In der permanenten Krise

Die polnische Gesellschaft ist gespalten. Wirklichkeitsblinden Eliten steht ein aufbegehrendes Prekariat gegenüber, zu dessen Wortführen sich die Brüder Kaczynski aufgeschwungen haben. Die große Frage lautet: Wer - und was - wird auf sie folgen?

Man tut sich heute schwer als polnischer Journalist im Ausland. „Was ist eigentlich bei euch los?“, „Was ist da schief gelaufen?“, „Wo sind all die bekannten Gesichter?“ und „Wann werden die abgewählt?“ – das sind die Fragen, die man als Pole in Westeuropa am häufigsten gestellt bekommt, immer begleitet von tiefem Beileid und verständnisvollem Kopfschütteln. Und diesem stillen Ausdruck der Enttäuschung über das Land der Solidarnosc – an sich kommt hier eine hoch romantische und anachronistische Vorstellung von Polen zum Vorschein.

Man tut sich noch schwerer, wenn man die Berichte über das heutige Polen in der deutschen Presse liest. Das Land ist bekanntlich zurück gerutscht ins Mittelalter. Es wurde von rechtsradikalen, ultrakatholischen Zwillingen erobert, die ständig Deutschland beschimpfen, die EU abzocken wollen und demnächst die Todesstrafe wieder einführen werden. Besonders nach der Lektüre der Frankfurter Allgemeinen frage ich mich manchmal, ob ich nicht besser Asyl in Deutschland beantragen sollte. Oder ob es nicht doch an der Zeit ist, dass manche deutsche Journalisten das Land mal besuchen, das sie so ehrgeizig wie einseitig beschreiben.

Die Kaczynski-Zwillinge sind an der Macht, weil sie demokratische Wahlen gewonnen haben. Sie sind genauso rechtskonservativ (in Sachen öffentlicher Moral, Wirtschaft oder Staatsidee) wie linksradikal (in Fragen der Sozialpolitik). Sie verteidigen den ultrakatholischen Sender Radio Maryja – aber nicht aus Liebe zu dessen Chef, Vater Tadeusz Rydzyk, sondern weil dessen Kanal Zugang zu ihrer bevorzugten Wählerschaft bietet. Sie befürworten die Todesstrafe – aber nicht, weil sie sie tatsächlich einführen wollen (es gibt dazu weder die rechtliche Möglichkeit, noch den politischen Willen), sondern weil es bei ihren Wählern gut ankommt, von europäischen Institutionen und Regierungen kritisiert zu werden.

Dies alles bedeutet keineswegs, dass die heutigen Machthaber Polens zu Unrecht kritisiert werden. Sie sind populistisch, sie zerstören das bürgerliche Bewusstsein, und sie gefährden die Zivilgesellschaft in Polen. Zu diesen Schlüssen kommt man aber kaum, wenn man die Brüder Kaczynski mit klassischer Politikanalyse beschreibt. Denn die Situation in heutigen Polen ist alles andere als klassisch. Vielmehr ist sie die Verwirklichung eines hypothetischen Szenarios nach der demokratischen Machtübernahme von Populisten.1

Wenn die Regierung ständig wackelt

Permanente Krise – das ist die beste Beschreibung für das öffentliche Leben in Polen seit der jüngsten Wahl. Innerhalb eines Jahres gab es bereits zwei Premierminister, die Koalition wurde aufgelöst und wiedererrichtet, die Regierung wackelt ständig, und täglich fliegen von allen Seiten verbale Angriffe. Wenn es keine Krise gibt, wird sie erzeugt, denn Krisenunterhaltung ist Grundsatz politischer Taktik der regierenden Partei Prawo i Sprawiedliwosc (PiS). Sie erlaubt es ihr, die Koalitionspartner im Griff zu behalten und die mangelnde Effektivität der eigenen Regierung zu vertuschen. Die Kaczynski-Zwillinge sind Meister des spin, besonders der dramatischen Darstellung eigener Intrigen.

Konflikt ist die neue Logik polnischer Politik, wobei der dominante Diskurs wenig mit der sozialökonomischen Realität der Bürger zu tun hat. Auseinandersetzungen finden vielmehr pur ideologisch oder geschichtsbezogen statt. Im heutigen Polen streitet man lieber über ex-kommunistische Agenten als über Arbeitslose, lieber über die Auflösung des Militärgeheimdienstes als über dringende Sozialreformen, lieber über die ehemalige Sowjetunion als über das heutige Deutschland. Das einzige zukunftsbezogene Thema sind vorzeitige Wahlen – es soll sie demnächst geben, nur weiß niemand, wann. Und keiner erwartet von Neuwahlen im Ernst eine wesentliche Besserung der politischen Lage.

Die Krisen und Konflikte füttern eine rasante Mediatisierung der Politik. Premierminister Jaroslaw Kaczynski gab in den ersten 100 Tagen seiner Regierung insgesamt 33 Interviews. In verschiedenen elektronischen Medien laufen täglich bis zu 18 Politsendungen, alle mit Beteiligung führender Politiker. Der Großteil der polnischen Politik spielt sich heute in den Medien und auf rein rhetorischer Ebene ab. Ihr ganzer Inhalt lässt sich von dem blauen Textband ablesen, das im News-Sender TVN24 am unteren Rand des Bildschirms rollt und vier Mal am Tag plötzlich knallrot wird, um eine spektakuläre Meinungsänderung oder provokative Aussage anzuzeigen. Für die sachlichen Seiten der Politik bleibt keine Zeit, vom Regieren erst gar nicht zu sprechen.

Traditionelle Volksparteien fehlen völlig

Alle diese Entwicklungen sind Zeichen des politischen Vakuums, in dem sich Polen seit 2004 befindet. Hintergrund dafür sind die tiefe Neuschichtung der Gesellschaft nach dem Wandel der neunziger Jahre und der Bruch mit der bisherigen politischen Kultur. Beide Prozesse sind nach dem Eintritt Polens in die EU in den Vordergrund getreten.

Die Unverständlichkeit der polnischen Politik für westliche Beobachter ist großenteils auf das Fehlen traditioneller Volksparteien zurückzuführen. Ohne klassische Vorbilder, ohne eine ideologische Verankerung der Akteure sind das Navigieren auf der polnischen Parteienbühne und das Nachvollziehen der Ereignisse sehr schwierig. Traditionelle Parteien können sich in Polen kaum etablieren, denn nach 40 Jahren Kommunismus und 17 Jahren Turbokapitalismus ist die Gesellschaft so durchgewühlt, dass „Links“ und „Rechts“ keine dauerhafte gesellschaftliche Haftung finden. Die konservative Bourgeoisie, Kernwählerschaft der Rechten, ist zahlenmäßig gering, die traditionell links gestimmte Arbeiterschicht befindet sich entweder im Verschwinden (alte Industrien) oder ist weitgehend desyndikalisiert (neue Fabriken). Parteibindungen gibt es praktisch nicht. Hinzu kommen die rasante Individualisierung der Bürger sowie ein verbreitetes Desinteresse gegenüber aller Politik. Die „demokratische Enttäuschung“ ist der Hauptgrund für die niedrige Wahlbeteiligung – bei der jüngsten Parlamentswahl lag sie bei 40 Prozent.

Anstelle der Einteilung in „Links“ und „Rechts“ bildet sich in Polen eine neue Spaltung: Da gibt es einerseits die „Erfolgsmenschen“, die in der neuen demokratisch-kapitalistischen Welt ihren Platz und ein gutes Einkommen gefunden haben, und da sind andererseits die „Verlierer“, denen die Kosten des Wandels auferlegt worden sind, ohne dass sie je die versprochene Besserung ihrer Lage zu spüren bekamen. Gemeint sind damit nicht nur Arbeitslose, sondern jene breiten Gesellschaftsgruppen, die im Vergleich zu den achtziger Jahren an Status und Einkommen verloren haben, die sich von Armut und Arbeitslosigkeit bedroht fühlen und oft auch ihre Kinder in Bildung, Wirtschaft und Gesellschaft ausgeschlossen sehen.

Das vergessene Prekariat ist aufgewacht

Dieses breite „Prekariat“ ist ein Erbe der radikalliberalen Transformation der neunziger Jahre. Weil Marktfundamentalisten die Entstehung dieser Gruppe lange als vorübergehenden „Preis“ der Reformen klein redeten, wurde sie von der politischen Klasse als Wählerschaft nicht wahrgenommen – oder man brachte sie mit trügerischen Versprechungen von „Marktgerechtigkeit“ und „Wohlstand für die Kinder“ dazu, eine liberale Politik zu unterstützen. Wirtschaftswachstum sollte alle Probleme lösen. Nur: Die Lage des Prekariats war gekennzeichnet durch strukturelle Arbeitslosigkeit, schlechte Ausbildung und fortschreitende Ausgrenzung – Probleme, die sich nur durch gezielte langfristige Politik, kaum aber durch Wirtschaftswachstum allein lindern lassen. Dennoch vertrauten die betroffenen Gruppen noch immer der politischen Elite.

Der Umbruch kam 2004. Eine Lawine von Korruptionsskandalen begrub nicht nur die postkommunistische Linke unter sich, sondern zerstörte auch das für die bisherige Politik grundlegende Vertrauen des Prekariats zur politischen Klasse. Die liberale Partei Platforma Obywatelska (PO) nahm diesen Wandel nicht wahr. Taub für soziale Ängste und wachsende Verunsicherung ging sie mit einem pur marktliberalen Programm in die Wahl 2005. Die Kaczynskis erkannten ihre Chance. Mit sozialer und antielitärer Rhetorik erfassten sie die von der Konkurrenz verschmähte Wählerschaft und verliehen ihr eine Stimme.

Politische Identität wird also weniger durch ideologische Überzeugungen geprägt als durch individuelle Erfahrungen mit dem Wandel der vergangenen 17 Jahre. Aus dieser Sicht ist die Koalition aus der PiS, der bäuerlichen Samoobrona und der national-katholischen Liga Polskich Rodzin (Liga Polnischer Familien) nichts Unerwartetes: Sie spiegelt eine gesellschaftliche Allianz der „Verlierer“ des Wandels wider. Gemein haben diese Verlierer ihre schlechten Erfahrungen mit dem neoliberalen Marktfundamentalismus der neunziger Jahre und ihr verlorenes Vertrauen in die bisherigen politischen Eliten, von denen sie sich zu Recht verraten und vernachlässigt fühlen.

Parallel zur Neuteilung der Gesellschaft läuft in Polen seit einem Jahr ein Kulturkrieg, denn in der vollmundig angekündigten „Vierten Republik“ der Brüder Kaczynski soll alles anders werden. Vor allem aber muss sich die Elite ändern. Die bisherige bezeichnet Jaroslaw Kaczynski als „lze-elita“, die Lügen-Elite der „Dritten Republik“. Zusammen mit den Exkommunisten und ehemaligen Agenten soll sie einen uklad geschaffen haben – ein unsichtbares Einflussnetzwerk, das Polen angeblich seit 1989 kontrolliert.

Das Prinzip Kompromiss ist diskreditiert

Die Kaczynskis wiederum sind gekommen, um den uklad zu bekämpfen und der Lügen-Elite die Macht abzunehmen. Hauptwaffe der Reinigung ist dabei lustracja, die Aufdeckung ehemaliger Mitarbeiter der kommunistischen Geheimdienste in Politik und Kirche, Kultur und Medien. Ein eifriger Mitstreiter im Kampf mit der „Dritten Republik“ ist die neue Tageszeitung Axel Springers in Polen, der rechtskonservative Dziennik.

Hauptopfer des ideologischen Angriffs ist der Runde Tisch, an dem 1989 die demokratische Opposition mit den Kommunisten den Wandel Polens zur Demokratie aushandelte. Alles Schlechte der folgenden Zeit soll diesen Verhandlungen entstammen: die unsichtbaren wirtschaftspolitischen Netzwerke, die Korruption, der Einfluss der Geheimdienste in der Politik, die Kooptierung der Exkommunisten ins öffentliche Leben Polens nach 1989.

Zum Teil trifft diese Diagnose wahrscheinlich zu. Man muss sich nur fragen, ob es in Anwesenheit sowjetischer Besatzungskräfte überhaupt einen anderen Weg zur Demokratisierung hätte geben können; und ob die ungewollten Folgen der Verhandlungen die politische Bedeutung des Runden Tischs auslöscht. Was die rücksichtlose Kritik der Kaczynskis am Runden Tisch ganz sicher auslöscht, ist die positive Einstellung zum Prinzip des Kompromisses selbst – als legitime Handlungsweise gilt er praktisch als diskreditiert. Damit wurde das Hauptwerkzeug der Demokratie – eine der wichtigsten Errungenschaften politischer Kultur Polens – aus dem Werkzeugkasten geworfen.

Die liberale Elite befindet sich in einem state of denial. An allen Fronten (Zentralbank, Verfassungsgericht, Presse) angegriffen wie nie zuvor, nimmt sie weder das Machtmandat der Kaczynskis noch die Existenz ihrer Wähler wahr. Sie beschäftigt sich vorerst mit sich selbst und der blinden Verteidigung der Dritten Republik. Statt den Kontakt zum Prekariat zu suchen, statt sich mit dessen Problemen auseinanderzusetzen und, vor allem, statt sich selbst kritisch zu betrachten, verschließt sie sich immer mehr in einer Mischung aus Hysterie, Elitismus und Selbstzufriedenheit – womit sie natürlich die Lügen-Elite-Rhetorik der Kaczynskis bestätigt und stärkt.

„Nationalinteresse“ als Schlüsselkonzept

Was im Ausland die größten Wellen schlägt, ist die polnische Außenpolitik. „Wir haben das Außenministerium zurückerobert“ – das war bekanntlich der Ausruf Jaroslaw Kaczynskis, als der letzte in Europa erkennbare polnische Außenminister Stefan Meller im April 2006 sein Amt niedergelegt hatte. Einige Wochen nach Mellers Abtritt begann im Außenministerium ein gründlicher Personalaustausch, gefolgt von einem direkten Angriff: Ein Mitstreiter Kaczynskis beschuldigte alle polnischen Außenminister seit 1989 der Zusammenarbeit mit dem KGB.

Das Schlüsselkonzept der neuen Außenpolitik heißt interes narodowy – das „Nationalinteresse“, eine populistische Mutation der Staatsraison. Wo die Staatsraison als eine realitätsbezogene, pragmatische Strategie zur Erreichung bestimmter Ziele definiert werden kann, ist das Nationalinteresse eine Zusammenfassung gesellschaftlicher Erwartungen im Hinblick auf die Einstellung, Rhetorik und Vorgehensweise Polens gegenüber bestimmten Ländern. Eine so gesteuerte Außenpolitik ist nicht von langfristiger Strategie geleitet, schließlich besteht ihr Ziel vor allem darin, die Wählerschaft kurzfristig, meist rhetorisch zu befriedigen. Sie dient ausschließlich innenpolitischen Zwecken, im engeren Sinne dem innenpolitischen Interesse der regierenden Partei.

In Berlin fehlen die Ansprechpartner

Aus diesem Blickwinkel ist die Politik der polnischen Regierung zu Deutschland viel verständlicher: Die meisten Konflikte werden von den Kaczynskis schlicht zum Zwecke ihrer Innenpolitik aufgeblasen. Das ist langfristig für beide Seiten schlecht, schlechter aber für Polen insofern, als Deutschland auf diese Weise eine gute Entschuldigung dafür erhält, keine Polenpolitik zu haben. Tatsächlich ist die Außenpolitik Warschaus desaströs, doch ebenso wahr ist, dass es in Berlin keine Ansprechpartner gibt, die eine Meinung, Position oder Ideen zu den deutsch-polnischen Beziehungen hätten. Man sollte sich also unter diesen Umständen nicht darüber wundern, dass die hoch eloquente CDU-Abgeordnete und Vertriebenen-Präsidentin Erika Steinbach in Polen als Sprecherin der deutschen Regierung wahrgenommen wird – umso mehr, als diese den abstrusen Einschätzungen Steinbachs selten widerspricht.

Aber nicht alle geschichtsbezogenen Vorwürfe sind zynische Parteipolitik. Man hat in Polen ein ausgeprägtes Unverständnis dafür, dass die Deutschen mit so viel Einfühlung ihre bisher tabuisierten Kriegstraumata aufarbeiten, gleichzeitig aber kein Verständnis für polnische Empfindlichkeiten aufbringen. Aus deutscher Sicht sind unsere polnischen Kriegserinnerungen immer ein Versuch, politisches Kapital zu schlagen oder als Opfer moralische Überlegenheit zu beanspruchen. Das mag zwar tatsächlich ein Motiv mancher Wortmeldungen der jüngeren Zeit sein, aber es ist auch so, dass – allen Entschuldigungen und Kranzniederlegungen zum Trotz – eine emotionale Versöhnung noch immer aussteht. Die heutigen deutsch-polnischen Beziehungen kann man mit einer guten Freundschaft vergleichen, bei der sich die Freunde endlich entscheiden müssen, über die schrecklichen Anfänge ihrer Bekanntschaft zu reden – sowohl über die NS-Kriegsverbrechen als auch über die Vertreibung.

Ivan Krastev, einer der besten Kenner des Wandels postkommunistischer Länder, bezeichnet die jetzige Populismuswelle als Rückkehr wahrer Demokratie nach Mitteleuropa.2 Nicht deshalb, weil Populisten wahre Demokraten wären, sondern weil sie Wählerschaften mobilisiert haben, die in der mitteleuropäischen Politik bisher kaum eine Stimme hatten.

Was man den Kaczynskis nicht vorwerfen kann

Der Populismus hat, wie jede Lüge, kurze Beine. Die Frage ist nicht, wann die jetzige Koalition abdankt, sondern wer danach die Macht übernimmt. Es ist zweifelhaft, ob die gegenwärtigen Oppositionsparteien als glaubwürdige Alternative fungieren können. Mit ihrer Protestrhetorik, ihrer weitgehend neoliberalen Denkweise, ihrer sozialen Ratlosigkeit und ihrer Blindheit für die veränderte Lage scheinen sie hierfür wenig geeignet. Die gesellschaftlichen Spaltungen, das bürgerliche Bewusstsein und die Wahrnehmung des öffentlichen Lebens haben sich im vergangenen Jahr so gründlich verändert, dass eine Politik nach dem vorherigen Muster kaum noch möglich ist. Es ist hoch wahrscheinlich, dass auf die Enttäuschung über die Populisten eine noch tiefere demokratische Abstinenz folgen wird. Angesichts einer Wahlbeteiligung von möglicherweise unter 30 Prozent könnte die nächste Regierung dann in große Legitimitätsprobleme geraten. Schon jetzt ist unsere Demokratie weitgehend unrepräsentativ.

Die Kaczynskis mögen keine Lösungen und viele schädliche Ideen haben, aber eines kann man ihnen nicht vorwerfen: dass sie der Wählerschaft nicht zugehört hätten. Sie bieten keine Lösungen für die sozialen und wirtschaftlichen Probleme Polens, aber sie artikulieren tatsächlich vorhandene Ängste, Spannungen und Bedrohungen. In der heutigen Krise kommt vor allem die Pleite der bisherigen Politik zum Ausdruck. Für die Eliten besteht die Herausforderung darin zuzugeben, dass die polnische Gesellschaft nicht nur aus Erfolgsmenschen besteht; und dass hinter dem Gerede von den „sozialen Kosten der Reformen“ wirkliche Menschen stecken – Mitbürger, deren Probleme es zu lösen gilt.

Die Herausforderung auf der programmatischen Ebene wiederum liegt nicht darin, die anachronistische Rechts-Links-Teilung zu etablieren oder eine nichtpopulistische „Mitte“ zu stärken. Vielmehr besteht sie darin, eine neue, nichtideologische und transformative Politik für die nachindustrielle Gesellschaft zu konzipieren. Dabei geht es nicht nur darum, langfristig den sozialökonomischen Graben wieder zuzuschütten, sondern es kommt vorerst auch darauf an, dem wachsenden Glauben an die ungleiche Verteilung der Chancen entgegenzuwirken, der wiederum wilden Individualismus sowie weitere Enttäuschung über die Demokratie und ökonomische Segregation antreibt. Dies bedarf einer modernen Vision der Gesellschaft, die soziale Solidarität und bürgerlichen Egalitarismus in gegenwärtige Umstände zu übersetzen wüsste.3 Es muss auch zu einer konstruktiven Kritik des neoliberalen Wandels der neunziger Jahre kommen.

All dies bedarf nicht nur neuer Lösungen und einer offenen Debatte, wie es sie derzeit in Polen nicht gibt, sondern es erfordert auch einen neuen Typ von Politiker. Krastev schreibt, Mitteleuropa brauche heute wahre Reformisten („genuine reformers“), die klugen Wagemut in der Politik mit Respekt für die Bürger zu verbinden wüssten. Ich meine, nötig sind auch wahrhafte und innovative Demokraten, die dem politischen Engagement seinen Wert zurückgeben würden, Wählerschaften für gemeinsame Ziele mobilisieren könnten und, vor allem, die Hoffnungen der Bürger in Vertrauen zur Politik umzusetzen verstünden. Denn in Wahrheit sind die heutigen Schwierigkeiten eine unglaubliche Chance, durch die praktische Bewältigung von Problemen den Wert der Demokratie zu bestätigen. n

Anmerkungen
1 Der deutsche Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte schreibt von einer „populistischen Polyarchie“ als möglicher Entwicklungsform parlamentarischer Demokratie. Vgl. ders., Populismus als Regierungsstil, in: Nikolaus Werz (Hrsg.), Populismus: Populisten in Übersee und Europa, Opladen 2003, S. 222.
2 „Nie broncie demokracji przed ludzmi“: Interview mit Ivan Krastev, in: Przekrój 39/2006.
3 Hierzu der brillante Essay von Daniel Cohen, Trois leçons sur la société postindustrielle, Paris 2006.

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