Génération précaire
Sie ist jung, gut ausgebildet, motiviert und findet trotzdem keinen Job: die Generation Praktikum. Die schwierige Arbeitsmarktlage macht auch vor Hochschulabsolventen nicht halt, diplomierte Billigarbeiter haben deshalb Hochkonjunktur. Mittlerweile endet das Hineinschnuppern in den Job für viele nicht mehr in der erhofften Übernahme, sondern im Dauerpraktikum.
Das Praktikum nach dem Studium scheint zum Regelfall zu werden. Die Zahl der bei der Agentur für Arbeit offiziell gemeldeten Praktikanten mit Universitätsabschluss ist von 1999 bis Ende 2004 um unglaubliche 141 Prozent gestiegen, so erste Ergebnisse einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung. Dabei sind die heutigen Absolventen besser qualifiziert denn je: Schon während des Studiums sind zwei bis drei Praktika vollkommen normal. Auslandsaufenthalte sorgen für Sprachkenntnisse. Nicht wenige Studierende sammeln darüber hinaus als Werkstudenten oder freie Mitarbeiter Berufserfahrung. Der Vorwurf, die Jungakademiker hätten keine praktischen Erfahrungen, ist also vollkommen ungerechtfertigt.
Diplom, drei Fremdsprachen, kein Job
„Selbst mich wundert, wie viele Leute uns aus den verschiedensten Fachrichtungen schreiben, die alle dasselbe erleben: Sie haben ein sehr gutes Diplom, sprechen zwei bis drei Sprachen fließend, haben Auslandserfahrung und bereits bei verschiedenen Projekten mitgewirkt. Und dennoch finden sie keinen Job“, sagt Susanne Rinecker, Gründerin des Absolventen-Initiative fairwork e.V. „Überall werden zwei Jahre Berufserfahrung gefordert, doch die haben Absolventen angeblich nicht.“ Der Absolvent steckt in einem Dilemma: Entweder nimmt er das Praktikum an und hofft auf die Übernahme – oder er muss weiter jobben.
„Gehalt: leider keines“
Fast schon zynisch sind viele Angebote in den Praktikumsbörsen: Gesucht wird „gerne Hochschulabsolvent“. Aber günstig sollten die Kandidaten schon sein, wie man eine Spalte weiter lesen kann: „Gehalt: leider keines“. Als Praktikant ist der Absolvent eine begehrte Arbeitskraft. Er ist kurzfristig einsetzbar, belastbar, hoch motiviert. Anders als Studierende sind die Jungakademiker zeitlich flexibel und schon mal bereit, für wenig Geld ein halbes Jahr oder länger zu arbeiten. Nicht nur in der Medien- und Werbebranche suchen viele Arbeitgeber explizit nach Hochschulabsolventen für Praktika. Auch Banken und die Automobilindustrie haben die flexiblen Billiglöhner für sich entdeckt.
Dass sogar reguläre Stellen durch Praktikanten ersetzt werden, ist mittlerweile keine Seltenheit mehr. Die typischen Beispiele aus verschiedenen Anzeigen sind haarsträubend: Ein Touristikunternehmen sucht einen Praktikanten für Übersetzungsdienste, der ohne Vergütung fehlerfrei deutsche Texte in seine Muttersprache übertragen soll. Ganz unbürokratisch könne das auch „in Heimarbeit“ erfolgen. Bei einer anderen Firma soll ein Jahrespraktikant („engagierte Mithilfe im Archiv“) ganz offensichtlich eine richtige Stelle besetzen.
Andererseits: Selbst wenn Praktikantengesuche nicht explizit auf frische Absolventen zugeschnitten sind, flattern den Firmen die Bewerbungen der Jungakademiker ins Haus. Ein Architekturbüro in Berlin bekam für eine freie Praktikumsstelle gleich mehrere Bewerbungen von Hochschulabsolventen. Der zuständige junge Architekt war selbst erst seit zwei Jahren im Job. „Die kann ich doch nicht ernsthaft ohne Bezahlung einstellen, die sind fast so alt wie ich“, klagte er.
Bleibt die Frage, warum so viele Absolventen bereit sind, für wenig oder gar keine Entlohnung zu arbeiten. Die Situation auf dem Arbeitsmarkt ist so schlecht wie lange nicht mehr. Wer sich auf regulär ausgeschriebene Stellen bewirbt, konkurriert nicht selten mit mehreren hundert Bewerbern. Um die drohende Lücke im Lebenslauf zu schließen, akzeptieren viele Jungakademiker auch eine geringe Bezahlung.
Engagement und Ausbeutung
Oft werden Hochschulabsolventen zusätzlich mit dem Köder einer „eventuellen Übernahme“ gelockt. Die Arbeitsbedingungen sind dabei nicht selten miserabel, unbezahlte Überstunden, Wochenendarbeit, zu geringer Urlaubsanspruch keine Seltenheit. Wenn das halbe Jahr Praktikum dann um ist, wird der nächste Praktikant eingestellt, den der Absolvent nicht selten selbst noch einarbeiten darf. Auf diese Weise sparen sich die Unternehmen Personalkosten und profitieren gleichzeitig von den hoch qualifizierten Gratismitarbeitern. Eine Übernahme ist in den meisten Fällen von vornherein überhaupt nicht geplant.
Damit wird der Praktikant zum Opfer und zum Täter zugleich. Nimmt er das Angebot an, zeigt das zwar Engagement, jedoch lässt er sich im Grunde freiwillig ausbeuten. Gleichzeitig beschleunigt jede besetzte Praktikumsstelle die Verdrängung regulärer Arbeitsplätze. Warum soll der Arbeitgeber schließlich für eine Leistung bezahlen, wenn er sie in ähnlicher Qualität auch kostenlos erhalten kann?
Gefangen in der Praktikumsschleife
Ist man erst einmal in der Praktikumsschleife gelandet, kommt man nur schwer wieder heraus. Nicht jedes Praktikum lässt sich gut im Lebenslauf unterbringen. Irgendwann, nach dem zweiten oder dritten Praktikum, geraten Dauerpraktikanten in den Erklärungsnotstand: Warum sollte der neue Arbeitgeber jetzt plötzlich etwas bezahlen? Viele versuchen deshalb, sich statt des Praktikumszeugnisses ein Mitarbeiterzeugnis ausstellen zu lassen. Aber das ist nur scheinbar ein Ausweg. Wer alle sechs Monate den Arbeitgeber wechselt, ist Personalchefs schnell suspekt.
Auch Susanne Rinecker landete nach Abschluss ihres Studiums erst einmal in einem Praktikum. Doch sie wollte sich damit nicht abfinden. Zusammen mit der BWL-Absolventin Bettina Richter entwickelte sie die Idee einer Interessenvertretung für Hochschulabsolventen. So kam es im Oktober 2004 zur Gründung des Vereins fairwork, der gegen die Ausbeutung von Hochschulabsolventen kämpft. Mittlerweile hat die Initiative über 150 Mitglieder unterschiedlichster Fachrichtungen in ganz Deutschland. „Wir wollen die Praktika nicht verbieten, aber ein Bewusstsein dafür schaffen, dass man sich auch bei schlechter Wirtschaftslage nicht alles gefallen lassen darf“, sagt Susanne Rinecker.
Dieser Appell richtet sich auch an die Jungakademiker selbst. Vielen Absolventen fehlt das Selbstvertrauen. Während des Studiums haben sie zwar praktische und theoretische Fähigkeiten erworben. Nicht wenige bewerben sich dennoch zunächst auf Praktika, ohne überhaupt zu versuchen, eine reguläre Beschäftigung zu bekommen. Für sie ist das Praktikum gleichzeitig die Rettung vor der drohenden Arbeitslosigkeit, vor dem Nichtstun. „Bevor ich nichts mache, mache ich lieber ein Praktikum“, lautet die gängige Argumentation. Doch spätestens nach dem Studium kommt es darauf an, die beruflichen Weichen zu stellen. Das heißt, dass man sich als Hochschulabsolvent erst einmal bemühen sollte, einen richtigen Job zu finden. Wenn das nicht klappt, kann man es immer noch mit einem Praktikum versuchen. Doch das bloße Schnuppern darf es dann nicht mehr geben. Gerade als Absolvent sollte man sich über die Richtung im Klaren sein, in die es gehen soll. Sonst wächst die Gefahr, in der Praktikumsschleife zu landen.
Gerade für den Absolventen sind deshalb faire Praktika wichtig. Der Verein fairwork hat Kriterien dafür aufgestellt, was solche „fairen“ Praktika kennzeichnet: Der Lerneffekt und nicht die Erbringung einer Arbeitsleistung muss im Vordergrund stehen. Der Praktikant sollte in der Firma einen festen Ansprechpartner haben. Zudem sollte das Praktikum nicht länger als vier Monate dauern und mindestens in Höhe des ALG II-Satzes entlohnt werden.
Kein Einkommen, keine Sozialbeiträge
Die Arbeit zu Billiglöhnen ist nicht das Problem einzelner. Der kostenlose Absolvent liegt der Gesellschaft gleich doppelt auf der Tasche: Zum einen hat er selbst bestenfalls ein geringes Einkommen und zahlt somit keine Sozialbeiträge. Zum anderen unterstützen ihn entweder die Eltern oder die Agentur für Arbeit. Für die Sozialsysteme ergibt sich daraus ein ähnlicher Effekt wie aus hoher Arbeitslosigkeit: Einer sinkenden Zahl von Beitragszahlern steht ein wachsendes Heer von Leistungsempfängern gegenüber.
Letztlich aber zahlen auch die Unternehmen drauf, die sich der billigen Nachwuchskräfte bedienen. Die Motivation der Mitarbeiter sinkt, genauso die Qualität der erbrachten Arbeit. Wer seinen Lebensunterhalt nicht mit seiner Arbeit verdienen kann, wird die erstbeste Möglichkeit nutzen, dem Unternehmen den Rücken zu kehren. Im Hinblick auf den sich demografisch abzeichnenden Fachkräftemangel ist das fatal.
Neben dem potenziellen Imageschaden gehen Unternehmen, die reguläre Stellen durch Praktikanten ersetzen, ein erhebliches Kostenrisiko ein. Der Praktikant hat nämlich die Möglichkeit, den regulären Lohn im Nachhinein einzuklagen. Fairwork-Gründerin Bettina Richter war damit erfolgreich. Sie hat ihren ehemaligen Praktikumsgeber vor dem Arbeitsgericht auf Lohnnachzahlung verklagt.
Was fehlt, ist Selbstbewusstsein
Wie lässt sich an der Situation etwas ändern? Unfaire Praktika schaden allen Beteiligten mehr, als sie nützen. Wer gutes Personal beschäftigen möchte, braucht ein gutes Image. Die Initiative Fair Company vergibt daher eine Art Gütesiegel für Unternehmen. Zudem muss das Selbstvertrauen der Absolventen aktiviert werden. Dies sollte auch Aufgabe der Universitäten sein. Schließlich muss die Politik ihr Problembewusstsein schärfen. Fairwork organisierte deshalb jüngst zusammen mit der DGB-Jugend eine Podiumsdiskussion mit Bundestagsabgeordneten in Berlin.
Die Situation der Praktikanten ist nicht allein ein deutsches Phänomen. In Frankreich zum Beispiel gab es Mitte November 2005 den ersten Praktikantenstreik der „génération précaire“. Wäre das ein Modell für Deutschland? „So weit sind wir hier noch nicht, dazu fehlt es an Solidarität unter den Praktikanten“, sagt Susanne Rinecker. „Aber fairwork ist ein guter Anfang.“