Grundsicherung und Arbeitsanreize

"Soziale Gerechtigkeit" - eine grüne Annäherung

Auch wenn es vielen Menschen heute nicht schlechter geht als früher, haben sich doch die Wahrnehmungen verschoben: Gerade bei den Jüngeren gibt es eine erhebliche Unsicherheit über die eigene Zukunftsperspektive. Vor allem deshalb hat die soziale Frage wieder enorm an Bedeutung gewonnen und vorübergehend die ökologische Frage verdrängt. Ebenso vielfältig und widersprüchlich wie die gesellschaftliche Entwicklung sind aber die aktuellen Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit.

Erstens Klassisch bedeutet soziale Gerechtigkeit Verteilungsgerechtigkeit. Wenn wenige fast alles besitzen, wenn die Aufstiegschancen für Benachteiligte minimal sind, dann spüren viele Menschen, dass etwas nicht stimmt. Die Wahrnehmung einer sozialen Schieflage hat nicht unbedingt etwas mit absoluter Armut zu tun. Ein Sozialhilfeempfänger aus den neuen Bundesländern hat vermutlich einen höheren Lebensstandard als viele Kleinunternehmer in der sogenannten Dritten Welt. Er fühlt sich jedoch möglicherweise ausgestoßen und wertlos. Armen Kindern ist die soziale Randständigkeit häufig in die Wiege gelegt. Bei Kindern reicher Eltern ist es umgekehrt: Ihr Millionenvermögen ist einfach die Gnade einer Geburt in günstige Familienverhältnisse. Darauf mit einfachen Umverteilungsparolen zu antworten, wäre aber kurzsichtig: Kapital ist mobil, und es besteht ein gesellschaftliches Interesse an Investitionen im Inland. Stichworte für die - dennoch notwendige - Debatte sind beispielsweise die steuerliche Gleichbehandlung aller Einkommensformen, die Reform der Erbschaftssteuer, internationale Vereinbarungen zur Regulierung der Finanzmärkte, aber auch die Vermögensbildung für breite Einkommensschichten.

Zweitens Leistungsgerechtigkeit: Die Aussicht auf Gewinn und höheres Einkommen fördert Anstrengung und Kreativität. Insofern gibt es durchaus eine soziale "Neiddividende" (begrenzter) sozialer Ungleichheit. Dazu müssen auch die staatlichen Rahmenbedingungen für Investitionen stimmen. Konservativ verkürzt ist jedes legale Einkommen eine Folge individueller Tüchtigkeit. Doch das Erbenschicksal hat ebenso wenig mit Leistung zu tun wie der Vorteil von Kapitalerträgen gegenüber dem Einsatz menschlicher Arbeitskraft. Auch die Spitzeneinkommen einer Managerkaste oder die (oft magere) Entlohnung von sozialen Dienstleistungen haben wenig mit einem operationalisierbaren Leistungsbegriff zu tun.

Drittens Chancengerechtigkeit ist in der Verabsolutierung eine Illusion, als Zielvorgabe aber rational. Wenn Begabungsreserven brach liegen, schadet dies nicht nur den Individuen und schränkt faktisch ihre Freiheit ein. Es schadet außerdem der Gesellschaft als Ganzer und dem viel beschworenen Wirtschaftsstandort. Für die Erzielung von Chancengerechtigkeit ist die Bereitstellung von Kinderbetreuungseinrichtungen sowie von kostenloser, qualitativ hochwertiger Bildung daher genauso vernünftig wie der Blick darauf, daß die körperliche und psychische Gesundheit von Kindern nicht leidet.


Ebenso ist es ein Gebot der Vernunft, daß Menschen nicht unterhalb eines bedarfsgerechten Existenzminimums leben müssen, das ihnen die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ermöglicht.

Viertens Generationengerechtigkeit. Es ist ungerecht, wenn wir auf Kosten unserer Nachkommen leben - das gilt in der Ökologie ebenso wie bei der Rente und in der Finanzpolitik. Damit nicht ganze Generationen vom Arbeitsmarkt ausgesperrt werden, bleiben - neben einer innovativen ökologischen Wirtschaftspolitik - eine aktive Arbeitsmarktpolitik sowie flexible und solidarische Instrumente zur Arbeitszeitverkürzung unverzichtbar: zum Beispiel Sabbaticals, erweiterte Altersteilzeit und Teilzeitarbeit auch in höher qualifizierten Positionen. Die sozialen Sicherungssysteme müssen umgebaut werden, weil sie gerade für die nachwachsenden Generationen immer weniger greifen. Wenn im Jahre 2030 eine ArbeitnehmerIn für eineN RentnerIn aufkommen soll, so zeigt dies die Absurdität des heutigen Umlagemodells. Wichtiger denn je ist, dass Ökologie nicht als Gegenbotschaft zur sozialen Gerechtigkeit erscheint, sondern als deren Teil.

Fünftens Für Neoliberale bedeutet Gerechtigkeit: Wenn wir nur die Angebotsbedingungen verbessern, die Gewinnaussichten für Investoren verbessern und die Erträge von Vermögen vergrößern, entstehen neue Arbeitsplätze und "alles wird gut". Es kommt also unten mehr an, wenn oben möglichst viel hängen bleibt. Zu dieser Einseitigkeit paßt die Verengung von Generationengerechtigkeit auf die Sanierung der öffentlichen Haushalte. Neoliberale vermeiden die Debatte über all das, was nicht ins Konzept paßt: Etwa die massive Verstärkung von Ungleichheit und die enorm verschlechterte Chancengerechtigkeit in den USA und in Großbritannien oder auch nur die Gründe dafür, daß die massive Deregulierung in den USA der 80er Jahre in einem finanz- und arbeitsmarktpolitischen Fiasko endete (und der große Boom erst 1992 einsetzte).

Sechstens Teilhabegerechtigkeit: Gab es früher die Hoffnung, Politik könne alles zum Besseren wenden, erleben wir nun das genaue Gegenteil. Dass wir gegen dieses Ohnmachtsgefühl etwas tun, die Mitwirkungsmöglichkeiten stärken und auch die Chancen der Globalisierung für viele Menschen erfahrbar machen, ist lebenswichtig für unsere Demokratie. Wichtig sind dabei auch die BürgerInnenrechte: Nur wenn sie verwirklicht sind, kann von Teilhabegerechtigkeit die Rede sein.
Grüne Sozialpolitik ist an libertäre und soziale Werte gebunden: Notwendige staatliche Regulierungen müssen die Autonomie der Menschen ebenso im Blick behalten wie verschiedene Dimensionen sozialer Gerechtigkeit.


Für die Reform der sozialen Sicherungssysteme bedeutet dies:


- Die stufenweise Einführung einer Grundsicherung, zunächst für RentnerInnen und Kinder. Für erstere durch eine Mindestrente, für arme Kinder zum Beispiel durch einen Kindergeldzuschlag, der ihre Familien sehr häufig von der Sozialhilfeabhängigkeit befreien würde.
- Eine Pauschalierung der meisten Leistungen nach dem Maßstab des soziokulturellen Existenzminimums - also ein voller Systemwechsel hin zur Grundsicherung. Durch die Entbürokratisierung und Vereinfachung des Verfahrens werden Arme zu selbstbewußten Anspruchsberechtigten statt wie bisher zu BittstellerInnen.
- Längerfristig ist die Steuerfinanzierung statt der bisherigen Beitragsfinanzierung von Leistungen zu prüfen - das wird der künftigen Arbeitsgesellschaft mehr gerecht.
- Eine stärkere Finanzierung durch indirekte Steuern bei gleichzeitiger Entlastung von Arbeitseinkommen. Zu diskutieren ist dabei u.a. eine Luxussteuer für bestimmte höherwertige Gebrauchsgüter.
- Zusätzliche positive Arbeitsanreize: Kurzfristig denkbar ist ein besonderer Kindergeldzuschlag, mit dem Einkommen über dem Existenzminimum nur teilweise verrechnet wird. Längerfristig ist vieles denkbar, bis hin zu einer Negativsteuer - ein garantiertes Mindesteinkommen, bei dem zusätzliche Einkommen mit einem bestimmten Satz versteuert werden. Damit verbunden wäre auch die Möglichkeit zu selbstbestimmter Tätigkeit - zu Sabbatjahren, zu Fortbildungsphasen oder zur Existenzgründung.


Die Debatte über soziale Gerechtigkeit ist nicht nur aufgrund des vielschichtigen Begriffs komplex. Sie muss neben einer Verständigung über Werte immer auch betriebs- und volkswirtschaftliche Aspekte verknüpfen, um dem gesellschaftlichen Wandel nicht nur hinterherzuhecheln, sondern ihn auch zu gestalten. Das ist die Herausforderung für uns als junge Generation.

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