Her Majesty’s Opposition?
Seit sich die FDP im Jahr 1982 der CDU zuwandte, standen sich faktisch zwei politische Blöcke gegenüber: ein konservativ-liberaler und ein sozialdemokratisch-ökologischer. Die Abneigung vieler Sozialdemokraten gegenüber der FDP war – besonders am Anfang – mit Händen zu greifen, während die Union bemüht war, die FDP möglichst fest an sich zu binden, um die eigene strategische Mehrheit zu sichern. Mit dem Auftauchen der Grünen war für die FDP die Möglichkeit dahin, abwechselnd mit Union und SPD Mehrheiten zu bilden. Folglich band sie sich immer fester an die CDU/CSU, sowohl in ihrer taktischen und strategischen Ausrichtung als letztlich auch in ihrer inhaltlichen Positionierung. Nachdem Hans-Dietrich Genscher aus dem Kabinett ausgeschieden war, spielte die FDP gegenüber Helmut Kohl und der CDU kaum noch eine sichtbare und eigenständige Rolle.
Gleichzeitig wandte sich der Zeitgeist von der FDP ab: In den siebziger Jahren noch als gesellschaftliche Reformkraft und politisches Korrektiv zur Mitte hin wahrgenommen, löste sich das Ansehen der FDP beim reformorientierten Bürgertum und bei den Journalisten in den achtziger Jahren auf wie Zucker im Tee. Der Mangel an Eigenständigkeit und Profil führte dazu, dass die FDP in den neunziger Jahren aus einem Landtag nach dem anderen flog und um ihr politisches Überleben bangen musste.
Auf der anderen Seite lehnten die Grünen jahrelang jegliche Regierungsbeteiligung per se ab und die SPD fand die Vorstellung einer rot-grünen Koalition zunächst unerträglich. Erst als sich diese ablehnenden Haltungen auflösten, entstand für die SPD im Bund wieder eine Machtperspektive, die im Jahr 1998 Wirklichkeit wurde. Trotz ihres schlechten Ergebnisses bei den Bundestagswahlen 2002 erholte sich die FDP unter dem Vorsitz von Guido Westerwelle wieder Schritt für Schritt. Mit teilweise spektakulären Ergebnissen kehrte sie in die Landtage zurück, sie beteiligte sich an einer Reihe von Landesregierungen und fuhr zuletzt ein sehr gutes Bundestagswahlergebnis ein, das mit einer starken personellen Erneuerung der Bundestagsfraktion einherging.
Die Blockkonfrontation ist Geschichte
Das Gegeneinander von Rot-Grün und Schwarz-Gelb hat die politische Szene und die Medien viele Jahre lang geprägt. „Wir oder die“ hieß es auf beiden Seiten. Man diffamierte den Gegner und versuchte, im Streit der Lager mit Unterstellungen und Demagogie Vorteile zu erzielen. Anders gesagt: Da sich auf Bundesebene alle Parteien auf jeweils eine Koalitionsperspektive festgelegt hatten, konnte hemmungslos geholzt werden.
Der Beginn der Großen Koalition markiert das Ende der Blockkonfrontation. Schwarz und Rot bilden gemeinsam die Regierung, Gelb und Grün finden sich in der Opposition. Es ist Zeit für neues Denken, Zeit für einen anderen Umgang miteinander. Was heißt das für die FDP?
Erstens kann sie noch deutlicher als bisher inhaltliche Alternativen zum Regierungshandeln aufzeigen. Vor einigen Jahren fragte mich ein britischer Journalist, warum es in Deutschland keine Partei gebe, die sich mit voller Überzeugung für die Marktwirtschaft engagiere. Selbst die FDP wirke auf ihn eher moderat, alle anderen Parteien empfände er hingegen als staatsdirigistisch. Vielleicht zeigt dieser Blick von außen, dass im Bereich der marktwirtschaftlichen Programmatik für eine liberale Partei noch viel möglich ist. Seit dem Ausscheiden aus der Regierung hat sich die FDP in diesem Punkt in eine erfreulich deutliche Richtung entwickelt. Die Freien Demokraten können aus meiner Sicht aber noch einiges an Deutlichkeit und Klarheit zulegen. Zu oft argumentieren wir zu defensiv. Liberale Wirtschaftspolitik bringt Arbeitsplätze und Wohlstand! Das haben wir Deutschen in unserer eigenen Geschichte erlebt, und das sehen wir bei unseren erfolgreichen europäischen Partnern. Allerdings sind einige zentrale Elemente liberaler Wirtschaftspolitik zu Kampfbegriffen umgemünzt worden: Wettbewerb wird nicht als zentraler Antreiber des Fortschritts gesehen, sondern als Wegbereiter einer Ellbogenmentalität des Stärkeren gegenüber dem Schwachen diffamiert. Freier Handel wird mit der Ausbeutung der Dritten Welt verbunden und nicht mehr als Quelle des Wohlstandes für alle Beteiligten verstanden. Für die Freien Demokraten liegt eine große Chance darin, die Prinzipien der Marktwirtschaft noch deutlicher zu vertreten als in der Vergangenheit. Die Erfolglosigkeit der konkurrierenden Rezepte wird uns Recht geben.
Die FDP redet von Exzellenz
Alle reden von Forschung – die FDP hat die Chance, von Exzellenz zu sprechen. Liberale können laut und vernehmbar die Bildung von wissenschaftlichen Eliten fordern. Jeder weiß, dass Spitzenforschung nur mit Spitzenforschern möglich ist. Aber alle anderen Parteien sind mehr oder weniger anti-elitären Ideen verpflichtet. Nur wenn Deutschland die Unterstützung seiner wissenschaftlichen Eliten und die Herausbildung neuer Spitzenkräfte gelingt, können wir auf dem Weltmarkt bestehen und unseren Wohlstand erhalten. Die FDP muss hier antreiben, Anwältin des technologischen Fortschritts sein, innovative Forschung unterstützen und sich Bedenkenträgern entgegenstellen.
Es gibt viele weitere Bereiche, in denen die FDP Alternativmodelle zu den Lösungen der Großen Koalition auf den Tisch legen muss. Die Reform von Rente, Gesundheitssystem, Pflege und Arbeitslosenversicherung ist dabei der größte Brocken. Angesichts der demografischen Situation kennt im Grunde jeder die Notwendigkeiten. Es ist vollkommen ausgeschlossen, dass immer weniger Arbeitnehmer immer mehr Bezieher von Sozialtransfers finanzieren. In wohl keinem anderen Politikbereich wird die Bevölkerung aus Angst vor der Reaktion der Wähler so getäuscht wie in diesem. Hier hat die FDP die Chance, klar und deutlich auszusprechen, was sowieso alle wissen: Jeder wird sich in Zukunft stärker um sich selbst kümmern müssen. Die Solidarität der Solidarsysteme ist überstrapaziert worden; wer sie erhalten will, muss sie auf das begrenzen, was sie leisten können. Viel mehr als eine Grundabsicherung wird das in ein paar Jahren nicht mehr sein.
Wo die Freiheit des Einzelnen bewacht wird
Auch im Bereich der bürgerlichen Freiheiten tun sich für die FDP ganz neue Profilierungschancen auf. Die Koalition, im Bereich der Innenpolitik verbunden mit den Namen Schily, Schäuble und Beckstein, wird wenig Rücksicht auf das Freiheitsempfinden selbstbewusster Bürger nehmen. Unter der gefühlten oder realen Bedrohung durch Terroristen wird die Große Koalition noch so manches Freiheitsrecht des Bürgers zu Grabe tragen. Hier ist es der FDP in den vergangenen zwei Jahren gelungen, verlorenes Terrain zurück zu gewinnen. Sie wird als Wächterin der Freiheit des Einzelnen dringend gebraucht.
Die klare Formulierung politischer Alternativen zu den Lösungen der Großen Koalition wird die Hauptaufgabe der FDP in den nächsten Jahren sein. Im Gegensatz zu den vergangenen beiden Legislaturperioden, in denen die FDP als kleinere der Oppositionsparteien kaum wahrgenommen wurde, lässt sich liberale Politik derzeit einer breiteren Öffentlichkeit argumentativ näher bringen.
Zweitens ist ein Zuwachs an Wählerstimmen möglich. Die Ergebnisse der Liberal Democrats in Großbritannien und anderer europäischer Partnerparteien der FDP zeigen, dass liberale Politik deutlich zweistellige Ergebnisse wert sein kann. Bei professionellen Beobachtern, aber auch bei den Bürgern, gibt es ein festes Denkschema: Acht Prozent seien für die FDP ein gutes Ergebnis. Diese Denkblockade muss die FDP überwinden. Wo zwei sich kaum unterscheidende Volksparteien die Regierung bilden, liegt das reformorientierte Wählerpotenzial deutlich jenseits von 10 Prozent der Stimmen. Alle Studien zeigen immer wieder: Mehr als ein Viertel der Wähler kann sich vorstellen, die FDP zu wählen.
Künftig regelmäßig über 10 Prozent
Die Große Koalition bietet die ideale Voraussetzung dafür, dieses Potenzial besser auszuschöpfen als bisher. Bei SPD und Union werden die Gemeinsamkeiten das öffentliche Bild prägen. Der zentristische Flügel der SPD und der eher sozialdemokratisch denkende Teil der Union bilden die Schnittmenge zwischen den Koalitionspartnern. Diese Flügel werden die Politik der Koalition sichtbar gestalten. Weder der linke Teil der SPD noch der marktorientierte Teil der Union werden eine Rolle spielen. Das lässt Raum für andere Parteien. Auf der linken Seite wird die PDS/Linkspartei Punkte machen wollen. Die Grünen werden dasselbe versuchen, aber vermutlich wird ihr Profil eher diffus bleiben.
Die FDP kann mit einer klaren Orientierung auf Marktwirtschaft, Bildung, Forschung und Technologie und mit einer modernen, weltoffenen Grundausrichtung große Teile der bürgerlichen Mitte der Gesellschaft erreichen. In den vergangenen Jahren hat die FDP immer wieder Ergebnisse über 9 Prozent eingefahren: in Nordrhein-Westfalen 2001, in Berlin 2001 und bei den Bundestagswahlen 2005. Ihr bestes Ergebnis erzielte die FDP mit 13,3 Prozent bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt im Jahr 2002. Ziel der FDP sollte es sein, sich dauerhaft als eine Partei mit Wahlergebnissen über 10 Prozent im Bewusstsein der Wähler zu etablieren. Nur wenn sie diese Größenordnung erreicht, wird sie künftig Zweierkoalitionen eingehen können.
Die FDP kann sich drittens vollkommen neue Optionen für Koalitionen eröffnen. Nach der Bundestagswahl wurden neue Varianten nur diskutiert, jetzt kommt es für die FDP darauf an, durch ihr Handeln Unabhängigkeit zu zeigen. Schaut man sich inhaltliche Schnittmengen auf Landesebene an, dann sind Koalitionen mit der Union nicht in allen Bundesländern von vornherein zwingend.
Die FDP regiert in Rheinland-Pfalz seit vielen Jahren mit der SPD. Diese sozialdemokratisch-liberale Koalition ist sehr erfolgreich: Rheinland-Pfalz liegt beim Wirtschaftswachstum, bei der Entwicklung der Infrastruktur oder bei Investitionen in der Spitzengruppe der Bundesländer und bei der Arbeitslosigkeit ganz am Ende. Die Kombination aus SPD und FDP hat das Land nach vorne gebracht. In Baden-Württemberg oder Niedersachsen hingegen ist die FDP gemeinsam mit der CDU erfolgreich. Offensichtlich ist hier mehr gemeinsame Politik mit der CDU als mit den Sozialdemokraten möglich.
Als man das Geld in Bonn bestellen konnte
Als Berliner ist mein Auge natürlich vor allem auf die Politik in der Hauptstadt gerichtet: Die SPD orientiert sich in ihrem Regierungshandeln pragmatisch an der Realität der Stadt, während man bei der CDU oft das Gefühl hat, sie lebe noch in seligen West-Berliner Zeiten, als man das Geld in Bonn bestellen konnte. Andererseits gibt es bei der Berliner SPD so manche überkommene schulpolitische Vorstellung, man hört das Echo von Diskussionen aus den späten siebziger Jahren. Hier wiederum ist die Hauptstadtunion wesentlich moderner.
Kurzum: Der große Druck ausschließlich in Richtung der CDU besteht für die FDP nicht mehr, seit Frau Merkel mit den Stimmen der SPD zur Kanzlerin gewählt wurde. Die FDP kann sich frei entscheiden. Das sollte sie auch tun, und zwar nach inhaltlichen Gesichtspunkten und gemäß der Situation im jeweiligen Land: Welche Themen sind auf der politischen Agenda wichtig? Was muss dringend nach vorne gebracht werden?
In den letzten Jahren wurde in der FDP viel über „Unabhängigkeitsstrategien“ geredet. Unabhängigkeit erwirbt man sich durch eigenständiges Handeln. Und je öfter die FDP ihre Koalitionsentscheidungen von der Sache abhängig macht, umso mehr werden sich die Bürger an eine unabhängige liberale Partei in der Mitte des politischen Spektrums gewöhnen. Und sie genau deswegen wählen. Das stärkt im Übrigen das gesamte politische System, denn aus meiner Sicht ist die Lehre aus der Bundestagswahl 2005, dass die Parteien untereinander koalitionsfähig sein sollten. In einem Fünf-Parteiensystem ist flexibleres Denken und Handeln gefragt.
Meine große Hoffnung ist, dass allein die vage Aussicht, man könnte eines Tages mit dem politischen Wettbewerber am Kabinettstisch sitzen, den Ton der Auseinandersetzung versachlicht. Demokratie hat schließlich etwas mit dem Wettbewerb um die besten Ideen und nicht um die originellsten Beschimpfungen zu tun. Wenn ich mit Kollegen aus anderen europäischen Ländern unsere Situation erörtere, höre ich immer wieder: „Welcome to the club“. Was bei uns eine Neuentwicklung im Parteiensystem ist, ist dort längst politische Realität.
Viertens hat sich die FDP-Bundestagsfraktion personell stark erneuert. Und mit den neuen Gesichtern kommen neue Ideen. Nur noch eine Hand voll Kollegen hat der Fraktion schon angehört, als sie noch unter Helmut Kohl regierte. In der medialen Wahrnehmung ist von den neuen Kollegen allerdings nur Dirk Niebel in die erste Reihe gerückt. Die bekannten Gesichter sind nach wie vor die alten, was den falschen Eindruck entstehen lässt, in der FDP wäre insgesamt alles noch beim Alten. In Wahrheit sind in fast allen Bereichen inzwischen jüngere Kollegen in fachpolitische Schlüsselstellungen nachgerückt – etwa Otto Fricke als Vorsitzender des Haushaltsausschusses.
Die Große Koalition als Daily Soap
Je besser es der Bundestagsfraktion in dieser Legislaturperiode gelingt, neue Kollegen auch sichtbar nach vorne zu stellen, umso besser kann sie ihren politischen Anspruch als moderne Reformpartei darstellen. Jüngere Leute sind zwar nicht zwingend die besseren Reformer, aber ihr Drang ist größer, Dinge in Bewegung zu bringen. Die FDP muss in den nächsten vier Jahren die personelle Erneuerung, die faktisch schon stattgefunden hat, auch öffentlich wahrnehmbar darstellen.
Was heißt das in der Summe für die Rolle der FDP als größte Oppositionspartei? Sie ist „Her Majesty’s Opposition“, aber die Rolle als Antreiberin, als Angreiferin, als Alternative zur Regierungskoalition muss sie sich hart erarbeiten. Ein erfahrener Hauptstadtjournalist beschrieb mir gegenüber die medialen Möglichkeiten der Opposition in dieser Legislaturperiode so: „Die Medien werden sich genüsslich der Daily Soap namens Große Koalition widmen. Jede kleine Zwistigkeit im Kabinett wird das Publikum mit Genuss verfolgen. Die Äußerungen der letztlich einfluss- und machtlosen Opposition sind dagegen einfach langweilig.“
Die Linken erschlafft, die Grünen diffus
Dazu kommt noch das Problem der Opposition in der Koalition. Die Herren Ministerpräsidenten werden reichlich von ihren Profilierungsmöglichkeiten Gebrauch machen. Es geht ja nicht immer nur um das persönliche Profil, es kann im Interesse des Bundeslandes sein, sich eine Zustimmung im Bundesrat teuer zu erkaufen. Auch hier muss man nüchtern feststellen: Die Äußerung eines Ministerpräsidenten hat mehr mit der Verwirklichung von realer Politik zu tun, als die Äußerung eines fachpolitischen Sprechers der Opposition.
Dennoch gibt es große Chancen für die Liberalen, denn der Wettbewerb in der Opposition hält sich in Grenzen. Die PDS/Linkspartei erscheint nach ihrem Einzug in den Bundestag seltsam erschlafft. Vielleicht sind Lafontaine und Gysi doch eher müde Recken als muntere Kämpfer für die sozialistische Sache. Der Rest der Fraktion gibt sich als bunte Truppe. Bei manchen ihrer Auftritte fühle ich mich an Politaktivisten aus meiner Universitätszeit erinnert: Rhetorisch mäßig und inhaltlich kaum ernst zu nehmen.
Die Grünen wiederum wirken merkwürdig diffus. Sie sind Nicht-Mehr-Regierungspartei – aber Noch-Nicht-Oppositionspartei. Das höchste Amt in der Exekutive, das sie zurzeit besetzen, ist das des Oberbürgermeisters von Freiburg im Breisgau. Manchmal habe ich den Eindruck, dass sie selbst noch gar nicht gemerkt haben, wie bedeutungslos sie geworden sind. Der Streit um die Positionierung im Parteienspektrum wird nicht auf sich warten lassen.
Auch im Wettbewerb innerhalb der Opposition hat die FDP also alle Chancen. Wir werden sie zu nutzen wissen.