Holzmanns Ideale
Neulich versuchte uns ein ausländischer Gast zu überzeugen: "Mensch, Ihr müsst stolz sein auf Euer Land! Das ist ein großer Tag für Deutschland. Seid stolz auf Euren Bundeskanzler!" So recht anstecken konnte er uns nicht. Einige Kollegen lächelten ihn müde an, andere guckten skeptisch bis irritiert. Wieder andere schienen besorgt, dass der nette Südamerikaner jetzt vollends durchgeknallt war.
Was dann losbrach, war eine anhaltende und hitzige Debatte darüber, wie es zu bewerten sei, dass Gerhard Schröder den Holzmann-Konzern gerettet hat. Haben da vielleicht ideelle Werte einen Auftritt gehabt? Eilig versuchten wir unserem Gast klarzumachen: Nein, Solidarität kann′s nicht gewesen sein, was die Bauarbeiter im glitzernden Frankfurter Bankenviertel erlebt hatten. "Warum denn nicht?" - Ja, weil ... das politische Kapital, das der daraus ... hast du nicht die Gerhard-Gerhard-Rufe ... außerdem war das Ganze langfristig wahrscheinlich sogar gesellschaftsschädigend. Und überhaupt Werte - sollen die ausgerechnet von Politikern wiederbelebt werden? Lachhaft. Solidarität ist hier doch bestenfalls als Abfallprodukt der in Wahrheit rein utilitaristischen Gesinnung des Genossen Populist praktiziert worden.
Man kann das natürlich auch anders sehen, wenn man will. So wie unser Gast, der behauptet: "Man kann auch eigennützig handeln und dabei Gutes tun. Das macht das Gute doch nicht schlecht." Komischerweise wollen wir das aber nicht so sehen. Denn dann müssten wir uns ja eingestehen, dass es Tugenden wie Solidarität wirklich gibt.
Der Fall Holzmann war symptomatisch für die Unfähigkeit der Deutschen, sich als Schicksals- und Wertegemeinschaft zu begreifen, so wie andere Nationen dies ganz selbstverständlich tun. Niemand wäre in Frankreich, Italien oder Skandinavien auf die Idee gekommen, den Regierungschef für ein vergleichbares Engagement mit zum Teil pseudo-liberalistischen Argumenten an den Pranger zu stellen. Warum haben gerade wir solche Schwierigkeiten zu glauben, dass hier Gutes gewollt war und bewirkt wurde?
Die Heilsbotschaft von Schröder in Frankfurt ("Wir haben′s geschafft!") erinnerte an den Auftritt von Hans-Dietrich Genscher auf dem Balkon der Prager Botschaft vor zehn Jahren ("Ich bin heute zu Ihnen gekommen ..."). Damals aber war es ein Augenblick, auf den die Deutschen unzweifelhaft stolz waren, weil er einen Sieg der Freiheit gegen die Unterjochung durch das totalitäre SED-Regime bedeutete.
Doch die Konfrontation der beiden Gesellschaftssysteme ist weggebrochen. Heute konkurrieren nicht mehr zwei Werteverständnisse gegeneinander, der Westen steht mit seinem Konzept der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und der sozialen Marktwirtschaft nicht mehr unter Rechtfertigungsdruck.
Die Berliner Republik ist ein verwöhntes Einzelkind, das lebt, ohne sich seiner glücklichen Lage bewusst zu sein. So haben es Werte heute schwer, sich zu beweisen. Schlimmer noch: Es scheint auch ohne zu gehen. Denn in der Berliner Republik geht es nicht mehr um Freiheit, Gleichheit, Einheit, Demokratie. Die sind längst erkämpft und konsolidiert. Heute ist die politische Debatte auf die Sicherung des Wirtschaftsstandorts beschränkt. Nicht mehr gegen den Kommunismus muss sich die Republik behaupten, sondern im Gegenteil, gegen die globalisierte Marktwirtschaft. Die alten Paradigmen gelten nicht mehr.
Das stete Gerede von internationaler Konkurrenzfähigkeit, zu hohen Steuern und Lohnnebenkosten, das Infragestellen des Generationenvertrags und der allgegenwärtige Sparzwang - all das sind zweifellos wichtige Themen. Aber in ihrer isolierten Gesamtheit sind sie derart dominant, dass die Politik der Berliner Republik reduziert wird auf Kostenminimierung und ökonomischen Effizienzgewinn. "Fit machen für das nächste Jahrtausend" - dümmliche Slogans wie aus dem Werbeprospekt eines Aerobic-Studios stehen über den Wahlprogrammen. Gibt es wirklich keine nationalen Projekte mehr, für die sich parteienübergreifend Begeisterung lostreten ließe?
Großbritannien macht es vor: Tony Blair, nach den wichtigsten drei Regierungsanliegen der nächsten Jahre gefragt, hat eine Antwort parat, die sich gewaschen hat: "Education, education, education." Was könnte Schröder sagen? Mal sehen, erst mal aufräumen, dann reden wir weiter? Gegen die mitreißenden Visionen des Briten sind die hiesigen Politikbotschaften ungefähr so spannend wie die Allgemeinen Geschäftsbedingungen einer Sparkasse.
Als Begleiterscheinung dieser ideellen Verarmung haben sich die gesellschaftlichen Grundwerte still und leise an die mangelnden politischen Inhalte des Gesellschaftsintegrats Bundesrepublik angepasst. Sie beschränken sie sich auf die klassisch-wirtschaftlichen Maximen wie Leistung, Konkurrenzfähigkeit, Flexibilität - eine selbstgefällige Gleichgültigkeit gegenüber jenen, die scheitern, eingeschlossen. Die Ökonomie ist, pathetisch und pauschal gesagt, eben eine Etage, in die der Altruismus keinen Zugang hat.
Deshalb war die Holzmann-Rettung gerade für jene Wirtschafts-Journalisten ein Schock, die es gar nicht mehr oder noch nie gewohnt waren, dass jemand plötzlich andere als die gewohnten sozialdarwinistischen Prinzipien aus dem Hut zaubert. Ihre berufsmäßigen Unkenrufe waren ärgerlich, denn sie sollten eines jedenfalls besser wissen: Unabhängig vom marktwirtschaftlichen Sinn oder Unsinn der Holzmann-Rettung, deren Erfolg sich jetzt noch gar nicht vorhersagen lässt, kann es Deutschland nur gut tun, wenn die Tugenden der Bonner Republik nicht völlig untergepflügt werden. Das Zusammengehörigkeitsgefühl, die Einsicht, für den inneren Zusammenhalt (West) etwas tun zu müssen, war in den Zeiten äußerer Bedrohung und deutscher Teilung jedenfalls größer als jetzt, politisch, publizistisch, alltäglich. Wir brauchen es auch heute.