Heimat Europa?
Europa im Herbst 2015: Die Geflüchteten sind zu dem politischen Subjekt geworden, das die europäische Politik zum ersten Mal nachhaltig herausfordern könnte. Trotz der Grenzsicherungsmaßnahmen, der unsicheren Routen über Land und Wasser und der Berichte über rassistische Übergriffe und Diskriminierung in den Ländern, in denen sie sich Schutz erhoffen, traten sie ihre Reise aus den Krisengebieten in Syrien und Irak, Afghanistan und Eritrea an. Von all diesen Hindernissen ließen sie sich nicht abhalten. Auch wenn sie bereits seit Jahren fliehen, ist ihre Flucht erst jetzt in der (deutschen) Öffentlichkeit zum Thema geworden. Neu ist allein das Ausmaß der Fluchtbewegung seit Ausbruch des Syrienkrieges: 60 bis 70 Prozent der Geflüchteten stammen von dort.
Die Willkommensgesten werden gefeiert, von den Geflüchteten wie von den Medien. Trotz der vielen Menschen in Deutschland, die ihr Mitgefühl zeigen und helfen, frage ich mich: Werden wir diesen Menschen eine neue Heimat bieten? Das Deutschland der brennenden Flüchtlingsheime – von Bundespräsident Joachim Gauck als das „dunkle Deutschland“ bezeichnet –, ist eine Realität, über die uns die aktuell gelebte Gastfreundschaft nicht hinwegtäuschen sollte.
Hütet euch vor der dunklen Seite!
Gastfreundschaft auf der einen, Abwehr auf der anderen Seite. Das Bild des hellen und dunklen Deutschland lässt sich auch auf Europa ausweiten: Es gibt zugleich ein aufgeschlossenes und ein rückwärtsgewandtes Europa. Heimat wird in diesen zwei Europas ganz unterschiedlich definiert: als etwas, was es für Neuankömmlinge zu öffnen gilt – oder vor ihnen zu schützen.
Was Heimat für uns bedeutet, lässt sich am besten im Umkehrschluss vergegenwärtigen. Stellen Sie sich vor, Sie haben keine Heimat. Alles, was für Sie unter diesen Begriff fiel – ein bestimmter Ort, Gemeinschaft, Familie, Job, Sprache, Essen, Kultur –, ist Krieg, Vertreibung, Tod oder wirtschaftlichem Zusammenbruch zum Opfer gefallen. Mittels dieser Übung können wir uns einer Antwort auf die Frage nähern, was Heimat bedeuten könnte und wie wir Heimat für andere schaffen können. Unsere Aufgabe ist eindeutig: Wir müssen die aufgeschlossenen Europäer ermuntern, Europa als Heimat zu erfinden.
Der Islamwissenschaftler Ahmad Milad Karimi hat einmal gesagt, die Flucht habe ihn gelehrt, dass Heimat eine Illusion sei. Als Flüchtlingskind kam er aus Afghanistan nach Deutschland und schaffte es als einziges Kind aus dem Flüchtlingsheim, die Schule zu besuchen. Diejenigen, die aus Syrien flüchten, könnten ähnliche Erfahrungen machen. Was einmal ihre Heimat war, gibt es nicht mehr. Schätzungen zufolge zählt Syrien 20 Millionen Einwohner. Seit Ausbruch des Krieges sind
250 000 Menschen umgekommen, 10 Millionen wurden vertrieben, davon 4 Millionen außer Landes. Können jene, die ihr Zuhause verloren haben und nun zu uns kommen, hier eine neue Heimat finden?
Die gastfreundlichen Reaktionen dieser Tage gegenüber den Geflüchteten zeigen die Empathie gegenüber ihrem Schicksal. Sie zeugen davon, dass sehr viele Menschen hierzulande ein anderes Bild aus Deutschland senden wollen, als es bis vor kurzem noch die Presse beherrschte: gespendete Hilfsgüter statt brennende Flüchtlingsheime – und der Wunsch, eine Willkommenskultur zu schaffen, die lange auf sich warten ließ. Diese Entwicklung ist erfreulich und in gewisser Weise neu – nicht hinsichtlich der Quantität, sondern in ihrer Qualität: Mit der Öffnung gegenüber den Geflüchteten hat Deutschland in diesen Tagen einen Sprung gemacht.
Anerkennung, Zugang, freie Lebensgestaltung
Den tosenden Empfang in München, Frankfurt oder Saalfeld werden die Geflüchteten nicht so schnell vergessen. Die persönlichen Begegnungen und Willkommensgesten bleiben in Erinnerung – und hoffentlich auch die kollektive Erkenntnis, wie mit Schutzsuchenden umzugehen ist. Das ist deshalb so wichtig, weil hinter diesen Gesten nicht das ganze Deutschland steht. Es ist das urbane, liberale und sicherlich auch das werte-orientierte Deutschland, das derzeit an den Bahnhöfen hilft und die Chance ergreift, Menschlichkeit und Mitgefühl zu zeigen.
Diese Einschränkung soll die Gesten nicht schmälern, aber einordnen. Wichtig ist, dass diese nicht verhallen. Politik und die ganze Gesellschaft sind jetzt gefragt, ebenfalls die Hand auszustrecken und den Geflüchteten die Chance auf eine schnelle Anerkennung, auf Zugang zu Bildung und Arbeit zu geben, um ihnen eine freie Lebensgestaltung zu ermöglichen. Gelingt uns das, könnte Deutschland für sehr viele Menschen zur neuen Heimat werden, fernab ihrer alten, verlorenen Heimat. Jetzt müsse sich zeigen, ob unsere europäischen Werte mehr seien als ein „Wasserfall voll Phrasen“, fasste Heribert Prantl diese Aufgabe in der Süddeutschen Zeitung zusammen. Begreifen wir es als Chance für die Zivilgesellschaft, dieses Europa so zu verändern, wie wir es uns vorstellen! Indem wir anderen eine Heimat bieten, ermöglichen wir auch uns in Europa eine Heimat. Vergessen dürfen wir dabei nicht, dass die Ankommenden auch Europa eine Zukunft bieten, weil diese mit einer schrumpfenden Bevölkerung nicht zu meistern sein wird. Die neuen Europäer werden, wenn sie hier ihr Zuhause finden, die europäischen Werte höher halten, als viele es erwarten.
Heimat ist die schönste Utopie
Auch wenn immer wieder betont wird, dass es sich bei der gegenwärtigen Situation um eine gesamteuropäische Herausforderung handelt, könnte der Umgang mit Geflüchteten in Europa unterschiedlicher nicht sein. Großbritannien wehrte sich lange gegen die Aufnahme von Geflüchteten, die östlichen Länder blockieren bislang die Vorschläge einer gerechten europäischen Verteilung. Besonders Deutschland hat sich jahrelang für das Dublin-System stark gemacht, das die Verantwortung für die Geflüchteten den südlichen Ländern überließ. Dasselbe Deutschland ruft jetzt nach Solidarität. Es ist viel die Rede davon, eine Flüchtlingskultur zu entwickeln. Ich kann mir kein Land vorstellen, das hierin vorbildlich sein könnte. Genau deshalb brauchen wir einen europäischen, zivilgesellschaftlichen Impuls, um eine europäische Antwort auf diese Herausforderung zu finden. Dabei müssen wir auch jene Menschen einbeziehen, die Ängste hegen, wenn wir sie nicht an das rückwärtsgewandte Europa verlieren wollen. Die Geflüchteten selbst geben die Richtung vor: Sie erkämpfen sich ihren Weg in Richtung Sicherheit und Freiheit. Europa ist für sie Verheißung.
Zugleich wird mit diesen Entwicklungen die Idee eines postnationalen Europa greifbar. Der österreichische Schriftsteller Robert Menasse veröffentlichte 2014 eine Essaysammlung mit dem Titel Heimat ist die schönste Utopie. Auf dem Klappentext ist zu lesen: „Nation ist Fiktion – Heimat ist ein Menschenrecht.“ Die Utopie eines postnationalen Europas ermöglicht einen neuen Begriff von Heimat. Klassischerweise wird der Begriff mit Bezug auf eine Region und besonders das eigene Land sowie heimische Werte und Bräuche definiert: Für viele ist Deutschland oder Berlin Heimat.
Die von Menasse und meiner Organisation „European Alternatives“ vorgeschlagene Neudefinition des Heimatbegriffs geht in eine andere Richtung: Wenn wir Europa als Heimat etablieren wollen, müssen wir uns von der nationalstaatlichen Ordnung lösen und das Integrationsprojekt Europa konsequent weiterdenken. Deshalb hat Menasse Recht, wenn er schreibt, dass „nachhaltiger Friede in Europa nicht durch Friedensverträge zwischen Nationen hergestellt werden, sondern nur durch eine Überwindung des Nationalismus, das heißt, durch ein Zurückdrängen der Macht der Nationalstaaten, durch eine Politik, die die Nationen zwingt, immer mehr Souveränitätsrechte an supranationale Institutionen abzugeben, bis die Nationen schließlich absterben.“
Ich will eine Heimat haben, die nicht ausgrenzt
Die Flüchtlingsbewegung ist die Bewegung des 21. Jahrhunderts, sagte die amerikanische Bürgerrechtlerin Angela Davis, als sie im Frühjahr in Berlin zu Gast bei Geflüchteten war. Sie könnte Recht haben – vorausgesetzt, wir schließen uns dieser Bewegung an und bauen ein postnationales Europa auf. Bereits Hannah Arendt plädierte 1943 in ihrem Essay Wir Flüchtlinge dafür, dass Einwanderer sich nicht der Assimilation preisgeben sollten. Die Überwindung nationalstaatlicher Zugehörigkeiten und die Schaffung neuer Identifikationsmotive – quasi als ein neu aufgeladenes europäisches Narrativ der Einheit in Vielfalt – erlaubt den schon Dagewesenen wie den Ankömmlingen in der neuen Heimat, den Anspruch auf Assimilation abzuwenden. Dies wäre eine echte Alternative zum Klein-Klein der einzelnen Nationalstaaten in Europa – und zugleich eine Vision für eine fortschrittliche, vorausschauende Fortführung des europäischen Integrationsprojekts.
Ich will eine Heimat haben, die nicht ausgrenzt. Diese Heimat darf nicht das Ausgrenzen anderer an ihren Grenzen in Kauf nehmen.