Im Zeitalter der Angst
Wer die Thesen des jüngst verstorbenen Historikers Tony Judt in seinem letzten Buch Ill Fares the Land würdigen will, muss zunächst die Frage beantworten, ob er dessen Grundthese akzeptiert: „Etwas ist grundlegend falsch an der Art und Weise, wie wir heute leben. … In einem neuen Zeitalter der Angst und der Unsicherheit geben wir die Anstrengungen eines ganzen jahrhunderts verloren und verraten diejenigen, die vor uns da waren.“ Romantische Seelen können Judts Gefühle von Verlust, Untergang und Versäumnis nachempfinden. Sie teilen seine Kritik an Selbstsucht, am geistlosen Materialismus und an der asozialen Kulturlosigkeit der vergangenen Jahrzehnte – the selfish decades, wie Judt sie nannte. Eher pragmatisch veranlagte Politiker und sozialliberale Technokraten werden den Briten als nostalgische und kulturpessimistische Nervensäge empfinden.
Ich selbst würde mich der ersten Gruppe zuordnen. Und das, obwohl ich Judts gelegentlich etwas altmodisch anmutendes Lob über den Versorgungsstaat der fünfziger Jahre nicht gerade bahnbrechend finde und seine Analyse der angelsächsischen Länder nicht eins zu eins auf die Niederlande (oder andere kontinentaleuropäische Staaten) übertragbar ist. Auch bin ich ganz und gar nicht einverstanden mit seiner Vision einer „Sozialdemokratie der Angst“. Der Begriff ist ein theoretisches Ungeheuer und für jedes Marketing unbrauchbar. Eine politische Idee sollte nie auf Angst basieren. Ich bin also weniger von dem politischen Ideologen Judt begeistert, dafür umso mehr von dem Kulturhistoriker Judt. Beide laufen in Ill Fares the Land unentwirrbar durcheinander.
Zunächst einmal hat der ehemalige Direktor des New Yorker Remarque Instituts ein ergreifendes Buch vorgelegt, schließlich handelt es sich um ein diktiertes Werk. Tony Judt litt an der unheilbaren Muskelkrankheit ALS und war zuletzt körperlich nicht mehr in der Lage, selbst zu schreiben. Nur sein Gehirn war noch beweglich. Sozusagen als Stephen Hawking der Humanwissenschaften hat er einem Assistenten sein intellektuelles Testament in die Feder diktiert. Herausgekommen ist ein offenes und streitbares Buch, das dem Zeitgeist fundamental entgegensteht. Es enthält die knallharte Diagnose des Unbehagens eines klassischen Linksintellektuellen, der auf sein eigenes Leben und auf die Narben des 20. Jahrhunderts zurückschaut.
Judt zufolge ist die Welt irgendwann in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts vom Kurs abgekommen. Die Ideale der Nachkriegszeit – Fortschritt, eine bessere Welt, kollektive Besserstellung und Kampf gegen Ungleichheit – seien von einem Kult der Habgier, des Narzissmus und der Marktkonfusion hinweggefegt worden. Dies gilt besonders für den angelsächsischen Raum und für die Länder, die dieses Modell kopieren wollen.
Dabei wendet sich Tony Judt speziell an die Jüngeren. Leidenschaftlich zeigt er ihnen auf, dass die Welt, in der sie leben, nicht die einzig denkbare ist. Nicht zu jeder Zeit war die Welt so egozentrisch, so materialistisch und karrieristisch. Nicht immer wimmelte es nur so von anti-intellektuellen Politikern ohne Rückgrat. Nicht immer tanzte die Welt nach der Pfeife des Kasinokapitalismus. Nicht immer stand man den grotesken Auswüchsen der Ungleichheit so gleichgültig gegenüber. Und nicht zu jeder Zeit wurde das menschliche Antlitz einem blinden Effizienzdenken untergeordnet.
Von den Hippies zum Neoliberalismus
Judt verweist auf das Goldene Zeitalter von 1945 bis 1975 – die Periode, über die er sein viel beachtetes Opus magnum Postwar schrieb. Diese Ära war von einem sozialdemokratischen Konsens geprägt. Der Politik steckten die Schrecken des Krieges in den Knochen – und sie zog daraus Konsequenzen. Der liberale Rechtsstaat sowie der christdemokratische und sozialdemokratische Sozialstaat waren selbstverständliche Eckpfeiler der westlichen Gesellschaften. Bekanntlich zerstörten Ronald Reagan und Margaret Thatcher diesen Konsens dann durch ihre marktradikale Washington-Doktrin. Die beiden Staatsführer erklärten der elementaren Gesellschaftsidee den Krieg. Ein Kult der Privatisierung und Selbstbereicherung vernichtete das Gemeinschaftsideal. Was als Neuansatz zur Lösung der realen Krise des Nachkriegssozialstaates begonnen hatte, wurde zu einem grundlegenden kulturellen Paradigmenwechsel, der auch von den Prozessen der Säkularisierung und Individualisierung vorangetrieben wurde.
Haargenau analysiert Judt das Versagen und die aktive Beteiligung, ja sogar Kollaboration des linken Lagers in den selfish decades. Vor allem auch seine eigene Generation, die verwöhnten Babyboomer, müssen sich einiges anhören. Die Protestgeneration der Hippies in den sechziger Jahren habe den Grundwerten der westlichen Gesellschaft aus Unwissenheit und Narzissmus großen Schaden zugefügt. Der kulturelle Liberalismus der sechziger und siebziger Jahre sei zum Zauberlehrling des ökonomischen Neoliberalismus geworden. So seien wir sowohl politisch als auch wirtschaftlich zu orientierungslosen Konsumenten herabgesunken. Die linke Politik habe ihre Ideale aufgegeben, statt nach ihnen zu leben. Besonders in Bill Clinton und Tony Blair sieht Judt linke Babyboom-Politiker ohne ideenpolitische Substanz.
Bis hierhin ist Judts Argumentation gelehrt und scharfsinnig, zugleich handelt es sich aber auch um eine etwas klischeehafte sozialdemokratische Streitschrift gegen die Hegemonie des Neoliberalismus. Diese Hegemonie habe am Ende in die Apokalypse der internationalen Finanzkrise geführt, ohne übrigens als herrschende politische Philosophie beschädigt zu werden – ein Anlass für Verdruss und Beschämung unter Sozialdemokraten. Mehr noch: Das neoliberale Axiom „Der Staat ist nicht die Lösung, sondern das Problem“ scheint gerade in der Nachkrisenzeit seinen Höhepunkt zu erreichen. Überall reagiert die Politik auf die Wirtschaftskrise mit Kahlschlag in Verwaltung und öffentlichem Sektor – von Griechenland bis in die Niederlande. Das haben nicht zuletzt die Wahlprogramme und die politische Rhetorik im holländischen Wahlkampf 2010 gezeigt. Gerade auch progressiv eingestellte Politiker der Niederlande wie Alexander Pechtold von der sozialliberalen Partei D66 oder Femke Halsema von den Grünen wollen sparen und den öffentlichen Sektor sanieren. Das wird dann „progressive Reformpolitik“ und definiert noch immer nicht die Bonusbanker, sondern die Gewerkschaften und alte Stammwähler der politischen Linken als größten Feind. Die dumpfe Anti-Haltung gegenüber dem Staat hat den Sündenfall des Neoliberalismus gut überlebt. Das gehörte für Tony Judt zu den größten Ärgernissen.
Aber sein Buch bietet erheblich mehr, zum Beispiel Sätze und Sinnsprüche, in die man sich sofort verliebt. Für mich ist sein Buch vor allem eine Streitschrift gegen feigen Konformismus, gegen gleichgültiges und unscharfes Einheitsdenken, das unsere Welt so sehr im Griff hat. „Warum fällt es uns so schwer, uns eine andere Art von Gesellschaft auch nur vorzustellen? ... Wir brauchen Menschen, die eine Tugend daraus machen, sich der Mehrheitsmeinung zu widersetzen.“ Judt untersucht einen doppelten Konformismus: Erstens gebe es eine „Volksangst“ – die Angst vieler Politiker vor der öffentlichen Meinung. Diese Angst führe dazu, dass sie einem populistischen Wahn verfallen. Ebenso problematisch sei zweitens die unkritische Anpassung an technokratische Verwaltungseliten. Diese Experten präsentierten uns politische Entscheidungen als apolitische Erfordernisse, in die sich Normalsterbliche nicht einzumischen haben. „Wir müssen neu lernen, diejenigen zu kritisieren, die uns regieren. Aber um das glaubwürdig tun zu können, müssen wir uns aus der Zwangsjacke der Konformität befreien, in der wir – wie sie – gefangen sind“, schreibt Judt. Dies sei umso wichtiger, als der König – die Wirtschaft – in der internationalen Finanzkrise ohne Kleider war und splitternackt dastand.
Bis heute wird uns vorgegaukelt, es könne nur eine denkbare Welt, nur eine realistische Zukunft geben. Diese Haltung ist grundfalsch, und vor allem das linke Lager muss sich den Schuh anziehen, den neoliberalen, technokratischen Einheitsdiskurs mit aufrechtzuerhalten. Judts hartes Urteil: „Ohne eine taugliche Geschichte erzählen zu können, stecken die Sozialdemokraten ... nun schon eine Generation lang in der Defensive fest. Sie entschuldigen sich für ihre eigene Politik, und wenn es darum geht, die Politik ihrer Gegner zu kritisieren, fehlt ihnen jegliche Überzeugungskraft.“ Die Linke habe noch immer keine brauchbare Alternative. Besonders verkehrt findet Judt die Annahme, dass alle Mitglieder der Gesellschaft nach den gleichen Zielen streben sollten. „Es ist üblich geworden zu behaupten, ‚wir alle‘ wollten dasselbe, hätten nur etwas unterschiedliche Vorstellungen über die richtige Methode.“ Sehr einfach und erfrischend zeigt der Autor, wie die Komplexität und der Konfliktstoff von Gesellschaften komplett verneint werden: „Die Reichen wollen nicht dasselbe wie die Armen. Wer als Arbeitnehmer von seinem Job abhängt, will nicht dasselbe wie diejenigen, die von Investitionen und Dividenden leben. Wer keiner öffentlichen Dienstleistungen bedarf, weil er private Transport-, Bildungs- und Sicherheitsdienstleistungen bezahlen kann, will nicht dasselbe wie diejenigen, die auf den öffentlichen Sektor angewiesen sind.“
Als hätte das 20. Jahrhundert nie stattgefunden
Aber Judt geht noch viel weiter. Er ist überzeugt von einem auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts zurückgehenden Gefühl der Dringlichkeit. Eine der wichtigsten Passagen des Buches sollte uns in Alarmbereitschaft versetzen: „Wir sind in ein Zeitalter der Angst eingetreten. In den westlichen Demokratien gehört Unsicherheit aufs Neue zum politischen Leben: Unsicherheit als Folge von Terrorismus, aber, zerstörerischer noch, aus Angst vor dem unbeherrschbaren Tempo des Wandels; aus Angst vor dem Verlust des eigenen Arbeitsplatzes; aus Angst davor, anderen gegenüber im Wettlauf um zunehmend ungleich verteilte Ressourcen zurückzufallen; aus Angst davor, die Kontrolle über die Umstände und Routinen des eigenen alltäglichen Lebens zu verlieren. Und die vielleicht größte Angst von allen ist, dass nicht nur wir selbst unfähig geworden sein könnten, unserem Leben eine Richtung zu geben, sondern dass auch diejenigen, die uns regieren, die Kontrolle an Kräfte jenseits ihres Einflussbereiches verloren zu haben scheinen.“
Tony Judt ist der Auffassung, dass die heutigen „Eliten“ mit dem Feuer spielen, indem sie die Erfahrungen unserer Vorfahren aus dem lebensgefährlichen 20. Jahrhundert verkennen und all dessen negative Folgen lakonisch verneinen. Ich selbst habe diese Haltung in meinem Buch De wereldburger bestaat niet: Waarom de opstand der elite de samenleving ondermijnt (Den Weltbürger gibt es nicht: Warum der Aufstand der Elite die Gesellschaft unterminiert; Amsterdam 2009) vertreten. Judt sieht eine starke historische Parallele zwischen dem Hier und Jetzt mit seinem riskanten Hochmut und der Anfangsphase der Globalisierung in der Belle Époque, als die Wohlfahrt in den Himmel wuchs, Wohlstand aufkam – und schließlich der Völkermord des Ersten Weltkriegs folgte. „Heute kommt es einem so vor, als hätte das 20. Jahrhundert nie stattgefunden“, warnt Judt. Erneut glaubten wir, die Globalisierung und ein integrierter Weltkapitalismus seien unvermeidliche und erwünschte natürliche Prozesse. „Die Globalisierung wird weitergehen, als natürlicher Prozess und nicht als von Menschen gewählte Option. Die angeblich alternativlose Dynamik von globalem Wirtschaftswettbewerb und Integration ist heute die Illusion unseres Zeitalters.“ Vor dem Hintergrund seines historischen Wissens fürchtet Judt den Zusammenbruch dieser Illusion und die politischen und gesellschaftlichen Folgen. „Wir sind in ein Zeitalter der Unsicherheit eingetreten – wirtschaftliche Unsicherheit, physische Unsicherheit, politische Unsicherheit. Die Tatsache, dass wir uns darüber weitgehend im Unklaren sind, ist nur ein schwacher Trost: 1914 sahen auch nur wenige den völligen Zusammenbruch ihrer Welt sowie die wirtschaftlichen und politischen Katastrophen, die folgen sollten, voraus. Unsicherheit gebiert Angst. Und Angst – Angst vor dem Wandel, Angst vor dem Niedergang, Angst vor Fremden und einer ungewohnten Welt – zersetzt Vertrauen und Interdependenz: die Fundamente, auf denen zivile Gesellschaften errichtet sind.“
Wird unser materialistisches Konsumparadies den tieferen Kräften der Geschichte widerstehen – Kräften, die nach der Betäubung der Nachkriegszeit jetzt wieder auftauchen? Welchen moralischen Kompass und welche Gesellschaftsideale hat unsere post-religiöse und post-sozialdemokratische Welt in Zeiten der Angst und Unsicherheit zu bieten? Das sind aus meiner Sicht die Kernfragen von Ill Fares the Land. Man kann Tony Judt nicht genug dafür loben, dass er der jungen Generation diese „altmodischen“ Lebensfragen jeder Gesellschaft eindringlich auftischt: „Als Bürger einer freien Gesellschaft haben wir die Pflicht, unsere Welt kritisch in den Blick zu nehmen.“ Denn die Jüngeren haben zu wenig intellektuelle und moralische Grundsätze von ihren Eltern übernommen, der verwöhnt-narzisstischen progressiven Generation der Babyboomer.
Tony Judt plädiert für die Wiederkehr einer „ethisch informierten öffentlichen Debatte“, die das ökonomisierte Denken ablösen soll. Verloren gegangen sei „eine erfolgreiche Mischung aus sozialer Innovation und kulturellem Konservatismus“. Genau diese Kombination sieht Judt in seinem großen Helden personifiziert, dem Ökonomen John Maynard Keynes. Der „Keynesianische Konsens“, der in der Zwischenkriegszeit maßgeblich zur Bekämpfung von Zerrüttung, Unsicherheit, Angst und Hass beitrug, bestand aus dem Angebot von Sicherheit und Schutz in Form eines social security state. Auf diese Weise wurde auch der Mittelstand, in dem der Faschismus aufgrund von Ressentiments und sozialen Abstiegsängsten entstanden war, in den demokratischen Sozialstaat eingebunden.
Judts Antwort auf die von Angst und Unsicherheit geprägte Gegenwart ist eine Rehabilitation der Sozialdemokratie, auch um dem Rechtspopulismus entgegenzutreten. Der Autor charakterisiert die Sozialdemokratie als Mittel gegen Unsicherheit, als maßvolle Kraft, als Bewegung, die die scharfen Kanten der Konflikte und die grotesken Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft abschleift. Diese Sozialdemokratie verteidigt er mit Verve. Laut Judt muss die Sozialdemokratie den nationalen Sozialstaat neu bewerten, weil in einer Welt des globalen Kapitalismus nur Nationalstaaten als Schutzfilter in der Lage seien, die Bürger zu schützen. „Mittlerweile sollten wir verstanden haben, dass die Politik national bleibt, auch wenn die Wirtschaft das nicht tut.“ Judt hält nichts von rootless cosmopolitans, die sich mit ihrem transnationalen Wissen in gated communities abschirmen. „Der wurzellose Kosmopolitanismus mag für Intellektuelle geeignet sein, aber die meisten Menschen leben an einem bestimmten Ort.“
Nach Judts Überzeugung gedeihen Vertrauen, soziale Kohäsion und Gemeinschaftssinn am besten in egalitären und homogenen Gesellschaften wie den kleinen sozialdemokratischen Sozialstaaten Nordwesteuropas. Diese Länder sollten gleichzeitig Inspirationsquelle und Anschauungsmaterial sein sowohl für die Generation der Babyboomer, die an narzisstischem Hochmut und historischem Gedächtnisverlust leidet, als auch für das wettbewerbsfähige aber ungerechte angelsächsische Gesellschaftsmodell. Das ist es, was uns Tony Judt, bewegungslos an seinen Rollstuhl gefesselt, mitteilen wollte.
Ill Fares the Land ist ein schriftliches Mahnmal des 20. Jahrhunderts. Ein bewegendes Testament der Weisheit und der mäßigenden Kraft der Sozialdemokratie. Tony Judt versucht, wie ich es einmal genannt habe, die „doppelte Säkularisierung“ vieler Linker zu überwinden: zuerst die Abnabelung des christlichen Glaubens in den sechziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Und danach die Ablösung vom progressiven Lebensgefühl in den neunziger Jahren. Tony Judt versucht, uns den neuen Weg eines linken Neo-Idealismus zu weisen. Ich schließe daher mit einer besonders schönen Passage Tony Judts: „Ohne Idealismus ist die Politik nur eine Art soziales Rechnungswesen, das Menschen und Dinge von einem Tag zum nächsten verwaltet. Damit kann ein Konservativer allemal gut leben. Für die Linke hingegen ist es eine Katastrophe.“ «
Aus dem Niederländischen von Marc Drögemöller