Heimat ist, wenn alle Kinder Schuhe haben
Vor kurzem veröffentlichte ein ehemaliger österreichischer Berufsdiplomat im Standard einen Gastkommentar mit dem Titel „Weniger Kopftuch, weniger Überfremdungsangst“. Die in Wien erscheinende Zeitung verortet sich selbst in der liberalen linken Mitte. Die zentrale These des Artikels: Wenn das Kopftuch „aus der Öffentlichkeit verschwinden“ würde, fiele „die Integration von Asylsuchenden viel leichter“. Am Anfang seines Kommentars zeigt der Autor Verständnis für die „Globalisierungsverlierer“ in der Gesellschaft, um gleich darauf zu konstatieren, dass der Hijab, die von Musliminnen getragene Kopfhaarbedeckung, der „kulturellen Tradition Europas“ zutiefst widerspräche. Am Ende des Textes trumpft er dann mit unumstößlichen Wahrheiten auf: Musliminnen und Muslime würden die „hiesige Kultur als minderwertig ablehnen“, weshalb „die Sorge vor einer kulturellen Überfremdung sehr wohl nachvollziehbar“ sei. Schließlich müssten „auch die vielen Menschen angesprochen werden, die sich um die kulturelle Überfremdung ihrer Heimat Sorgen machen“. Seine positive Prognose lautet immerhin, dass eine „europäische Interpretation des Islam sich auch in der Kleidung“ durchsetzen und damit „der Eindruck der Überfremdung schwinden“ werde.
Die echten Patrioten helfen am Westbahnhof
Für so manchen Leser ist das schwerer Tobak. Dennoch gibt der Autor, der sich seines rassistischen Gedankenguts vermutlich gar nicht bewusst ist, in diesen kurzen Zeilen durchaus verbreitete Meinungen von sich. Wie hätte er es mit solchen Ansichten sonst in eine „liberale“ Tageszeitung schaffen können?
Wenige Tage zuvor hatte die Freiheitliche Partei (FPÖ) ihren Wahlkampfauftakt in Oberösterreich gefeiert. Die Schlusssequenz auf der Bühne sah aus wie gewohnt: Parteikader schwenkten überdimensional große, rot-weiß-rote Fahnen, um die Botschaft zu vermitteln „Wir sind die wahren Patrioten“. Auf einem Wahlplakat der Freiheitlichen prangte die Losung: „Asylchaos und Islamisierung. So kann’s nicht weitergehen“. Einen Tag später schrieb ein Journalist auf Facebook, dass er die „echten Patrioten“ nicht beim Wahlkampfauftakt der FPÖ, sondern am Wiener Westbahnhof gesehen habe. Die echten Patrioten, das waren für ihn die Menschen, die bedürftigen Flüchtlingen Essen reichten und damit ein Österreich der Solidarität präsentierten. In diesem Sinne postete Robert Misik, der linke Pop-Intellektuelle Österreichs, auf seinem Facebook-Profil eine Aussage des Podemos-Anführers Pablo Iglesias: „Patriotismus bedroht niemanden, weil wirkliche Patrioten dann stolz auf ihr Land sind, wenn sie sehen, dass alle Kinder – egal woher sie kommen – in saubere Schulen gehen können, und das in ordentlichen Kleidern, mit vollem Magen und mit Schuhen an ihren Füßen.“
»Sie werden nie ein Österreicher sein«
Unterschiedlicher als in dem Standard-Kommentar und in dem Facebook-Beitrag von Misik können die Sichtweisen kaum sein. Im Zentrum stehen zwei eng miteinander verwobene Begriffe: die Heimat und das Patriotische. Für den ehemaligen Diplomaten sorgen sich die einheimischen Globalisierungsverlierer vor „kultureller Überfremdung ihrer Heimat“ – kein Zeichen von Aufgeschlossenheit und großem Herzen weit und breit. Das Iglesias-Zitat hingegen legt nahe, dass Patriotismus sich erst in Solidarität und Offenheit gegenüber allen Menschen zeigt.
Ich erinnere mich an eine Episode nach den Anschlägen vom 11. September 2001, als sich bei einer Veranstaltung einer katholischen Männerbewegung ein junger Mann im Publikum mit den Worten meldete „Ich als österreichischer Muslim“, und dann sein Statement fortführte. Daraufhin stand ein älterer Herr auf und entgegnete ihm: „Schauen Sie doch in den Spiegel. Sie sind doch kein Österreicher und werden auch nie einer sein.“ Auch hier prallten zwei verschiedene Verständnisse von Heimat aufeinander. Auf der einen Seite steht ein biologisch-rassischer Ansatz, wonach Personen mit dunklerer Hautfarbe und einer von der Mehrheit abweichenden Religionszugehörigkeit niemals Teil des österreichischen „Wir“ werden können. Und auf der anderen Seite gibt es den inklusiven Ansatz, demzufolge die nationale Identität nicht als ausgrenzend und abgeschlossen, sondern als offen und fließend definiert werden muss: Im Sinne einer Bindestrich-Identität kann das Österreichisch-Sein mit dem Muslimisch-Sein verbunden werden, ohne dass darin ein Widerspruch besteht.
Die Open Society Foundation hat im Jahr 2009 eine Studie über Muslime in elf europäischen Hauptstädten durchgeführt. Demnach identifizieren sich mehr Muslime als Nicht-Muslime mit der nationalen Identität ihrer „neuen Heimat“. Es mag sein, dass dieses Ergebnis einem gewissen Anpassungsdruck geschuldet ist, dem die Befragten im Alltag ausgesetzt sind – dennoch veranschaulicht die Studie, dass das Heimatgefühl nicht zwingend mit Ethnizität oder Geburtsort gleichzusetzen ist.
Letztlich bleibt es für die Mehrheitsgesellschaft aber zweitrangig, wie die Angehörigen von Minderheiten Heimat definieren, solange der Diskurs über Heimat in der breiten Öffentlichkeit durch Vertreter der Mehrheit und ihre ausgrenzenden Sichtweisen geprägt wird. Der in der Mehrheitsgesellschaft verbreitete nativistische, rassistische Begriff von Heimat begreift Kulturen als in sich geschlossen und unveränderlich. Doch ein solches Verständnis von Kultur ist nur ein Phantasma. Denn die Welt war und ist ständig in Bewegung – und mit ihr sind es die Sprachen, Religionen und Kulturen. Panta rhei – nichts bleibt, und alles ist im Fluss – wusste schon der griechische Philosoph Heraklit von Ephesos. So entspricht das Deutsch heutiger deutscher Nationalisten nicht dem Deutsch der Nationalsozialisten vor 70 Jahren, und dieses wiederum hatte nicht mehr viel gemein mit der Sprache der Germanen in der Antike.
»Wertedebatten« mit diffusen Begriffen
Mit ihrem Beharren auf angebliche nationale Kontinuitäten argumentieren die Nationalisten nicht nur ahistorisch, sondern sie verweigern auch die Sicht auf die heutige Realität. Diese ist von einer Vielfalt an religiösen, weltanschaulichen, ethnischen und sexuellen Identitäten gekennzeichnet. Die politische Gemeinschaft beruht nicht mehr – wie einst angenommen – auf sprachlicher oder religiöser Einheit. Nicht von ungefähr bestehen rechte Diskurse aus „Wertedebatten“. Diese Wertedebatten basieren auf diffusen Begriffen, die kaum greifbar sind und sich besonders leicht für politische Ausgrenzung instrumentalisieren lassen. In der Leitkultur-Debatte etwa geht es eben nicht um den Grundkonsens einer Gesellschaft über demokratische Verfahrensweisen und verfasste Rechte für alle, sondern um die Forderung nach kultureller Assimilation, die bloß im Kleid der Integration daherkommt.
Derzeit wird ein öffentlicher Kampf um die Anerkennung von Einwanderern und ihren Nachkommen als Teil der Gesellschaft ausgetragen. Dass Bundeskanzlerin Angela Merkel eindeutig formuliert hat, der Islam gehöre zu Deutschland, war ein Fortschritt und ein Zeichen der Anerkennung für die Muslime. Zugleich hat diese Aussage der Regierungschefin nur begrenzten Wert, solange die Anerkennung des Islams als Religionsgemeinschaft nach wie vor auf der Strecke bleibt. Die Dominanz der christlichen Kirchen und die asymmetrische Behandlung der dritten Generation Zugewanderter setzen sich fort.
Der Heimatbegriff und das Patriotische werden mehrheitlich erst dann offen gedeutet werden können, wenn die Machtressourcen so verteilt werden, dass auch neu Angekommene an der Gesellschaft teilhaben, für sich sprechen und ihre Sicht auf Heimat präsentieren können. Damit würde die diskursive Konstruktion nationaler Identität hybrider und weniger von der Eindeutigkeit beherrscht, die sich Teile der Mehrheitsgesellschaft herbeisehnen. In einer solchen Gesellschaft wäre kein Platz für totalitäre Züge, wie sie in der Forderung nach einer kopftuchfreien Zone zum Ausdruck kommen. Und wir würden uns einem Konzept von Heimat annähern, wie es Pablo Iglesias fordert: Patriotismus als Stolz auf ein Land, in dem gleiche Chancen für alle garantiert sind, unabhängig von Geschlecht, Religion oder anderen Zugehörigkeiten.