Hochschule als politischer Ort
Wir kämpfen nicht nur um das Recht, längere Zeit zu studieren und unsere Meinung stärker äußern zu können, das ist nur die halbe Sache. (...) Was hier in Berlin vor sich geht, ist ebenso wie in der Gesellschaft ein Konflikt, dessen Zentralgegenstand weder längeres Studium noch mehr Urlaub ist, sondern der Abbau oligarchischer Herrschaft und die Verwirklichung demokratischer Freiheit in allen gesellschaftlichen Bereichen."
Vieles hat sich verändert seit der Verabschiedung dieser Resolution auf einem teach-in an der Berliner Freien Universität im Sommer 1966. Sie war ein Fanal gewesen, indem in ihr der Rahmen der bisherigen Hochschulpolitik unter den Studierenden gesprengt worden war. Die Studentenbewegung hatte begonnen und in ihrem Gefolge eine zuvor nicht gekannte Politisierung der Jugend.
Heute haben nicht zuletzt die etablierten Parteien mit dem geringen Interesse von Jugendlichen an der herkömmlichen Politik zu kämpfen. Auch wenn junge Akademiker einen keineswegs repräsentativen Teil der Gesellschaft ausmachen, so spiegelt sich die Gesamtsituation doch am Zustand der innerhochschulischen Demokratie. Lag die Wahlbeteiligung bei Uni-Wahlen Ende der 60er Jahre oftmals über 60 Prozent, so sind heute 10-20 Prozent normal geworden. Es wäre zu einfach, als Grund dafür eine bloße Entpolitisierung der Jugendlichen anzuführen. Das Bild, welches etwa die aktuelle Shell-Studie zeichnet, ist weit differenzierter.
So genießen nichtstaatliche Organisationen ein deutlich höheres Vertrauen als die tradierten staatlichen. "Parteien" rangieren dabei auf dem letzten Platz. Entsprechend sind die Antworten auf die Frage nach Parteiaffinität oder gar nach Mitarbeit in politischen Parteien. Im gleichen Maße zurückgegangen ist offenbar auch das Verständnis von Hochschule als politischem Ort.
Die politischen Hochschulgruppen stehen darüber hinaus in einer besonderen Konkurrenzsituation zu einem boomenden Freizeitangebot und unzähligen anderen studentischen Initiativen und Gruppen. Hinzu kommt der Trend zu stärkerer Berufsorientierung und zu einer stärkeren Fixierung auf das Studium. Sind all diese Entwicklungen gemeinsam verantwortlich für gesunkenes Interesse an der Studierendenpolitik, so schlägt das geringe Vertrauen in die politischen Parteien besonders auf deren Studierendenorganisationen durch.
Auf die Studierendenverbände von CDU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen entfallen bei Hochschulwahlen selten mehr als die Hälfte der Stimmen. Innerhalb dieser Gruppe dürfte der Ring Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS) tendenziell am stärksten sein, gefolgt von den Juso-Hochschulgruppen. Die Stimmenanteile der grünen Hochschulgruppen differieren wohl am stärksten - nach einer Hochphase zu Beginn der 90er Jahre gehen sie tendenziell zurück. Der Rest des Hochschulspektrums bietet einen bunten und überaus heterogenen Flickenteppich. Ein Großteil der abgegeben Wahlstimmen entfällt - von Hochschule zu Hochschule natürlich stark unterschiedlich - auf "unabhängige" und Fachschaftsgruppen. Deren Positionierung umfaßt die ganze Bandbreite des politischen Spektrums, wobei den Großteil eher unpolitische Gruppen der Mitte ausmachen, die sich hauptsächlich auf Servicearbeit konzentrieren.
Seit über dreißig Jahren hat der Ring Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS) einen keineswegs leichten Stand an den Hochschulen. Auch aktuellere Umfragen belegen, dass sich eine deutliche Mehrheit der Studierenden eher im linken politischen Spektrum verortet, mit allerdings abnehmender Tendenz. Doch zumindest schafft es der RCDS von allen politischen Hochschulgruppen am besten, sein Wählerpotential auszuschöpfen. In Abneigung gegenüber der traditionellen linksorientierten Studierendenpolitik profiliert er sich als eher serviceorientierter Studentenverband.
Die politischen Einfluß- und Arbeitsmöglichkeiten der Juso-Hochschulgruppen an den Hochschulen sind weit besser. Anfang der 70er Jahre als Gegenverband zum "Sozialistischen Hochschulbund" gegründet und damit schon die dritte Studierendenorganisation der Nachkriegs-SPD, sind derzeit von den insgesamt etwa 70 Juso-Hochschulgruppen ungefähr 30 an den Studierendenvertretungen größerer Universitäten beteiligt. Hier sind allerdings nur die westdeutschen Hochschulen berücksichtigt, da in den neuen Bundesländern räteähnliche Strukturen die Situation für Hochschulgruppen stark erschweren. Die Arbeitsfelder der meisten Juso-Hochschulgruppen liegen daher auf aktiver Mitgestaltung der Studierendenpolitik ihrer Hochschule, wobei Sozialpolitik und -beratung ein traditioneller Schwerpunkt ihrer Arbeit ist. Projektorientierung ist bei den Hochschulgruppen quasi von Natur aus im Rahmen der inneruniversitären Selbstverwaltung gegeben.
Interessant ist, dass die relativ neuen Schwierigkeiten der einstigen "Jugendparteien" SPD und Bündnis 90/Die Grünen bei der Gruppe der Jungwähler auch der ihren Studierendenorganisationen zugewendeten Unterstützung entspricht. So verfügen einzelne RCDS-Gruppen über einen Etat, der nahezu so groß ist wie der aller Juso-Hochschulgruppen zusammen. Ganz zu schweigen von der finanziellen Ausstattung der jeweiligen Bundesebene. Zudem sind RCDS-Mitglieder flächendeckend in Gremien der CDU entsandt, was sich wiederum nicht nur für die Anbindung an die Mutterpartei auszahlt.
Speziell bei den Juso-Hochschulgruppen rächt sich zunehmend, dass die SPD über lange Jahre hinweg kaum ein Verhältnis zu ihrem Studierendenverband gefunden hat und ihn oftmals eher toleriert als aktiv unterstützt hat. Erst in diesem Jahr hat die Parteiführung mit der aktuellen Hochschulinitiative erste Versuche unternommen, dies zu ändern.
Noch katastrophaler ist die Situation bei den grünen Hochschulgruppen, denen bislang ein funktionierender Bundesverband, der alle Gruppen integrieren könnte, fehlt. Das restliche linke Spektrum ist völlig zersplittert. PDS-Hochschulgruppen existieren vereinzelt, und seit dem Hochschulstreik 1997 versucht das "Bündnis linker und radikaldemokratischer Hochschulgruppen" (Lira) sich aus diesem Spektrum heraus bundesweit zu organisieren, bislang mit mäßigem Erfolg.
Besonders problematisch ist für die politischen Parteien die Situation in den neuen Bundesländern. Abgesehen von einer geringeren Akzeptanz der Parteien ist hierfür ein eigentümlicher Wahlmodus an den Hochschulen verantwortlich. Da anstelle von Listenverbindungen hier Einzelpersonen direkt gewählt werden, ist oft kaum transparent, ob die Kandidaten bei größeren Gruppen engagiert sind. Überregionale Netzwerke fehlen.
Mit der Anpassung an das gewandelte Politikverständnis vieler Jugendlicher und mit der eigenen mangelnden Wandlungsfähigkeit hat auch der studentische Dachverband fzs (freier zusammenschluß von studentInnenschaften) zu kämpfen. Derzeit sind hier nur gut 60 Studierendenvertretungen mit knapp 600.000 Studierenden Mitglied. Lauter werden die Rufe, die seine Selbstdefinition als linker Richtungsverband kritisieren und eine weitergehende Öffnung und eine stärkere Professionalisierung fordern. Von ca. 30 Millionen Mark, über die die Studierendenvertretungen bundesweit verfügen, werden derzeit höchstens 5 Prozent für überregionale Arbeit aufgewandt. Diese gewinnt jedoch in der Verbändedemokratie immer mehr an Bedeutung. So haben die Studierendenvertretungen es sich durchaus zu einem gewissen Teil selbst zuzuschreiben, dass in der Tagespolitik die Gruppe der Studierenden so gut wie keine Lobby besitzt. Die Zeit drängt, um die eigene Arbeit effektiver und zeitgemäßer zu gestalten, wenn mittlerweile selbst in SPD-regierten Bundesländern wie Niedersachsen offen über eine Abschaffung der Verfaßten Studierendenschaft nachgedacht wird. Sonst könnte es irgendwann zu spät sein.