"Heute schon Genossen?"



Der Friedrichshain wird von einigen noch immer als als hipper Geheimtipp gehandelt, andere sehen in ihm bereits den legitimen Erben von Prenzlauer Berg und Mitte. Was hat Berlins kleinster Bezirk zu bieten?

Sobald die Sonne sich zeigt, sitzen auch schon mitten im Winter die ganz coolen Typen mit ihren Sonnenbrillen draußen vor dem Conmux an der Ecke Simon-Dach/Kopernikusstraße - die Heizstrahler machen′s möglich: Friedrichshain goes Après-Ski. Dass das Quartier früher einmal ein Arbeiterbezirk war, lässt sich heute nur noch an der hohen Arbeitslosenquote ablesen. Der Bezirk gilt neben dem benachbarten Kreuzberg, mit dem er zusammengelegt werden soll, als Armenhaus Berlins. Doch genau das macht ihn zum gelobten Land, nachdem Mitte und Prenzlauer Berg gründlich aufpoliert und touristisch erschlossen worden sind. Vergleichsweise billige Wohnungen ziehen zunehmend junge Leute an und der immer noch merkliche Restbestand ostalgischen Flairs in den Straßen garantiert einen hohen Kuschel-Faktor. Die neue Hippness spiegelt sich mittlerweile auch überdeutlich im Nachtleben wider.

Der Abend startet am U- und S-Bahnhof Warschauer Straße. Die Warschauer Brücke Richtung Norden überquerend, ragt linkerhand eine beeindruckende Kulisse auf. Neben den Gleisanlagen samt Ostbahnhof türmen sich am Horizont Hochhausblöcke, hinter denen der Fernsehturm hervorragt: Bei ordentlich schlechtem Wetter wähnt man sich in Gotham City. Direkt hinter der Brücke befinden sich auf der rechten Seite der Warschauer Straße mehrere Dönerbuden. Eine davon sei Fast-Food-Siebecks ans Herz gelegt: die Wunderlampe 1000 - Warschauerstraße 58a/59. Statt der üblichen Presspampe, werden dort richtige Fleischstücke gepfählt. Wer es etwas gediegener mag, kann in der Knorre speisen. Die Knorrpromenade war Anfang des Jahrhunderts der Versuch, eine Bürgerstrasse in Friedrichshain zu etablieren. Das Kunst- und Kulturhaus Knorre knüpft vom Interieur und der Speisekarte an diese Tradition an. Gutes Essen gibt es zwischen 8,50 und 30 Mark. Im Ballsaal haben vielfältige Lesungen, Liedermacher und Oldie-Nights Platz. Das Kleinkunstprogramm erfährt man auch telefonisch.

Mit dieser Grundlage im Bauch biegen wir nach ein paar hundert Metern rechts in die Kopernikusstraße ein, die ab der Simon-Dach-Straße in die Wühlischstraße übergeht. Dort befindet sich Die Tagung. Die Kneipe gehört zu den ältesten der "neuen" Lokale, die nach der Wende im Friedrichshain zunächst nur vereinzelt eröffnet wurden. Devotionalien der DDR säumen die Wände und auch die Getränke nehmen Bezug auf das Ambiente: "Heute schon Genossen?" - Roter-Oktober-Bier ist erhältlich aber gewöhnungsbedürftig, der Vorwärts-Cocktail (Gin, Wodka, Curacao; 10 Mark) dagegen hart und unbeugsam. Einen Tagescocktail gibt es für 7 Mark. Donnerstags, freitags und samstags steigt man im hinteren Bereich in den Cube Club hinab und zappelt mainstream zu siebziger und achtziger Sound. New Wave wird in den winzigen Kellerräumen immer wieder gerne aufgelegt. Die Donnerstage sind ab 21.00 Uhr Domäne der "Chaussee der Enthusiasten": Dann tragen die nach eigener Aussage "schönsten Schriftsteller" Berlins unter der Tagung ihre Texte vor - es darf gelacht werden. Der Eintrittspreis beträgt, wie auch am Wochenende, 5 Mark. Wer erst nach der Lesung kommt, kann umsonst bis in den Morgen tanzen.

Wieder ein Stück zurück liegt quer die Simon-Dach-Straße. Sie ist die eigentliche Kneipenmeile des Bezirks. Diese Prominenz beschert ihr viel Zulauf von Nicht-Friedrichshainern, während man in den anderen Ecken des Bezirks nach wie vor überwiegend Eingeborene und Zugezogene aus dem Kiez antrifft. Im Zehn vorne (in Anspielung auf die Bar des Raumschiffs Enterprise) treffen sich Trekkies und andere Space-Freaks. Donnerstags präsentiert der Laden junge DJs, sonntags werden ab 21.00 Uhr auf Großleinwand kultige Filme gezeigt. Im Hinterzimmer kann man sich heimisch in Schmuddelsofas einen Sticky reinziehen, Deep Space Nine Folgen glotzen oder jungen "Virtuosen" auf dem Klavier zuhören. Den Tagescocktail gibt′s für 8 Mark.
Der unbestritten szenigste Schuppen auf der Simon-Dach-Straße ist allerdings immer noch die Astro-Bar gegenüber. Im trashigen Ambiente zwischen abstrusen Spielzeugrobotern und Siebzigerjahre-Mobiliar versammelt sich das who is who des Friedrichshains. Hier legt auch Karel Duba auf, der es mit seiner immer wieder umgezogenen Wohnzimmerbar zu ein wenig Ruhm und in einige Zeitungsartikel gebracht hat. Doch sehen und gesehen werden ist unsere Sache natürlich nicht. Also ab in den unbekannten Friedrichshain jenseits der Simon-Dach-Straße.

Deren Fortführung nach Norden ist die Niederbarniemstrasse. In der Nummer 23 lockt mit einem auffällig guten Angebot das Mana Mana an Montagen mit einem Abendbuffet für 10 Mark. Cocktailnacht ist freitags, und die Klassiker Cuba Libre, Mojito und Caipirinha kosten dann nur 6 Mark.

Cocktails in angenehm ruhiger Atmosphäre kann man schon wenige hundert Meter weiter genießen: Auf dem Stück der Kopernikusstraße, das von der Warschauer Straße zur anderen Seite abzweigt, befindet sich das Trinity. Die sehr schöne Bar samt Mosaik, die dunkelroten Wände, die angenehme Beleuchtung und das jazzig-entspannte Musikprogramm garantieren ein gediegenes Chill-out. In den Sofas und Sesseln direkt hinter den riesigen Frontscheiben lässt es sich kommod bis zum Morgengrauen die Straße beobachten. Erwähnenswert ist auch die Happy-Hour für Spätaufsteher, von Sonntag bis Mittwoch gibt′s sämtliche Cocktails zwei Mark ermäßigt - und zwar zwischen Mitternacht und 02.00 Uhr. Am Wochenende wird regelmäßig von DJ′s aufgelegt.

Im Friedrichshainer Norden, jenseits der Achse Karl-Marx-/Frankfurter Allee, sind die Kneipen und Bars rarer gesät, als im Simon-Dach-Revier. Einer der Leuchttürme in dieser etwas stilleren Ecke sind die Tilsiter Lichtspiele, ein Treffpunkt mit charmanter Atmosphäre, in den man sich leicht verlieben kann. Dazu gehören orange Wände, alte Stühle, eine übersichtliche Karte, die auch zur späteren Stunde kleine und günstige Snacks bietet. Am Tilsomat 2000 kann neben Schokoriegeln auch einiges Skurriles gezogen werden, wie etwa Schraubenzieher oder Tampons. Das kleine Kino existierte bereits Mitte der 30er Jahre. Als Anfang der Sechziger das Kosmos an der Karl-Marx-Allee eröffnete, bedeutete das vorläufig das Aus. Verfallen und 1990 wiederentdeckt, wurden die Tilsiter Lichtspiele als Programmkino mit Kneipe von einem Verein neubelebt. Neben zwei wechselnden Titeln (auch OmU) werden manchmal auch Eigenproduktionen geboten (Eintritt 9 Mark, ermäßigt 7 Mark).

Weiter östlich, in der Rigaer- und der Schreinerstraße, sind die Kneipen und Bars wieder etwas dichter gesät. Die Ecke ist merklich durch die Reste der hiesigen Hausbesetzerszene geprägt, touristisch wurde noch nichts erschlossen. Der schönste Laden ist eindeutig der Weinsalon. Im kleinen Eingangsbereich mit Tresen wird es schnell etwas eng und auch der angrenzende Raum mit den bequemen Polstermöbeln ist meistens gut gefüllt. Die monströsen Sofas und Sessel sind heiß begehrte Mangelware. Mehr Platz ist hinten im großen Billardzimmer. Um den mit blutrotem Tuch bespannten Tisch herum ist meist zumindest noch Platz auf einem Stuhl. Auch wer sich nur zum Quatschen und Trinken niederlässt kann schnell mal zu einer Partie Pool aufgefordert werden. Die hohen Räume mit den Stuckdecken, samt Kronleuchter, Kachelofen und Weinregalen aus Holzkisten haben Wohnzimmercharakter. Dass sich viele der Gäste untereinander kennen, verstärkt die privatime Atmosphäre noch. Hier wird noch Kiez zelebriert, von Hauptstadt- und Metropolenhype á la "Neuer Mitte" in Mitte keine Spur. Mir san mir: Die Friedrichshainer genießen es auch, unter sich zu bleiben - ob sie nun aus Cottbus, Köln, Greifswald oder Regensburg kommen. /

Astro-Bar, Simon-Dach-Straße 40, 10245 Berlin
Conmux, Wühlischstraße/ Ecke Simon-Dach-Str., 10245 Berlin
Knorre, Konorrpromenade 2, 10245 Berlin, Tel. 030 / 29007077.
Mana Mana, Niederbarniemstraße 23, 10245 Berlin.
Die Tagung, Wühlischstraße 29, 10245 Berlin.
Tilsiter Lichtspiele, Richard-Sorge-Straße 25a, 10247 Berlin, Tel. 030 / 4268129.
Trinity, Kopernikusstraße 3, 10243 Berlin.
Weinsalon, Schreinerstraße, 10249 Berlin.
Zehn vorne, Simon-Dach-Straße, 10245 Berlin.
Die Simon-Dach-Straße kann auch im Internet besucht werden: www.simon-dach-strasse.de

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