Große Sprüche, kleine Kohle
Über die europäischen Finanzen weiß man in Deutschland gut Bescheid: Der EU-Haushalt weist ein riesiges Volumen aus, eine überbordende Bürokratie wirft das Geld mit beiden Händen zum Fenster hinaus, krumme Touren sind an der Tagesordnung, und wir Deutsche müssen das alles bezahlen. Klar, wer ist nicht für die europäische Integration, eine gute Sache, das verstehe sich von selbst! Aber kosten darf sie nichts.
Ein paar Zahlen: Der Europäische Haushalt umfasst für das Jahr 2000 insgesamt 88 Mrd. Euro (92 Mrd. Euro Verpflichtungen) inklusive aller Verwaltungsausgaben. Das entspricht ungefähr dem Umfang der Haushalte von Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz zusammen. Rund 80 Prozent des Haushaltes fließen in Form von Transferzahlungen für Agrar-Preisgarantien oder als Mittel zur Strukturförderung und für den Strukturwandel direkt zurück in die Mitgliedstaaten. Für originär eigenständige Politiken der EU stehen lediglich 15 Prozent der Mittel zur Verfügung (bei 5 Prozent Verwaltungsausgaben).
Für die Einnahmen der EU ist eine Obergrenze von 1,27 Prozent des Bruttosozialprodukts der Gemeinschaft festgelegt. Ausgeschöpft worden ist dieser Rahmen bisher nie. Der Haushalt ′99 erreicht Einnahmen von 1,10 Prozent; der Haushalt 2000 von 1,11 Prozent des BSP. Real sinkt der Haushalt 2000 um über 4 Prozent.
Dabei sind der Europäischen Union in den vergangenen Jahren immer mehr Aufgaben zugewachsen. Die gemeinsame Innen- und Justizpolitik gewinnt Konturen, durch den Amsterdamer Vertrag ist die Zusammenarbeit in zahlreichen Politikfeldern vertieft worden und die dringend notwendige, engere Zusammenarbeit im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, manifestiert durch das neue Amt des sogenannten "Mr. GASP" hat durch die jüngste Krise auf dem Balkan eine neue Qualität gewonnen. Gleichzeitig führt die EU mit nunmehr zehn mittel-osteuropäischen Staaten sowie Zypern Beitrittsverhandlungen und bereitet sich auf den Beitritt der ersten Kandidaten innerhalb der nächsten fünf Jahre vor.
All diese Entwicklungsschritte werden zwar regelmäßig auf den Ratsgipfeln, bei Feierstunden und Festansprachen vollmundig gerühmt. Wenn es aber darum geht die neu entwickelten Europäischen Politikfelder inhaltlich und vor allem finanziell auszustatten, feiern nationale Egoismen fröhliche Urständ. Streng nach dem Motto "Beim Geld hört die Freundschaft auf" wird ohne Rücksicht auf Verluste um jeden Euro gefeilscht.
Jüngstes Beispiel: die Wiederaufbauhilfe für den Kosovo. Gleichzeitig angespornt vom geschlossenen Vorgehen bei der militärischen Intervention und von der moralischen Verpflichtung zum Wiederaufbau sagten die EU-Außenminister auf mehreren internationalen Geberkonferenzen Hilfen aus dem EU-Haushalt für die Rekonstruktion des Kosovo zu. Dieses Ziel wirdauch vom Europäischen Parlament und der Kommission unterstützt. Dass dies über mehrere Jahre eine zentrale Aufgabe für die EU sein wird, meinen alle drei Institutionen. Der Dissens fängt bei der Finanzierung an. Der ECOFIN (Rat der Wirtschafts- und Finanzminister der Mitgliedstaaten) bestand nämlich darauf, die gesamten für das Jahr 2000 notwendigen 360 Mio. Euro durch Umschichtungen und Einsparungen im Haushaltsbereich für auswärtige Politiken zu finanzieren. Neue Mittel sollten nicht zur Verfügung gestellt werden, und auch Einsparungen im Agrarbereich lehnte der Rat strikt ab. Wäre diese Forderung so umgesetzt worden, hätte das einen derben Schlag für die ohnehin karg ausgestatteten Haushaltslinien für die europäische Menschenrechtspolitik, die Unterstützung von NGO (Nicht-Regierungsorganisationen) oder die Entwicklungszusammenarbeit bedeutet. Nur durch die Weigerung des Parlaments und einen mehrwöchigen massiven Konflikt, der fast zu einer Haushaltskrise geführt hätte, konnte der Rat schließlich in allerletzter Minute zum Einlenken bewegt werden und erklärte sich bereit, zusätzliches Geld zur Verfügung zu stellen.
Solches Finanzgebaren des Rates ist kein Einzelfall. Erst jüngst, bei der Reform des Einnahmesystems der EU, haben sich die Mitgliedstaaten allein von der Maxime leiten lassen, ihre eigene Zahlerbilanz zu verbessern. Unseriöse Nettozahlerbilanzen, bei denen simpel Beiträge und Rückflüsse gegeneinandergerechnet werden, sind dabei der Maßstab. Durch dieses Vorgehen ist ein ohnehin hochkompliziertes System mit zahlreichen Ausnahmen und Sonderregelungen noch unübersichtlicher geworden. Von der Chance, erste Elemente einer finanziellen Autonomie und Einnahmehoheit für die Gemeinschaft einzuführen, ist man weiter entfernt denn je.
Die kurzsichtige und zum Teil unseriöse Politik der Mitgliedstaaten im Bereich der Finanzausstattung und Ausgabenpolitik der EU droht in mehrfacher Hinsicht die Entwicklung der Gemeinschaft zu blockieren. Inhaltlich können gemeinsame Politikbereiche nur unzureichend entwickelt werden. In den Kultur-, Bildungs- und Jugendförderungsprogrammen drängen sich Tausende von Antragstellern nach oft minimalen Förderbeträgen. Zwar ist man sich einig, dass zusätzliche Aufgaben europäisch erledigt werden sollen, ihre Finanzierung jedoch soll aus dem Volumen des bisherigen Haushalts erfolgen. Die vielgerühmte Vertiefung der Integration kann dabei nur langsam vorankommen. Gleichzeitig droht auch die Erweiterung von der Reformunwilligkeit der Mitgliedstaaten blockiert zu werden. Neben den notwendigen institutionellen Reformen werden auch die Finanzreformen verschleppt. Jedem ist klar, dass die EU bei Fortbestand der jetzigen Transferstruktur des Haushaltes und der gleichzeitigen Teilnahme der Beitrittskandidaten an der Gemeinsamen Agrar- oder der Strukturpolitik die EU kollabieren würde. Es drängt sich die Frage auf, wie ein Einnahme- und Ausgabensystem mit 20 oder mehr Mitgliedstaaten funktionieren soll, das bereits mit 15 Teilnehmern selbst von Fachleuten schwer zu durchschauen ist, und bei dem jede Diskussion über notwendige Reformen oder die finanzielle Anpassung an neue Realitäten zum Glaubenskrieg auszuarten droht. Wie sollen sich erst die um ein Vielfaches heterogeneren 20 auf die notwendige Einstimmigkeit einigen, wenn das den 15 kaum noch gelingt.
Letztlich stehen hinter den Auseinandersetzungen um die Finanzen ungeklärte Fragen nach dem gewünschten Charakter und der zukünftigen Entwicklung der Europäischen Union. Ängste vor zu großem Verlust eigener Handlungskompetenzen spielen eine nicht unwichtige Rolle. Die Fragen, welche Aufgaben künftig europäisch und welche national oder regional erledigt werden sollen, welche politischen Ziele mit der europäischen Integration verfolgt werden und wer dabei beteiligt sein soll, bedürfen dringend, noch vor der ersten Erweiterungsrunde, einer Klärung. Worauf man sich dabei einigt, das muss auch seriös finanziert werden. Dies bedeutet, die EU braucht eine umfassende Finanzreform, die die Einnahmen auf die Grundlage einer echten Finanzautonomie stellt. Die Gemeinschaft muss unabhängig von Beiträgen der Mitgliedstaaten werden. Gleichzeitig muss der Transferanteil des Haushaltes, vor allem auf dem Gebiet der Agrarpolitik, reduziert werden. Und gemeinsame Politikbereiche, bei denen man sich geeinigt hat, sie europäisch zu gestalten, bedürfen einer ausreichenden Finanzausstattung, wenn sie nicht Erwartungen enttäuschen und das Scheitern einer politischen Union vorprogrammieren sollen.
Deutschland muss eine neue europäische Rolle definieren, um sich an diesen Reformen konstruktiv beteiligen zu können und zu einem wirklichen Motor sinnvoller und notwendiger politischer, sozialer und ökonomischer Integration innerhalb der EU jenseits von Sonntagsreden werden zu können. Die europäische Gestaltungsdimension der Politik gehört auf die Tagesordnung der Berliner Republik und ins Bewusstsein ihrer Protagonisten.