erfahrungen und mit der Asche unter dem Feuer.
(Dieser Text ist am 27. Oktober 2016 als Online-Spezial-Beitrag der Berliner Republik erschienen.)