Ist Frankreich reformunfähig?
Frankreich kommt nicht zur Ruhe. Erst sagen die Franzosen „Non“ zum Europäischen Verfassungsvertrag. Dann erheben sich die Jugendlichen in den Problemzonen der Vorstädte. Und nun erschüttert das Land in diesem Frühjahr zwei Monate lang ein harter sozialer Konflikt um die Auflockerung des Kündigungsschutzes. Die Regierung steckt in einer schweren Krise.
Was ist passiert? Am 16. Januar 2006 verkündete Premierminister Dominique de Villepin den Plan, für berufliche Ersteinsteiger unter 26 Jahren einen speziellen Erstanstellungsvertrag (Contrat premier emploi, CPE) zu schaffen. Dieser begründet ein unbefristetes Arbeitsverhältnis, das jedoch in den ersten Jahren vom Arbeitgeber ohne Angabe von Gründen gekündigt werden kann. Damit sollten die Einstellungschancen gerade für benachteiligte Jugendliche verbessert werden. Da de Villepin im kommenden Jahr als Präsidentschaftskandidat antreten und Punkte gegenüber dem populären Rivalen Nicolas Sarkozy – Innenminister und Chef der Mehrheitspartei UMP – sammeln will, machte er die Angelegenheit zur Chefsache. Im Rahmen einer anderen, gerade im Parlament beratenen Gesetzesvorlage drückte er sein Projekt durch, ohne seinen zuständigen Minister, seine Partei, die Mehrheitsfraktion oder die Verbände zu konsultieren. Aufkommende kontroverse Debatten erstickte de Villepin im Keim, indem er den CPE mit der Vertrauensfrage verknüpfte.
Dabei bestand durchaus Diskussionsbedarf: Die Linke wandte sich gegen die Aufweichung des geltenden Arbeitsrechts und des Kündigungsschutzes; auch im eigenen Lager gab es Vorbehalte. Daraufhin revoltierten zunächst die Studentenverbände, später auch die Schülerorganisationen mit Streiks und Blockaden gegen das Gesetz, sie gewannen die Gewerkschaften als Bündnispartner und die Sym-pathie der Öffentlichkeit gleich mit hinzu. An fünf landesweiten Aktionstagen mobilisierten die Revolutionäre immer mehr Menschen, die öffentliche Meinung hatten sie dabei auf ihrer Seite. So setzten sie die Regierung zunehmend unter Druck, der Streit eskalierte und entwickelte sich immer mehr zum Prestigekampf. Der starre Durchhaltekurs de Villepins wurde in den eigenen Reihen immer schärfer kritisiert, auch der Arbeitgeberverband distanzierte sich von dem Regierungsprojekt. Der Ruf nach einem „sozialen Dialog“ ertönte immer lauter. Schließlich wurde der Premier von seinen eigenen Parteifreunden gezwungen, den Rückzug anzutreten. Am 10. April kassierte er den Entwurf offiziell wieder ein.
Politik der technokratischen Arroganz
Denkwürdiges Vorbild der jüngsten Auseinandersetzungen sind die Novemberstreiks des Jahres 1995: Seinerzeit hatte Premierminister Alain Juppé, gestützt auf eine riesige Parlamentsmehrheit, eine Sozialversicherungsreform „von oben“ durchdrücken wollen. Das Ergebnis war ein Sozialkonflikt, der das Land wochenlang lahm legte und schließlich die Regierung zur Aufgabe zwang. Damals wie heute versäumten es die Premierminister, durch Konsultationen im Vorfeld sowie Einbindung der Mehrheitsfraktionen und der Verbände die Akzeptanz ihrer Reformpläne zu erhöhen.
Das Drama um den CPE ist also ein erneutes Lehrstück für die tief greifenden Funktionsschwächen des politischen Systems und der politischen Willensbildung in unserem Nachbarland. Mit technokratischer Arroganz und im Schnellschussverfahren Reformen erzwingen zu wollen: Dieser Versuchung unterliegen französische Politiker – häufig aus den Elitehochschulen wie der ENA hervorgegangen und „von oben“ in die Politik eingestiegen – immer wieder. Premierminister de Villepin, der übrigens in seinem ganzen Leben noch kein einziges Wahlamt innehatte, verkörpert den Typus des intellektuell brillanten Verwaltungsfachmannes und zugleich amateurhaften Politikers in geradezu karikaturhafter Weise. Kein Wunder, dass eine solche Politik ohne Bodenhaftung immer wieder unsanfte Bruchlandungen hervorbringt.
Darüber hinaus wirft der jüngste Konflikt ein Schlaglicht auf eines der Hauptdefizite des politischen Systems Frankreichs: die notorische Schwäche der Zwischengewalten, der Vermittlungsinstanzen zwischen der Regierung und dem Volk. Sie sollten eigentlich verhindern, dass die Regierung „abhebt“. Doch die Parteien sind in der Bevölkerung wenig verankert und weitgehend auf Mandatsträger und Funktionäre konzentriert. Die Regionen haben im zentralistischen Frankreich kein nationales Mitspracherecht und sind zu schwach, um wirkliche Pole einer bürgernahen regionalen Politik zu sein. Die Verbände wiederum stehen traditionell unter dem Generalverdacht, bloße Lobbys partikularer Interessen zu sein. Oft sind sie kraftlos, nicht selten zersplittert, die Politik nimmt sie nur wahr, wenn es ihr gerade passt. Das Aushandeln sozialer Kompromisse, die Suche nach sozialvertraglichen Lösungen durch die Sozialpartner – das alles pflegen weder die Verbände systematisch, noch fördern es die Zentralregierungen, ungeachtet zahlreicher Lippenbekenntnisse zum „sozialen Dialog“. Somit lasten sämtliche Erwartungen auf dem scheinbar starken, in Wirklichkeit aber permanent überforderten Staat.
Kurz: Die vermeintlichen Stärken der Mehrheitsdemokratie à la française – Zentralstaat mit starker Exekutive, Fehlen institutioneller Gegengewichte, wahlrechtsbedingte komfortable parlamentarische Mehrheiten – stellen gleichzeitig ihre Achillesferse dar. Der mutmaßlich starke Staat steht auf tönernen Füßen.
Die Militanz der Kompromissverweigerer
Die für Frankreich typischen Massenproteste wirken zwiespältig. Einerseits stellt die wache und mobilisierungsfähige Gesellschaft in unserem Nachbarland ein wichtiges Gegengewicht dar und verhindert, dass die scheinbar allmächtigen Regierungen übermütig werden. Auch inhaltlich mag die in diesen Bewegungen immer wieder zum Ausdruck kommende politische Haltung sympathisch sein, scheinbar unausweichliche ökonomische „Sachzwänge“ zu bestreiten und stattdessen politische Gestaltung einzufordern. Die Kehrseite allerdings ist eine politische Polarisierung, die Zwischentöne oder die Suche nach Kompromissen oft nicht mehr zulässt. Der militante und systematische ökonomische Antiliberalismus, der sich immer wieder Bahn bricht, verhindert allzu oft notwendige Debatten über die Erneuerung überkommener Strukturen und Regelungen. Er befällt linke wie rechte Politiker vorzugsweise in der Opposition – was dieselben Politiker im Übrigen nicht daran hindert, liberalisierende Reformen zu betreiben, wenn sie in Regierungsverantwortung gelangen.
Nüchterne Wirklichkeit und schrille Töne
Dennoch: Frankreich ist nicht, wie manche meinen, „reformunfähig“. Im Gegenteil, das Land hat sich in den vergangenen 25 Jahren tief greifend gewandelt. Frankreich hat die zahlreichen Dirigismen des Nachkriegsetatismus überwunden, sich der Marktwirtschaft zugewandt, eine dauerhafte Stabilitätskultur an Stelle der notorisch hohen Inflation gesetzt und die französische Wirtschaft nach außen geöffnet. Nur wird diese Realität oft genug durch schrille Töne in der politischen Debatte übertönt. Auch wissen die Franzosen, dass ihr Land weitere Reformen nötig hat. Dass das „französische Sozialmodell“, von Präsident Jacques Chirac immer wieder wie ein Mantra beschworen, in Wirklichkeit dringend überholungsbedürftig ist, davon sind viele besonnene Politiker und Gewerkschafter mittlerweile überzeugt. So ist den meisten Beteiligten klar, dass mit der Abwehr des CPE die Probleme der Massen- und Jugendarbeitslosigkeit keineswegs gelöst sind, ja eine Arbeitsmarktreform die verwirrende Vielfalt der bestehenden Reglementierungen vereinfachen muss.
Aber Diskurs und Praxis fallen auseinander und verhindern weitgehend die offene gesellschaftliche Debatte über notwendige Erneuerungen in Wirtschaft, Gesellschaft und Sozialsystemen. Die Folge: Reformen kommen oft unter falscher Flagge daher oder werden klammheimlich durchgezogen. So verordnete die amtierende Regierung per Dekret einen neuen Arbeitsvertragstyp in Kleinunternehmen, bei dem ebenfalls eine zweijährige Probezeit unter Wegfall des Kündigungsschutzes gilt. Nennenswerter Widerstand dagegen hat sich nicht gerührt. Die beliebteste französische Reformmethode ist es, notwendige Maßnahmen als von der EU erzwungene Strukturanpassungen zu deklarieren. So wird der Zorn über unpopuläre Veränderungen immer wieder mindestens teilweise auf „Brüssel“ gelenkt; gleichzeitig nährt die Politik aber die Illusion, wer nur kräftig genug gegen Brüsseler Zwänge opponiere, der entgehe unbequemen Erneuerungen. Ein Beispiel für diese Haltung ist der geradezu hysterische Kampf gegen das „neoliberale Europa“ während der Referendumskampagne 2005 – ein Kampf, der sich gegen längst existierende (und natürlich von sämtlichen französischen Regierungen mit beschlossene) EU-Verträge richtete. Reformpolitik muss also in unserem Nachbarland sehr verschlungene Wege gehen.
Die Linke: Zerstritten und unglaubwürdig
Wie geht es weiter? Ein Jahr vor den Neuwahlen ist die Rechtsregierung unter Präsident Chirac und Premier de Villepin angeschlagen. Wesentliche politische Impulse sind von ihr nicht mehr zu erwarten. Der jüngste Konflikt hat die tiefe Zerrissenheit des bürgerlichen Lagers verstärkt; die Rivalität zwischen Chirac und seinem Ziehsohn de Villepin auf der einen und Sarkozy auf der anderen Seite ist offen ausgebrochen. Sarkozy konnte das Scheitern seiner Rivalen geschickt für sich nutzen. Wahrscheinlich hat er jetzt freie Bahn für die Eroberung des Präsidentenamtes. Die Linke hingegen, die sich noch eben dankbar am Feuer der Protestbewegung wärmte, ist nicht minder zerstritten und im Augenblick kaum glaubwürdiger. Der frühere Premierminister Lionel Jospin mahnte nach Ende des CPE-Konflikts, die Linke müsse nun den bequemen Weg der Frontalopposition und der Unterstützung der Protestbewegung verlassen und sich vereinen, um eine Alternative zu bieten. Doch der Weg dorthin ist lang und steinig. Programmatische Kontroversen und personelle Rivalitäten bestehen nicht nur zwischen Sozialisten, Kommunisten und Grünen, sondern sie durchziehen auch die Sozialistische Partei selbst. Zudem steht gerade die Linke unter dem Einfluss eines Meinungsklimas, in dem militanter Antiliberalismus hoch im Kurs steht und verbalradikale Diskurse begünstigt werden – keine guten Voraussetzungen für die Definition eines modernen linken Projektes.
Max Weber kam nicht bis Paris
Die deutsche Politik mag zuweilen an den zahlreichen Politikverflechtungen und Vetospielern leiden, die jeder Bundesregierung das Leben schwer machen. Als „Konsensdemokratie“ wird daher mancherorts unsere Kultur der Kooperation und des Aushandelns von Kompromissen verspottet. Der jüngste Konflikt in Frankreich zeigt jedoch, wohin Mehrheitsdemokratie ohne gesellschaftliche Bodenhaftung führen kann. Politische und ideologische Polarisierung, Mangel an Gegengewichten und an sozialer Konzertierung produzieren immer wieder eruptive Formen des Protestes und der Verweigerung. Leitartikler und Politikstrategen, die hierzulande immer wieder nach dem „großen Wurf“ rufen, seien an Max Webers klassische Definition von der Politik als geduldiges Bohren dicker Bretter mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich erinnert. Diese Definition ist angesichts der Komplexität und Widersprüchlichkeit unserer Gesellschaften aktueller denn je. Auch das sollte eine Erkenntnis aus dem französischen Lehrstück CPE sein.