Herr Kindler von den Grünen - »Restaurant Seerose«
Am bereits etwas späteren Montagabend betritt Sven-Christian Kindler in Jeans und schwarzen Turnschuhen die Seerose in Berlin-Kreuzberg. Er kommt frisch von der Verleihung des Politikawards, bei der er die Auszeichnung als „Rising Star“ der deutschen Politik erhielt. Das Restaurant liegt unweit von Kindlers Wohngemeinschaft. Kindler ist Jahrgang 1985 und damit der jüngste grüne Abgeordnete im Bundestag.
Die Seerose liegt am Bergmannkiez. Es ist ein vegetarisches Restaurant, in dem auch vegane Speisen angeboten werden. Ganz im Sinne Sven-Christian Kindlers: Der gebürtige Hannoveraner ist seit seiner Zeit bei der Grünen Jugend Vegetarier. „Diese Zeit hat mich sehr geprägt“, sagt er. Wir gehen zusammen zum reichhaltigen Buffet. Er esse häufiger hier, berichtet Kindler. Das Essen sei lecker, günstig – und es gebe alles auch zum Mitnehmen. Das ist auch den Besitzern des Restaurants, dem Ehepaar Zadeh-Tenorassani wichtig. Bei der Eröffnung haben sie mit zahlreichen Gästen darüber gesprochen, worauf es ihnen ankomme. Vor allem, dass die Preise bezahlbar sind. Und wenn es möglich ist, kaufen die Wirtsleute Bio-Produkte ein.
Bevor man die Speise auswählt, entscheidet man sich für eine Tellergröße. Je nachdem ob man einen kleinen (4,50 Euro), normalen (6 Euro) oder großen (9 Euro) Teller nimmt, kann man sich zwei, drei oder vier verschiedene Gerichte aussuchen. Die Wirte der Seerose kamen vor mehr als 30 Jahren aus dem Iran nach Deutschland, doch das Essen ist nicht nur iranisch, sondern auch südeuropäisch und orientalisch. Das große Angebot reicht von Auberginen- und Kichererbsenauflauf über Bandnudeln mit Meeresfrüchten bis zum griechischen Musaka. Wir entscheiden uns für die „normale“ Größe und nehmen zu den Speisen etwas Salat mit leckerem Senf-Honig-Dressing.
Wenn Sven-Christian Kindler spricht, gestikuliert er wie bei seinen Reden im Bundestag. Man spürt gleich zu Beginn, dass ihm die Dinge, über die er redet, wichtig sind. Gerade finden im Bundestag die Haushaltsberatungen statt, und der Rechnungsprüfungsausschuss, in dem Kindler Mitglied ist, tagt ebenfalls. Drei Reden müsse er im Plenum halten – „aber das ist kein Problem, die eine habe ich schon fast fertig“, fügt er entspannt hinzu. Im Haushaltsausschuss sitze er, „weil das ein Querschnittsausschuss ist, bei dem es um alle Themen geht“. Zugute komme ihm, dass er schon immer gerne mit Zahlen hantierte. Sein duales Studium der Betriebswirtschaft bei Bosch Rexroth Pneumatics habe ihm viele wichtige Grundlagen für die Arbeit im Haushaltsausschuss mit auf den Weg gegeben. Auch seine Stelle im Unternehmenscontrolling nach dem Studium sei für ihn sehr lehrreich gewesen, berichtet er, wenngleich BWL bisweilen „sehr dogmatisch“ sei. Denn eigentlich ist Kindler „gegen die zunehmende Ökonomisierung der Gesellschaft“. Es sei trotzdem eine gute Zeit gewesen, auch weil „die Stimmung auf der Arbeit gut gewesen ist“.
Eine prima Atmosphäre herrschte auch beim jüngsten Parteitag der Grünen. Sven-Christian Kindler ist zufrieden mit der Gemütslage bei den Grünen knapp ein Jahr vor der Wahl. Die Basis stehe hinter den per Mitgliederentscheid gewählten Spitzenkandidaten, und inhaltlich habe die Partei ihr soziales Profil geschärft. Katrin Göring-Eckardt sei gerade auch deshalb gewählt worden, „weil es einen Wunsch nach Erneuerung gibt und sie in ihrer Bewerbung bei der Sozialpolitik Akzente gesetzt hat“. Für Kindler ist die soziale Frage im 21. Jahrhundert eng verknüpft mit der ökologischen.
Ich frage ihn, was er oft gefragt wird: Ob er denn ernst genommen werde angesichts seines Alters. „Sicherlich habe ich großen Respekt vor der Aufgabe gehabt, schließlich geht es im Haushalt um fast 300 Milliarden Euro“, sagt Kindler. „Ich habe mir nicht vorstellen können, wie krass das wird.“ Doch sein Alter spiele wirklich keine Rolle. Es gehe vielmehr darum, „was du kannst und machst“. Die vergangenen drei Jahre seien äußerst intensiv gewesen, vor allem aufgrund der europäischen Wirtschafts- und Finanzkrise. So auch in dieser Woche. Im Bundestag steht die Frage nach einem möglichen Schuldenschnitt für Griechenland im Mittelpunkt. Aus Kindlers Sicht käme der Schnitt jetzt etwas zu früh, zuvor müsse in dem krisengeschüttelten Land noch dringend die Steuerverwaltung reformiert werden. Aber früher oder später sei der Schnitt unausweichlich.
Ist Schwarz-Grün ein realistisches Szenario? Kindler hält dergleichen Spekulationen für ein „Medienthema“. Für 2013 jedenfalls sei Schwarz-Grün keine Option. Plötzlich klingt der junge Politiker schon ziemlich wie die alten. Geschickt hat er sofort die passenden Antworten parat. Ihm persönlich gehe es um die soziale und ökologische Transformation hin zu einer nachhaltigen Gesellschaft. Genau deshalb müsse die Zukunft „Mitte links“ sein, und das gehe eben nur mit der SPD. Die Idee der Sozialdemokratie findet der bekennende IG-Metaller immer noch wichtig. Nur fehlt ihm ein wenig die Vision. Und man müsse sich „von dem ganzen Dritten Weg um Anthony Giddens und dem Schröder-Blair-Quatsch trennen“. Dafür brauche die SPD mehr Mut und eine klare Kante.
Es ist mittlerweile fast 22 Uhr. Das Restaurant leert sich. Erst jetzt hört man, dass im Hintergrund leise klassische Musik läuft, passend zu den vielen Gemälden im Restaurant. Die Wirtin sagt, ihr Mann sei sehr interessiert an Malerei und Musik.
Sven-Christian Kindler interessieren die sozialen Themen. Die heutige Ausgestaltung des Arbeitslosengeldes II hält er für nicht tragbar: „Die Sanktionen müssen weg. Und der Hartz IV-Satz ist zu niedrig.“ Was wolle man denn noch kürzen an dem, was ein Mensch als Existenzminimum brauche? Umso mehr freut es ihn, dass sich die Grünen auf ihrem jüngsten Parteitag für eine Erhöhung der Regelsätze ausgesprochen haben. Finanzieren will der Haushaltspolitiker das durch eine stärkere Besteuerung hoher Vermögen. Auch gegen einen Spitzensteuersatz von 53 Prozent hätte er nichts einzuwenden. In diesen Fragen sind ihm SPD und Grüne manchmal nicht radikal genug.
Ich will wissen, ob man als so junger Politiker nicht manchmal auch Angst habe, einen Teil seiner Jugend zu verpassen. Für Kindler scheint sich diese Frage nicht zu stellen. Seit er denke könne, sei er ein politischer Mensch. Er wolle die Gesellschaft verändern, auch wenn es manchmal frustrierend sei, wenn Dinge nicht klappen.
Die Chance zum Verändern scheint er zu haben. Kindler genießt innerhalb und außerhalb seiner Fraktion hohes Ansehen. Keine Frage, dass er 2013 erneut kandidieren wird. Ein Ziel in der nächsten Legislaturperiode sei, Zivilgesellschaft und Politik stärker zusammenzuführen. „Politik und Straße verbinden“, nennt Kindler das. Früher plante er gemeinsam mit anderen die Fahrten von seiner Heimatstadt Hannover zur Anti-Nazi-Demo in Dresden. Auch stand er als Mitglied der Grünen Jugend schon immer der Umweltbewegung sehr nahe und engagierte sich in zivilgesellschaftlichen Organisationen.
Sven-Christian Kindler hat also noch einiges vor. Das Wichtigste sei, im Jahr 2013 endlich „Merkels Hegemonie zu durchbrechen“. Er ist überzeugt: Das gelingt, man dürfe sich nur nicht allein auf technokratische Fragen konzentrieren. „Es braucht vor allem eine große gesellschaftliche Erzählung – wir müssen eine klare Alternative bieten.“