Happy Birthday, SPD!

Gedanken zu einer Partei mit langer Geschichte - und schwieriger Gegenwart

In diesem Mai feiern die deutschen Sozialdemokraten ihren 140. Geburtstag. Ein paar Festivitäten hat man organisiert. Im vorwärts werden ein paar Artikel stehen. Der Parteivorsitzende wird eine Rede ablesen. Und auch in den Bezirken und Unterbezirken wird man einige erhabene Festansprachen hören. Aber all zu überschwänglich wird es alles in allem wohl nicht zugehen. Denn so richtig feierlich ist der SPD derzeit gerade nicht zumute. Man hat andere Sorgen. Aktuelle Sorgen. Und da ist die Geschichte eher Gedöns, Krams von gestern, sentimentales Zeugs.

Dabei könnten die Sozialdemokraten durchaus stolz darauf sein, 140 lange Jahre zu existieren. Selbstverständlich ist das ja keineswegs. Deutschland hat sich in diesen fast eineinhalb Jahrhunderten ungeheuer verändert, hat etliche Systemwechsel erlebt - vom Norddeutschen Bund über das Kaiserreich, die Weimarer Republik, den Nationalsozialismus, die DDR, die Bonner Republik bis hin jetzt zur Berliner Republik. Das Land hat weitreichende soziologische und gesellschaftliche Wandlungen erfahren, hat Depressionen und Inflationen erlitten. Insgesamt: Deutschland hat sich in dieser Zeit von einem eher vorindustriellen Land zu einer postindustriellen Gesellschaft entwickelt. Aber das alles hat die Sozialdemokratie nicht weggefegt, hat sie nicht entbehrlich gemacht. Sie hat all diese Transformationen weitgehend unbeschädigt überstanden. In der modernen BWL-Sprache ausgedrückt: Sie hat sich auf dem Markt der Politik im Parteienwettbewerb über 140 Jahre lang auf der nationalen Ebene nicht nur behauptet, sie ist seit 1998 sogar Marktführer. Keine andere Ware auf irgendeinem Markt in Deutschland kann eine ähnliche Erfolgsstory vorweisen.


Die Sozialdemokraten haben eine solche Story nicht nur vorzuweisen, sie können eine wirklich pralle Geschichte erzählen. Eben das ist es wahrscheinlich, warum es die Partei noch gibt. Die Sozialdemokraten konnten von Generation zu Generation ihre Geschichte weiter erzählen. Denn es war die aufregende Geschichte von großen Konflikten, schlimmen Gefahren, üblen Verfolgungen, mutigen Frauen und Männern, tragischen Märtyrern, verwegenen Abenteurern, aber auch von verächtlichen Konvertiten. Die Sozialdemokraten hatten also den Stoff für Geschichten, für Mythen und Legenden, für das große Epos. Eine Partei mit diesem Stoff verschwindet nicht so einfach. Sie löst sich nicht bei den ersten Schwierigkeiten auf. Eine Partei, die auf große Auseinandersetzungen und große Anführer zurückblickt, empfindet Geschichte als Erbe und Auftrag. Zweifellos bedeutet das für die Nachgeborenen oft genug Last und Bürde. Eine traditionsreiche Partei kann Geschichte auch kanonisieren, die Erfahrungssätze daraus dogmatisieren, kann zu einem monumentalen Museum der Vergangenheit werden. Man hat solche Phasen in der SPD durchaus erlebt. In anderen Phasen aber waren Geschichte und Erinnerung ein Kraftquell, ein Damm gegen Erosion und Entmutigung, Klebstoff für den Zusammenhalt, das gemeinsame Dach über streitenden Flügeln. Nimmt man die SPD heute, so ist sie wohl nicht durch eine Überlast an Geschichte gefährdet. Die Sozialdemokraten haben sich vielmehr in den letzten zehn bis zwanzig Jahren ziemlich enthistorisiert. Kenntnisse in "Geschichte der Arbeiterbewegung", die es früher im Funktionärskorps ganz selbstverständlich gab, sind rar geworden. Das hat die SPD gewiss von manchen Starrheiten und Konventionen befreit. Aber es gefährdet sie auch in ihrer Stabilität, wenn es einmal ernst werden sollte.


Die deutschen Sozialdemokraten haben auch deshalb 140 Jahre ausgehalten, weil sie keine simple Interessenpartei waren. Reine Interessenparteien haben wenig Dauer. Über kurz oder lang machen sie sich selbst überflüssig, egal wie sie handeln, wie gut oder schlecht ihre Ergebnisse sind. Denn: Sind Interessenparteien erfolgreich, dann unterminieren sie die Voraussetzung ihrer Existenz, da sie die Interessen ihrer Klientel schließlich befriedigt und letztlich erfüllt haben. Die Parteien sind dann fortan nicht mehr wichtig. Bleibt die Interessenpartei aber ohne Erfolg, dann wendet sich die Klientel ebenfalls ab, um einen neuen politischen Anbieter zu suchen, der größere Effizienz verspricht. Die deutsche Parlamentsgeschichte kennt viele reine Interessenparteien, aber keine, die lange existiert haben.


Die beiden erfolgreichsten und zählebigsten Parteifamilien sind bezeichnenderweise die sozialdemokratische und die christlich-katholische. Auch sie haben natürlich soziale Interessen vertreten, aber eben nicht nur. Beide Parteien waren daneben auch gleichsam ideologisch motiviert, durch Ethos und Weltanschauung geleitet. Typisch war für beide die transzendente Perspektive. Weder Sozialdemokraten noch christliche Katholiken gingen in der Gegenwart auf. Beide waren an einer weiten, besseren Zukunft orientiert. Die katholisch-christliche Parteifamilie besaß eine Jenseitsutopie, die Sozialdemokraten hatten ihre Diesseitsvision von einer sozialen, ausbeutungsfreien, friedfertigen und solidarischen Gesellschaft. Kurzum: Ihre jeweilige politische Aufgabe war in der vorgegebenen Realität nicht zu lösen.


Insofern lebte die Sozialdemokratie über hundert Jahre in einer für sie ganz typischen, spezifischen Spannung: zwischen der Empirie des politischen Alltags und den Wunschvorstellungen an eine bessere Zukunft - kurz, zwischen Sein und Sollen. Diese Spannung erzeugte die sozialdemokratische Reformismusenergie. Dieser Bezug auf das Noch-Nicht-Erreichte aktivierte die Mitglieder; er mobilisierte Leidenschaft, entfachte Temperament, erzeugte Veränderungsimpetus. Dadurch war die SPD eine dynamische Reformpartei. Und eben darin liegt die signifikante Differenz zu den Traditionalisten und Modernisierern in der Schröder-SPD von heute. Weder gegenwärtige Traditionalisten noch Modernisierer lassen sich von dieser klassisch-genuinen sozialdemokratischen Spannung noch leiten. Die Traditionalisten haben keine Vorstellung davon, wie es künftig sein soll, sondern wollen nur das verteidigen, was angeblich immer schon war. Die Modernisierer wiederum sind Apologeten einer vermeintlich alternativlosen Empirie: Man habe sich an die Wirklichkeit zu halten, wie sie eben sei, nicht am Wünschbaren zu orientieren, nicht daran, wie die Realität sein sollte. So lautet das politische Credo von Schröder bis Clement.

Aus der lippischen Baracke bis ins Kanzleramt

Im Grunde aber ist das der Bruch mit dem sozialdemokratischen Reformismusverständnis. Das Elixier schon der sozialdemokratischen Parteigründung war gerade die Distanz zur Realität, ja die Ablehnung der Wirklichkeit, war die Hoffnung auf die wünschenswerte Alternative dazu. (Hätten sich Sozialdemokraten allein an die Wirklichkeit gehalten, würde ihr gegenwärtiger Parteivorsitzender schließlich immer noch in einer lippischen Baracke hausen; da er sich selbst aber am Wünschenswerten orientierte, hat er es bis ins Kanzleramt gebracht.) Weil die Sozialdemokraten überwiegend keine revolutionären Utopisten oder Voluntaristen waren, setzten sie das Wünschenswerte nicht absolut, sondern arbeiteten vielmehr zäh und schrittweise daran, das Wünschenswerte machbar zu machen. Nochmals: Das war Kern und Schwungrad des aktiven, dynamischen, zielorientierten sozialdemokratischen Reformismus. Von diesem dynamischen Reformismusbegriff haben sich die rein defensiven Bestandssicherer in der SPD entfernt, aber auch die Dogmatiker des Gegenwärtigen, der alternativlosen Empirie, der nicht mehr in Frage gestellten Wirklichkeit.


Zugegebenermaßen hatten die wechselnden "Modernisierer" in der SPD stets einen scharfen Blick für die Achillesfersen der klassischen Sozialdemokratie, für die Lebenslügen der Partei. Mit Recht monierten die "Modernisierer" stets, dass zwischen dem Alltagshandeln und dem Fernzielpathos der Sozialdemokraten von Bebel bis Schumacher (und all ihrer Epigonen danach) eine strategische Lücke bestand. Sozialdemokratische Empirie und sozialdemokratische Transzendenz waren nicht konzeptionell miteinander verschränkt, befruchteten einander nicht. Eher war es oft so, dass die sozialdemokratische Langzeitvision der große Trostspender war für die Unbill täglicher Mühsal. Darin hatten die "Modernisierer" zweifellos recht: Die Rhetorik von der sozialdemokratischen Zukunftsgesellschaft war oft genug die Legitimationsformel, um sich aus den Schwierigkeiten, aus den Härten des politischen Diesseits herauszustehlen, war die Entlastungsrede für den chronischen sozialdemokratischen Eskapismus.


Lange hatten die Sozialdemokraten Angst vor der Macht. Das lag natürlich vor allem auch daran, dass ihre bürgerlichen und feudalen Gegner sie lange von der Macht fern hielten. Und so gewöhnten sich die Sozialdemokraten an die behagliche Machtferne ihrer Nische. Als ihnen dann 1918 die Macht fast in den Schoß fiel, wussten sie nicht recht etwas damit anzufangen. Und in den Jahrzehnten danach waren sie oft froh, regelrecht erleichtert, die Macht schnell wieder aus den Händen zu geben, wenn die Zeiten schwierig wurden, die Probleme sich häuften, die Anhänger jammerten und maulten. Dann zogen sich die Sozialdemokraten schnell wieder in ihr Milieu zurück, leckten dort ihre Wunden, schmollten die Entwicklung an, die sich ohne sie vollzog, deklamierten wieder das große, erlösende, fundamentale Endziel.


Natürlich, oft geschah dieser Rückzug in die eigenkulturelle und politisch separierte Wagenburg nicht freiwillig. Häufig genug war er in den ersten 75 Jahren der Geschichte Folge brutaler Verfolgung, Ächtung und Repression. Insofern ist das sozialdemokratische Refugium, ist die sozialdemokratische Trostideologie der Langzeitvision durchaus ambivalent zu bewerten. Das alles bot Schutz, Wärme und Heimat; es spendete Zuversicht, Vertrauen und Optimismus. So hielten die Sozialdemokraten insgesamt 24 Jahre staatlichen Terrors gegen alles Sozialdemokratische aus, ohne unterzugehen oder auch nur an Zahl weniger zu werden. Am Ende des subkulturellen Überlebens, während des Sozialistengesetzes etwa, waren die Sozialdemokraten stärker denn je. Sie hatten leiden müssen, aber sie hatten in dieser Zeit an Mitgliedern und Wählern zugenommen. Und so lernten die Sozialdemokraten das Leiden zu lieben. Das Leid verschaffte ihnen ein moralisches Überlegenheitsgefühl auf das sie sich, bis heute im Grunde, immer dann zurückbesannen, wenn die Zeiten für sie schlecht waren, wenn die Medien über sie herfielen, wenn die "Bürgerlichen" sie attackierten. Dann suchten Sozialdemokraten das oppositionelle Rückzugsgelände, den einheitsstiftenden Affekt gegen die "Anderen" und die Selbstvergewisserung, die moralisch höherwertigen Menschen zu sein.

Auf den Sozialstaat fixiert ist die SPD erst seit ein paar Jahrzehnten

Historisch übrigens war die sozialdemokratische Sonder- und Eigenkultur alles andere als etatistisch. Für das sozialdemokratische Organisationsleben und die sozialdemokratischen Alltagsträume hat der Staat in den ersten einhundert Jahren der SPD-Geschichte keine große Rolle gespielt. Vielmehr kann man das sozialdemokratische Milieu als zivilgesellschaftlichen Experimentierort ansehen, in dem Arbeitersportvereine, Samariter- und Wohlfahrtsverbände sowie Kulturorganisationen die Interessen und Anliegen der Arbeiterschaft selber regelten. Lange Zeit war der Sozialstaat nicht der Fixpunkt der Sozialdemokraten. Er löste erst in den 1960er Jahren die sozialdemokratische Zivilgesellschaft und sozialdemokratische Selbsthilfebewegung ab. Doch darf man der autonomen, zweifellos imposanten sozialdemokratischen Kultur nicht zu sentimental hinterher weinen. Sie war wirklich Nische, eine abgesonderte Eigenwelt am Rande der Gesellschaft. Im Zentrum der Politik, im Herzen der Macht dominierten andere soziale und politische Kräfte. Das machte die Sozialdemokraten über etliche Jahrzehnte immer zu Objekten, mitunter geradezu zu Opfern politischer Entscheidungen ihrer Gegner. Die Sozialdemokraten konnten zwar in ihrem Refugium überleben. Sie waren resistent gegen die Pathologien der Krisen und die extremistischen Stimmungen im 20. Jahrhundert. Aber Sozialdemokraten hatten lange nicht die Instrumente, hatten auch nicht die politische Macht, um Krisen zu verhindern oder auf Krisen einzuwirken. Die Sozialdemokratie war zu wenig handelndes Subjekt in der deutschen Politik und Gesellschaft. Eigentlich ist es fast grotesk, dass sie derzeit das Stigma der etatistischen Traditionstruppe trägt. Es war gerade der Mangel an etatistischer Kraft und Beteiligung, das Defizit an Zielklarheit für den öffentlich-politischen Raum, was die sozialdemokratische Geschichte charakterisierte und die sozialdemokratischen Niederlagen und Tragödien im 19. und 20. Jahrhundert verursachte.


Wirklich im Klaren über das finale Ziel ihres politischen Tuns waren sich die Sozialdemokraten wahrscheinlich nie. Es war zwar im sozialdemokratischen Diskurs stets und dauernd von den großen, eigenen Zielen die Rede, aber man hat das nie näher ausgeführt oder gar präzise bestimmt. Es gab keine Bilder, zumindest keine Modelle, keine Baupläne oder Blaupausen von der Zukunftsgesellschaft. Das war in Teilen gewiss das lange Erbe des Marxismus, der ja keine utopische Schwärmerei sein wollte, sondern strenge Wissenschaft. Und das Zauberwort, die Schlüsselkategorie dieser vermeintlichen Wissenschaft lautete "Entwicklung". Kein anderer Begriff hat mindestens vier oder fünf Generationen der sozialdemokratischen Geschichte so sehr geprägt wie eben dieser: "Entwicklung". Natürlich, auch der feste Glaube an den positiven Lauf der "Entwicklung" hat dazu beigetragen, dass Sozialdemokraten Krisen und Verfolgungen aushielten. Denn wie übel die Zeiten auch waren, die vorgebliche Wissenschaft des Marxismus insinuierte den Sozialdemokraten die Gewissheit - in der anderen großen Parteifamilie hätte man gesagt: das Gottvertrauen -, dass die "objektive Entwicklung" der Gesellschaft trotz alledem auf den Sozialismus zulief. Und weil dieser Prozess sich so wunderschön eigengesetzlich vollzog, brauchten sich Sozialdemokraten nie Gedanken darüber zu machen, wie der "sozialdemokratische Volksstaat" wohl funktionieren könne, wie es mit der Sozialisierung, der Planung, der Produzentendemokratie und dergleichen mehr in der neuen Gesellschaft exakt auszusehen habe. Sozialdemokraten haben sich, mit Ausnahme von Randfiguren, darüber nie den Kopf zerbrochen. Ihr Entwicklungsdeterminismus verhinderte das.

Utopien? Phantasie? Davon wollten Sozialdemokraten nicht viel wissen

Nun ist der marxistisch inspirierte Endzielfatalismus gewiss aus der Sozialdemokratie verschwunden. Aber die Entwicklungsfixierung hat sichtbar Spuren hinterlassen. Im "Determinismus des Tatsächlichen", der in den Argumentationsfiguren von Clement und Schröder nahezu dominant auftaucht, erkennt man die nachwirkenden Einflüsse. In der Einrede von den "Alternativlosigkeiten" in der Politik kehrt der strategielose sozialdemokratische Entwicklungsobjektivismus im neuen Gewande zurück. Man hat den Sozialdemokraten oft vorgeworfen, sie ließen sich von utopischen Vorstellungen treiben. Das genaue Gegenteil ist richtig. Die Sozialdemokraten waren ganz unfähig zu utopischen Phantasien. Ihnen fehlte es an Imagination, an kreativem Sinn und Vorstellungskraft für das utopische Bild. Die Bilderlosigkeit, ja das Farblose ist das typische für die sozialdemokratische Geschichte, in der meist eine eher eintönige schwarz-weiß Dramaturgie herrschte. Die sozialdemokratische Arbeiterbewegung war viel zu sehr eine Bewegung von Handwerkern, um zur Utopie fähig zu sein. Die sozialdemokratischen Handwerker waren solide Menschen, berufsstolz, auf kleinbürgerliche Ehrbarkeit und allmählichen Aufstieg aus. Die sozialdemokratische Handwerkerbewegung hatte weder Sinn für Utopien noch die Verwegenheit für riskante Aktionen. Die Sozialdemokraten waren ehrliche, anständige, verlässliche Menschen. Aber die Energie zum plötzlichen Angriff, die Phantasie und den architektonischen Plan für eine neue Gesellschaft besaßen sie nicht. Sozialdemokraten in Deutschland waren Helden des ehrenvollen Rückzugs. Wie gesagt, das hat sie oft überleben lassen. Aber zu großen Subjekten und Lenkern der Geschichte hat es sie nicht gemacht.


Sozialdemokraten waren keine kreativen Künstler des utopischen Gemäldes, sie waren auch nicht die kühnen Barrikadenkämpfer für einen radikalen Reformismus. Sozialdemokraten waren die nüchternen Experten der Organisation. In einhundertvierzig Jahren sozialdemokratischer Geschichte bedeutete sozialdemokratische Politik vor allem sozialdemokratische Organisation. Hier war die Assoziation der Handwerker und Facharbeiter vom Beginn an in ihrem Element. Im Aufbau der ersten sozialdemokratischen Parteiorganisationen gingen noch Elemente der alten Zünfte ein, auch in ihrem Kassenbestand, ihren Fahnen und Symbolen, ihren Disziplinvorstellungen. Vieles davon wirkte noch hundert weitere Jahre nach.


Und in diesen hundert Jahren reproduzierte sich immer wieder die Bedeutungserfahrung der Organisation. In den Jahrzehnten der Hochindustrialisierung war die Mobilität unter den Arbeiterfamilien so groß, dass die Sozialdemokratie sich nur deshalb fortsetzen, weiterleben konnte, weil sie Organisation war - und weil hauptamtliche Funktionäre vor Ort im Wechsel der Mitglieder für Konstanz und Kontinuität sorgten. Wären die Sozialdemokraten damals allein soziale Bewegung gewesen und nicht rasch schon Organisation geworden, dann hätten sie das 19. Jahrhundert nicht überlebt. Und in den Jahren der großen politischen Dekomposition, in der Endphase der Weimarer Republik, als sich die bürgerliche Mitte nahezu vollständig auflöste, hatte die SPD eben dort stabilen Bestand, wo die sozialdemokratische Arbeiterbewegung in ihrer ganzen lebensweltlichen Breite organisatorisch verfestigt und verdichtet, also mit Vereinen, Verbänden, Klubs und Ortsvereinen in den Wohnquartieren ihrer Anhänger verwurzelt war.

Noch ist der SPD gar nicht klar, wie sehr sie sich gewandelt hat

In der Organisation vermittelte sich ein weiteres Mal die Stärke, aber auch das Dilemma der Sozialdemokratie in ihrer Geschichte. Die Organisation sorgte für Bestand und Beständigkeit, sicherte die sozialdemokratische Existenz selbst in Kriegs- und Krisenzeiten. Aber große Organisationen setzen sich nicht selbst aufs Spiel, scheuen das Risiko, sind vorwiegend am Selbsterhalt interessiert - nicht an dynamischen Reformen, unübersichtlichen Veränderungen, stürmischer Aktivität. So hat zwar auch die Organisation, hauptursächlich sogar, zu den einhundertvierzig langen sozialdemokratischen Jahren beigetragen, aber ebenfalls zu der politischen Ängstlichkeit und zum Immobilismus der Partei in zentralen historischen Phasen. Doch geht der Organisationspatriotismus der Sozialdemokraten seit zwei bis drei Jahrzehnten sowieso signifikant zurück. Mit der Emanzipation der Sozialdemokratie von der klassischen Facharbeiterklasse hat die Partei auch den Organisationsausdruck der Handwerkerbewegung hinter sich gelassen. Das hat den politischen Raum der SPD neu geöffnet, ihre frühere Präsenz und Verwurzelung aber erheblich geschmälert. Erneut: Der Abschied von der Tradition hat die SPD freier gemacht, gefährdet sie allerdings zweifellos dann, wenn die Lage schwierig werden sollte.


Richtig klar hat sich Sozialdemokratie nicht gemacht, wie sehr sie sich in den vergangenen 30 Jahren gewandelt hat. Die Sozialdemokratie ist in ihrem Kern nicht mehr die Partei der Arbeiterklasse. Exakt einhundert Jahre war sie stolz darauf, eben dies zu sein. Ihr ganzes Selbstbewusstsein zog sie daraus, als politische Repräsentantin derjenigen sozialen Formation zu agieren, die die ökonomischen Werte schuf, also produktiv war - im Gegensatz zur parasitären "bourgeoisen Ausbeuterklasse". Insofern war die Arbeiterklasse für die Sozialdemokratie die Klasse der Zukunft, Subjekt der Emanzipation und Befreiung. Darin steckten die vorwärtstreibenden Sozialenergien und Erwartungen der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung, darin barg sich ihr spezifischer Zukunftsoptimismus. Ein ganzes Jahrhundert lang hat sich die SPD nicht als Verteidigungsgemeinschaft sozialer Besitzstände verstanden, sondern als Motor für Veränderung und Verbesserung.


Wahrscheinlich markierten die 1970er Jahre das Ende der alten Arbeiterbewegung, das Ende der klassischen Sozialdemokratie. Es war das große sozialdemokratische Jahrzehnt in Europa. Und wie so oft, so geschah es auch diesmal: Der Erfolg höhlte die Voraussetzung seiner selbst aus. In den 1970er Jahren erreichte die sozialdemokratisch lancierte Bildungsexpansion ihren Höhepunkt. Und niemand war auf die sozialdemokratische Bildungsexpansion verständlicherweise besser vorbereitet als die Familien des sozialdemokratischen Funktionärskerns, als die Söhne und Töchter der sozialdemokratischen Facharbeiter. In diesem Jahrzehnt gingen Hunderttausende von Kindern sozialdemokratischer Dreher, Tischler, Maurer und Bergarbeiter auf das Gymnasium, studierten dann - und verließen hernach die ehemaligen sozialdemokratisch dominierten Wohnquartiere. Die Organisatoren des sozialdemokratischen Milieus verließen das Milieu - und liquidierten es dadurch. Die Arbeiterquartiere verwaisten politisch und kulturell, verloren ihre politischen Klammern zur Sozialdemokratie. Die Zurückgebliebenen waren nunmehr organisatorisch unbehaust, normativ und weltanschaulich verwaist. Und sie entkoppelten sich von der SPD, fühlten sich weder vom Habitus noch vom Stil, aber auch nicht von der Politik der neuen mittelschichtigen Sozialdemokraten weiterhin vertreten. Das Restproletariat verlor die Erfahrung der Kollektivität; es individualisierte sich, löste sich oft vom Wahlakt ganz ab oder wechselte jäh die politischen Fronten. Volatilität war in den Weimarer Jahren das Kennzeichen des gewerblichen Bürgertums; heute ist Volatilität das Charakteristikum der Rest-Arbeiterklasse. Arbeiterklasse und Sozialdemokratie, das gehört nicht mehr zusammen. Bei den jüngsten Wahlen - und vor allem südlich der Mainlinie - war die Christdemokratie "proletarischer" als die SPD.

Von strategischer Selbsterkenntnis hält die SPD nicht viel

Das bereitet der SPD Probleme. Denn sie tut immer noch gerne so, als wäre sie die Partei der Arbeiter, der "kleinen Leute" zumindest. Sie weigert sich in gewisser Weise, den neuen sozialen Ort ihrer aufgestiegenen Kernanhänger sozial, politisch und kulturell zu definieren, um sich strategisch darüber Rechenschaft abzulegen, wie viel an Solidaritäts- und Reformpotential in ihrer selbst geschaffenen, neuen, arrivierten Mitte noch steckt. Und zumindest als Wähler brauchen die Sozialdemokraten die Unterschichten der deutschen Gesellschaft noch immer, wenngleich es die Partei konzeptionell in die Bredouille bringt. Die SPD muss sich nach wie vor um die Herausgefallenen und Gestrandeten kümmern, weil das dem Kern ihres historisch gewachsenen Selbstverständnisses entspricht. Aber eine Klasse der Zukunft, Akteurin der sozialen Befreiung ist die Unterschicht ganz gewiss nicht mehr, wie es die Theoretiker und Aktivisten des Sozialismus in früheren Jahrzehnten von der industriellen Arbeiterklasse noch einigermaßen plausibel annehmen durften.


Wie gesagt, aus dieser Erwartung, der Mission der Arbeiterklasse, haben die Sozialdemokraten ein ganzes Jahrhundert ihr Sendungsbewusstsein gezogen, ihren Glauben an den Kampf für eine große Sache. In den neuen, organisationsentbundenen Unterschichtquartieren der Republik vertritt die SPD indessen nur die Opfer, die Verlorenen, Ausgemusterten, Marginalisierten, die nicht einmal mehr zur ökonomischen Ausbeutung gebraucht werden. Als Motoren für Zukunftsprojekte und kraftvolle Wirtschaftsreformen taugen sie nicht. Je stärker sich die SPD dieser Gruppen annimmt - wie es die Traditionalisten postulieren -, desto defensiver, randständiger, karitativer wirkt die Partei selbst, gleichsam wie der sozialkonservative politische Vollzugsausschuss der "Arbeiterwohlfahrt". Das mag ehrenhaft sein, aber es ist nicht mehrheitsfähig, denn es ist für jede Mitte - ob nun neu oder alt - abschreckend. Doch kann die SPD die Unterschichten auch nicht einfach links liegen lassen, wie das mache "Modernisierer" in Anlehnung an das englische Vorbild Tony Blair vorsichtig empfehlen. Denn das wäre sehr viel weniger ehrenhaft, aber es wäre vor allem ebenfalls nicht mehrheitsfähig, denn allein mit neuen Mitten kommt man in Deutschland nicht über 30 Prozent hinaus. Darin besteht das sozialdemokratische Dilemma. Und in einer gewissen Weise ist das auch der Hintergrund für den innersozialdemokratischen Streit im Frühjahr 2003.

Ein Bild von der Zukunft - statt Alternativlosigkeit und Abwehrparolen

Nun gibt es gegen Streit in der SPD nichts zu sagen. Der Streit gehört zur Geschichte der Sozialdemokraten; er ist der Partei gleichsam wesenseigen. Er ist vielleicht der wertvollste Beitrag der SPD zur Einübung der Demokratie im doch lange obrigkeitsstaatlich geprägten Deutschland. In den anderen Parteien ging es jedenfalls diskussionsloser zu, autoritärer und patriarchalischer. Die SPD war hier Pionier und Vorbild für eine liberalere, offenere Debattenkultur. Das war bereits von Beginn an so, als Lassalle mit Marx und Bebel stritt. Dann folgten die harten Kontroversen zwischen Kautsky und Bernstein. Auch Scheidemann und Ebert lagen heftig miteinander im Clinch. Rudolf Hilferding und Paul Levi standen schroff auf verschiedenen Seiten der Sozialismusinterpretation. Schumacher und Reuter sahen die Dinge unterschiedlich und sprachen es offen aus. Eichler und Abendroth konnten sich auf ein Programm des demokratischen Sozialismus nicht einigen. Eppler und Löwenthal lagen im Grundwertestreit über Kreuz. Und Gerd Schröder attackierte in den frühen 1980er Jahren lustvoll und erbarmungslos seinen Kanzler, den armen Helmut Schmidt. Das alles hat den Sozialdemokraten das politische Leben nicht leicht gemacht; aber auch das, der Streit, hat am Ende dazu geführt, das die SPD einhundertvierzig Jahre überlebte. Denn im Streit wuchsen, lernten und reiften die Talente der Partei. Sie mussten im Streit ihre Position schärfen, Anhänger sammeln, neue Zusammenhänge stiften, an ihren oratorischen Fähigkeiten feilen, Durchsetzungskraft entwickeln. Ohne Streit schlafft eine Partei ab; sie verliert an Leben, Substanz und eben auch an geeignetem Führungsnachwuchs. Gerd Schröder etwa ist als Politiker nachgerade idealtypisch ein Produkt fortwährender Kämpfe, Dispute und Rivalitäten. Insofern wird auch der neue, gegenwärtige Streit um die Politik Schröders die Sozialdemokratie nicht ruinieren oder in den Abgrund stürzen. Im Gegenteil: Während der ungewohnten Parteienruhe der letzten Jahre entwickelten sich in der SPD keine neuen Strukturen, baute sich nirgendwo der Leitwolf von morgen auf. Am Ende des harten Streits in der SPD wird eine Menge Porzellan zerdeppert sein; der Kanzler wird seine liebe Mühe haben. Doch es werden sich neue Gruppen bilden, neue Identitäten herauskristallisieren, es werden vielleicht neue interessante Figuren an die Oberfläche kommen - für die Zeit nach Schröder. Und das mag dann abermals die Zukunft der SPD sichern.


Ganz schön wäre es, wenn bei diesem Streit auch einige Netzwerker mit von der Partie wären, mit einem pointierten Beitrag möglichst jenseits vom phantasielosen Determinismus auf der einen und perspektivlosen Abwehrparolen auf der anderen Seite. Man könnte es ja mal versuchen, mit einem kühnen und konzeptionellen Reformismus, der das Sein stringent auf das Sollen bezieht, der das Wünschenswerte machbar machen möchte, der sich nicht scheut, auch farbenkräftige Bilder von der Zukunft zu malen.

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