Im Westen was Neues
Der skandinavische Sozialstaat hat die deutsche Sozialdemokratie geprägt, eurosozialistische und eurokommunistische Debatten aus Italien, Frankreich oder Spanien haben Spuren hinterlassen. "Dritte Wege" sind immer wieder gesucht worden. Ganz unüblich aber war es bislang, in diesem Zusammenhang den Blick nach Großbritannien oder gar Amerika zu richten.
Vielleicht ist dies auch ein Grund, weshalb so manches Ressentiment zu Tage tritt in der Diskussion um New Labour und die Schröder-Blair-Provokation. Aus der Ecke kam noch nie ein Beitrag zum Thema Zukunft der sozialen Demokratie, den man zur Kenntnis zu nehmen bereit war. Gibt es da überhaupt etwas zu lernen? Oder ist "New Labour" nur eine inhaltsleere Werbebotschaft und cleveres Politikmarketing.
Zwei Autoren stehen im Mittelpunkt, wenn nach einem theoretischen Hintergrund der neuen angelsächsischen Strömung gesucht wird. Anthony Giddens, dem der Ruf vorauseilt, eine Art Haustheoretiker des britischen Premiers zu sein, und Richard Sennett, dessen Werk Der flexible Mensch von der Friedrich-Ebert-Stiftung zum Politischen Buch 1999 gekürt wurde.
Sennetts Thema scheint eng umgrenzt zu sein. Tatsächlich aber zeigt er überzeugend, dass "Flexibilität" der Schlüsselbegriff des Kapitalismus heutiger Prägung ist. In Beispielen und Analysen erklärt er das Leben einer Generation, von der verlangt wird, sich ständig neuen Aufgaben zu stellen, immer bereit, Arbeitsstellen, Arbeitsformen und nicht zuletzt den Wohnort zu wechseln.
Die viel gepriesene Netzwerkarchitektur moderner Unternehmen stellt sich ihm als ein System dar, in dem eine kleine Management-Elite noch intensiver über das Leben der arbeitenden Menschen bestimmt, als dies in den bürokratischen Großunternehmen des herkömmlichen Kapitalismus je der Fall war. Und er stellt die Frage nach den gesellschaftspolitischen Konsequenzen, nach den Folgen eines Denkens in Kurzfristigkeiten, nach Loyalitätsverlusten, der Entwertung jeder Art von Erfahrung und eines Lebens in Episoden und biografischen Fragmenten.
Sennett hält sich zurück mit politischen Antworten. Sein Buch ist soziologische Analyse und nicht politische Programmschrift. Allerdings gibt er sein Misstrauen gegen den amerikanischen Kommunitarismus zu Protokoll. Einfach nur "mehr Gemeinschaft" zu predigen, scheint ihm keine Lösung.
Sennett in politische Programmatik zu übersetzen, ist sicherlich nicht einfach. Allerdings gibt er Anstöße, über die Abnutzung mancher politischen Leitidee nachzudenken. So ist der Trend zu immer größerer Individualisierung von der 68er-Linken in Deutschland stets positiv aufgenommen worden. Das Zerbrechen hergebrachter "autoritärer" Strukturen, sei es in der Familie, sei es im Betrieb, galt als Fortschritt.
Nun hat eine neue Wirtschaftsordnung herkömmliche autoritäre Strukturen gründlicher zerbrochen, als dies linkes politisches Handeln je hat bewirken können. So viel Freiheit, im Sinne von Losgelöstheit, wie heute war nie. Allerdings, der Preis ist hoch. Sich selbst überlassen treibt der neue Kapitalismus auf eine Gesellschaft nomadisierender Singles zu - immer verfügbar, wenn der Markt es erfordert.
Grundlage einer humaneren Gesellschaft und sozialeren Demokratie wird diese globale Tendenz des Kapitalismus kaum sein. So kann denn Sennetts Buch zum Ausgangspunkt einer Diskussion darüber werden, wie wir eigentlich leben wollen zu Beginn des neuen Jahrhunderts.
Anthony Giddens neues Buch Der dritte Weg. Die Erneuerung der sozialen Demokratie ist dagegen ganz unmittelbar eine politische Programmschrift. Zu zeigen, dass "New Labour" und "Dritter Weg" mehr sind als "visuelle Personalisierung, symbolische Inszenierungen, Musikfetzen und optische Gags", ist sein erklärtes Ziel. Nachdem er schon mit Jenseits von Links und Rechts für Aufsehen gesorgt hatte, nun also eine Art Manifest des "Dritten Weges"?
Tatsächlich ist sein Buch vor allem eine sehr umfangreiche Sammlung. Britische Diskussionen über Bildungspolitik, holländische Arbeitsmarktpolitik und deutsche Grundsatzdebatten werden verwoben. Das Credo lautet: Es gibt eine Politik jenseits altlinker Erstarrung, die sich sehr wohl als Alternative zum Neoliberalismus versteht und keineswegs nur, wie manche Kritiker höhnen, darin besteht, neoliberaler Politik ein sozialdemokratisches Etikett aufzukleben
Kernbegriffe sind "Risiko" und "Chance". Der Sozialstaat darf nicht, so Giddens, zur Passivität verleiten. Leitbild ist ein aktiver Bürger, der Verantwortung für sich selbst und andere übernimmt, dabei aber immer auf Unterstützung der Gesellschaft und des Staates rechnen kann, wenn dies notwendig ist.
Eine Stärke, schon bekannt von "New Labour", liegt sicher in der Formulierung eingängiger, zu Diskussionen herausfordernder Überschriften. "Der Staat als Sozialinvestor" oder "positive Wohlfahrt" lauten sie zum Beispiel. Je konkreter es wird, desto eher kommt jedoch das Gefühl auf, dass hier vieles nicht gerade sensationell neu ist: "Bildung als Investition in menschliches Kapital", "Lebenslanges Lernen ermöglichen", "Unternehmerische Initiativen fördern", "Öffentlich-private Partnerschaften eingehen" - solche Unterüberschriften klingen schon geläufig. Da liest sich für den bundesdeutschen Leser doch manches wie vertraute sozialdemokratische Landtagswahlprogramme.
Aber vielleicht sollte man den Anspruch auch nicht unendlich hoch schrauben und gleich fertige Antworten auf alles verlangen. Giddens erklärtes Ziel ist jedenfalls, zu zeigen, dass es eine neue politische Debatte des Mitte-Links-Spektrums gibt. Das gelingt ihm zweifellos.
"Der Markt richtet es nicht von selbst" und: "Politisches Handeln ist nötig und möglich" das sind Grundüberzeugungen die Giddens gegen den neoliberalen Mainstream verteidigt. Darin ist ihm zuzustimmen.