Hinter den Kulissen der Macht
Das Bemerkenswerte vorneweg: Bruno Le Maire hat keine Memoiren geschrieben. Schließlich kandidierte der ehemalige französische Landwirtschaftsminister unter Nicolas Sarkozy am 29. November 2014 für den Vorsitz der Partei Union für eine Volksbewegung (UMP). Sein Buch beginnt vier Jahre zuvor im November 2010 mit der Umbildung des Kabinetts von Ministerpräsident François Fillon und endet im Mai 2012 mit der Niederlage Nicolas Sarkozys gegen François Hollande. Im Stil eines Tagebuchs erzählt er chronologisch von seiner Amtszeit als Landwirtschaftsminister – von den Verhandlungen zum Agrarbudget in Brüssel bis zu Frankreichs G20-Initiative zur Eindämmung von Nahrungsmittelspekulationen. Zugleich enthält Zeiten der Macht allgemeine Reflektionen über Politik, die Le Maire ebenso dicht wie temporeich vorträgt. Sein Auge für die Details des politischen Betriebs, ohne dabei den ordnenden Blick auf das Geschehen aufzugeben, seine bildreiche, aber nie überladene Sprache – all das macht die literarische Qualität des Buches aus.
Der Autor zeichnet das Bild eines Staates, der die Gestaltungsmacht über die eigene Geschichte zu verlieren droht – nicht an Brüssel, wie der Front National unterstellt, sondern an die Märkte: Immer häufiger geben Gläubiger, Investoren und Großkonzerne Takt und Richtung des Geschehens vor. Le Maire spricht von den „Nervenenden der Macht“, die inzwischen bei „Investitionen, Fonds, spekulativen Anlagen und virtuellen Käufen“ zusammenlaufen. Und diese Nervenenden, gibt er unumwunden zu, „entziehen sich unserer Kontrolle“. Das klingt erschreckend nach „marktkonformer Demokratie“ und erinnert an Wolfgang Streecks Schlussfolgerung, die Gläubiger der Staaten seien die zweite constituency neben den Bürgern geworden. Gewiss: Das ist alles nicht neu. Aber die entwaffnende Ehrlichkeit, mit der Le Maire diese Zusammenhänge beschreibt, ist erstaunlich.
Der Faktor Zeit
Im Verhältnis zwischen Politik und Märkten spielt Le Maire zufolge auch der Faktor Zeit eine wichtige Rolle. Beide Sphären ticken vollkommen unterschiedlich. Die Politik handelt in abgesteckten Intervallen, beispielsweise bei Kabinettssitzungen oder Treffen des Europäischen Rates. Natürlich gibt es Sondersitzungen und Krisentreffen diese verkürzen aber nur die Intervalle. Globale Märkte operieren hingegen kontinuierlich und ändern ihren Zustand fortlaufend. Sie reagieren deshalb ständig auf die kleinsten Erschütterungen im politischen Klima. Bei Bruno Le Maire manifestiert sich der Zusammenprall der unterschiedlichen Zeitregime in der Rastlosigkeit des internationalen Politikbetriebs, der dichten Taktung globaler Termine, um gerade noch so Schritt zu halten mit den sich überschlagenden Entwicklungen: „Meine Tage haben keinen Anfang und kein Ende mehr. Sie beginnen in irgendeinem Winkel der Erde und enden in einer anderen Zeitzone.“ In Krisenzeiten schrumpfen die Intervalle der politischen Standortbestimmung zusammen wie ein Luftballon.
Zumindest in Europa scheinen die Umrisse eines Auswegs erkennbar: Weil den Nationalstaaten die Gestaltungskraft wie Sand aus den Fingern rinnt, sei die Vertiefung der Europäischen Integration notwendig, um verloren gegangene Handlungsfähigkeit wiederzugewinnen, schreibt Bruno Le Maire. Allerdings schließt er im gleichen Atemzug aus, dass eine solche Politik verwirklicht werden kann. Es mangele der Politik an Mut und Visionen. Die politische Klasse selbst sei verantwortlich dafür, dass Europa weiter zurückfalle. Dabei sei die französische Gesellschaft nicht arm an Zukunftsentwürfen. Ohne Zweifel: Le Maires Analyse trifft im Kern auch auf die deutsche Europapolitik zu, der es gegenwärtig sowohl an Vorstellungskraft als auch an Mut für weitere substanzielle Integrationsschritte zu mangeln scheint.
Politischer Kontrollverlust
Im Ergebnis stehen Nationalstaaten, denen die Kontrolle über die eigene Entwicklung erkennbar entgleitet. In kaum einem Land lässt sich dieser Prozess so gut beobachten wie in Frankreich. Über das Amt des Präsidenten der Französischen Republik schreibt Bruno Le Maire: „Je größer die Macht, je höher die Erwartungen, umso stärker spürt man ihre Grenzen.“ Kaum ein demokratisch legitimierter Politiker genießt eine derartige Machtfülle wie der französische Präsident, trotzdem wird er den Erwartungen nicht mehr gerecht. Bruno Le Maire gibt Antworten auf die Frage, warum dies so ist: die Verflechtung in globale Märkte und internationale Zusammenhänge, mangelnder Mut, fehlende Visionen. Erschöpfend ist dieses Ursachenbündel sicher nicht, aber Le Maires Analyse hilft, die desolate politische Lage unseres Nachbarlandes zu verstehen. Man sollte es sich beim Lesen von Zeiten der Macht nicht allzu bequem machen, sondern Jürgen Habermas’ Warnung aus dem Mai dieses Jahres im Kopf behalten: Das europäische Projekt kann auch an den innenpolitischen Folgen einer Destabilisierung Frankreichs scheitern.
Bruno Le Maire, Zeiten der Macht: Hinter den Kulissen internationaler Politik, Reinbek: Rowohlt Verlag 2014, 352 Seiten, 22,95 Euro
(Diese Rezension ist am 12. Dezember 2014 als Online-Spezial-Beitrag der Berliner Republik erschienen.)